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Anrufungen und Disidentifizierungen im 'doing' religiöser Identitäten

Queere und postkoloniale Theorien erlauben autoritäre und diskriminierende religiöse Identifizierung zum Vorschein zu bringen. Empirische Beispiele zeigen desidentifizierende Widerstandstrategien, wie sie junge Menschen in religionspädagogischen Kontexten einsetzen.

Published onJan 28, 2019
Anrufungen und Disidentifizierungen im 'doing' religiöser Identitäten
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Anrufungen und Disidentifizierungen im doing religiöser Identitäten

Bertram J. Schirr

                                              

You betta religify or they gonna lock yo ass up!

                                               Urban Dictionary

 

„Du religionifizierst dich besser, oder sie sperren dich ein!“, so kann man die Notwendigkeit religiöser Selbstidentifikation des Urban Dictionary übersetzen. Im US-amerikanischen, vor allem ländlichen Kontext, in dem religiöse Zuordnung die Norm ist, kann religiöse Positionierung als Schutzschild funktionieren, als Grund, nicht weggeschlossen zu werden – oder gerade doch, wenn sie in die falsche religiöse Kategorie führt. Religiöse Identifizierung ist nicht überall auf der Welt gleichermaßen normativ. Im Kontext des ‚Westens‘ werden bspw. dann Muslim*innen verhaftet, wenn sie sich zu stark und zu sichtbar religiös positionieren. Es wäre sogar möglich zu argumentieren, dass es heute subversiver ist, sich einer festen Identitätskategorie zuzuordnen, als Identitäten zu dekonstruieren. Dagegen will ich hier argumentieren, dass die einer Anrufung, also einer von außen geforderten Positionierung, entsprechende religiöse Identifizierung Handlungsmöglichkeiten (bzw. agency) autoritär einschränkt und zudem Phänomene der Unentschiedenheit aus der Wahrnehmung verdrängt. Denn die Sichtbarkeit und Kontrollierbarkeit von Individuen in der Öffentlichkeit wird mehr denn je mit der Identitätskategorie ‚Religion‘ organisiert. Bei aller Begrenzung des Eingangsbeispiels, handelt es sich dabei gerade um eine von vielen performativen Anrufungen, die autoritär und von außen zur Einordnung zwingen. Anhand einer dann erfolgreichen Selbstdarstellung eines Subjekts als religiös werden neue Grenzen gezogen. Im Wahlkampf und an den Landesgrenzen, vor allem der USA, entscheidet diese Positionierung über Erfolg und Misserfolg. Aber auch global funktionieren die Ordnung von Leben, die Sichtbarkeit für Institutionen, der Zugang zu Gesundheitsfürsorge oder Reisefreiheit mehr denn je über eine Positionierung zu ‚Religion‘. Religiöse Identität entscheidet, ob einem Individuum ein Subjektstatus, Rechte, Rede- und Handlungsmacht zukommt oder eben nicht.

Religiöse Identität wird dabei in den USA wie im ‚Westen‘ insgesamt als erstaunlich monolithisch und stabil anerkannt – im Guten wie im Schlechten. Im europäischen Kontext wird sich religiös zu identifizieren damit gleichgesetzt, nur eine Wahrheit und Weltsicht zu vertreten, unversöhnlich singulär, gewaltförmig, anti-pluralistisch, intolerant. Zugleich wird allerorts eine unvollständige, teilweise Annahme einer religiösen Identitätsposition als Ursache für Terrorismus verstanden[1]: Wenn religiöse Identität, dann ganz oder gar nicht. Aus der Verbindung eines psychologisch-monolithischen Identitätsverständnisses mit ‚westeuropäischen‘ Konstruktionen überkommener Religion entstehen problematische Studien, die von „religiöser Mobilisierung“ (einem militärischen Begriff) von Jugendlichen sprechen.[2]

Während dabei die Kategorie ‚Christ*in‘ international als Minderheitenposition benutzt wird, genießt sie gegenüber zunehmend ‚nichtwestlich‘ konstruierten Religionen den Vorteil der Verwebung mit der dominanten Kultur und ethnisch konnotierter Vorherrschaft. Ich konzentriere mich hier (als weißer deutscher christlicher Theologe) deswegen auch auf die Zuweisung der Kategorie ‚Muslim*a‘ und ‚jüdisch‘, weil sie der Konstruktion eines neuen, unsichtbar diffusen, kulturell-christlich-weißen Nativismus gegenüberstehen, also verwendet werden, um Menschen auszugrenzen, die nicht ‚wir‘ sind, wobei gerade nicht geklärt werden muss, was das heißen soll. Ich schreibe also nicht über Muslim-Sein oder Jüdisch-Sein, über Islam oder Judentum, sondern fokussiere Versuche, Menschen in fixierte religiöse Positionen zu zwingen und dann genauso auch Versuche, solchen Festschreibungen zu widerstehen.

Religiöse Festschreibungen und epistemische Gewalt

Wie funktioniert eine solche Festschreibung von Menschenkörpern auf eine religiöse Identität heute? Wie geschieht so ein doing[3] religiöser Identität – in der Fremd- und in der Selbstpositionierung und welche Interessen stecken dahinter? Wie schafft man es, sich einer solchen Einstufung zu entziehen? Ich denke, eine Feststellung religiöser Identität ist gefährlich, wenn sie Menschen unveränderlich auf eine Identitätsachse beschränkt, d.h. wenn sie Menschen mit der Kategorie religiöser Identität essentialisiert, auf einen einzelnen Wesenskern einschränkt. Religion wird dann zu einem naturalisierenden Merkmal von Menschen, genau wie ‚Gender‘, ‚Ethnie‘, ‚Klasse‘, ‚Befähigung‘, ‚Alter‘ etc. Sie organisiert Menschen in duale Gegenüber und legt sie fest: Auf nur ein Denken und ein Handeln mit binärer Grenzziehung.

Was als ‚religiös‘ gelten darf, folgt aber einer Begriffsentwicklung des europäischen Protestantismus.[4] Der Wissensordnung des 19. Jahrhunderts entsprechend und verbunden mit voraussetzungsreichen Grundbegriffen wie ‚dem Heiligen‘, ‚Glauben‘, ‚Transzendenz‘, einer bestimmten Organisation und Vertretungshierarchie etc., zogen ‚westliche‘ Forschende neue Grenzen, wer und was als Religion gelten darf und sie schließen Wissensbestände aus, die nicht darunter fallen. Seitdem üben zusätzlich abstrahierende und universalisierende Zuschreibungen von religiöser Identität epistemische Gewalt aus. ‚Episteme‘, ein Begriff Michel Foucaults, meint das, was Menschen in einer bestimmten Ordnung wissen, sehen und denken können.[5] Epistemische Gewalt bezeichnet dann das gewaltsame Ausschließen von Wissen, von Sicht- und Denkbarem, von Phänomenen von Handeln und Reden, die nicht in ein ideologisches Raster von ‚Religion‘ passen.

Folgt man Gayatri Chakravorty Spivak, geschieht epistemische Gewalt in der Konstruktion von binär entgegengesetzten Identitäten zusammen mit dem Verdrängen und Auslöschen von Handlungs- und Erkenntnismöglichkeiten, besonders in Institutionen der Erziehung und der Wissenschaft.[6] Im Folgenden konzentriere ich mich daher u.a. auf Festschreibungen von religiösen Identitäten wie „Muslim*asein“ in religionspädagogischer Praxis und Wissenschaft. Wie wird dort epistemische Gewalt in der Festschreibung religiöser Identität ausgeübt – und welche Möglichkeiten für ‚epistemischen Ungehorsam‘ gibt es, die dem entgegenwirken?

Der Beitrag arbeitet mit einem Hin- und Her von Fallstudien des doings religiöser Identität und theoretischer Reflexion. Die Fallstudien verwende ich kursorisch. Sie bilden Teile eines unabgeschlossenen Mosaiks, das aber schon Muster von Widerstand abbildet. Gerade die Abfrage und Übertragung der Kategorie „Muslim*a“ bringt in vielen empirischen Studien szenische Erzählungen hervor, dramatisch, oft gewaltförmig und kontrovers. Solche Daten explorativ zu interpretieren, ist ein offener Prozess und ich lade Sie als Leser*in mit ein, Strategien der Identifikation/Disidentifikation, von Widerstand und kreativer Umarbeitung einzubringen, zu entdecken und immer komplexer zu beschreiben. Das trägt zu einem tieferen Verständnis der Positionierungen in gegenwärtigen religiösen Identitätsmatrizen bei.

Weil m.E. Identität auch in religiöser Spielart in dramatisierten Handlungen getan wird, beginne ich mit der theoretischen Grundszene der Subjekt-Werdung durch Identitätszuweisung von Althusser. Ich entwickle seine Theorie der Anrufung bzw. des Angerufenwerdens daraufhin mit Fallstudien. Damit erarbeite ich eine kritische religiöse Anrufungstheorie. Diese erfasst auch bewegliche, hybride, halbfertige, disidentifizierende und temporäre religiöse Identifizierungen. So zeigen sich neue Phänomene amorpher, temporärer, non-essentialistischer religiöser Positionierung, die ‚Identität‘ verkomplizieren – und ein Repertoire an kognitivem und körperlichem Wissen, das sonst unterdrückt bliebe.

Die Grundszene: Louis Althusser – Interpellieren und Anrufen

Louis Althusser bietet eine grundlegende Theorie für die Festschreibung religiöser Identität. Er nennt den Prozess, durch den Ideologien einzelnen Menschen eine Identität zuweisen, „Interpellation“ oder „Anrufung“.[7]Althusser erläutert Interpellation an einem Alltagsbeispiel: Auf der Straße ruft ein Polizist jemandem zu „Hey Bürger!“. Wenn sich das Gegenüber umdreht, akzeptieren sie die Identität, die eine Autorität an sie heranträgt. Als Gegenüber bestätigen sie die Ordnung, die Öffentlichkeit, in der sie Bürger*innen „sind“ und nun nur so sichtbar sein können. Sie bestätigen die Macht des Polizisten, andere nach Identitäten zu ordnen und steigen in seine Wirklichkeitskonstruktion, sein Sprachspiel ein.

Althussers Theorie der Anrufung ist in den Subjektivierungstheorien des Poststrukturalismus differenziert weiterentwickelt worden.[8] So kritisiert Pierre Bourdieu, dass Althusser Identitätspositionen wie eine creatio ex nihilo zu vereinfachend an Ideologien bindet, wenn doch eine prä-reflexive Involvierung in das Spiel (bzw. Teilnahme am Straßenverkehr) der Anrufung vorausliegt.[9] Bourdieu kritisiert auch, dass Althusser die Körperlichkeit von Handlungsermächtigung vernachlässige.

Althusser übernimmt allerdings aus Pascals Pensées eine zweite isolierte Szene expliziterer religiöser Interpellation, die die Anrufung vertieft und Bourdieus Kritik relativiert: „Pascal sagt, mehr oder weniger, ‚Knie nieder, beweg deine Lippen im Gebet, und du wirst glauben“.[10] Die Übernahme einer von außen angetragenen religiösen Positionierung der ersten Szene ist nur ein Moment des doings von Religion, mit Bourdieu nicht der initiale Moment, und mit Althussers zweitem Beispiel nicht der finale: Die zweite Althusser-Szene zeigt die Folgen, die individuelle Gewohnheitsbildung, körperliche Einfügung und die Übernahme einer religiösen Praxis aus der dann erst innerliche Überzeugungen entstehen.

Die erste vereinfachende Identifizierungs-Ur-Szene Althussers möchte ich aber deswegen gesondert weitertragen, weil ich a) Momente autoritärer Anrufung in religiöse Identität analysieren will (wie schon das Eingangszitat), b) Reaktionsmomente komplexer zu entwickeln und c) die Analogie körperlicher Bewegung der ersten Szene zu erweitern suche.

Ich konzentriere mich also im Weiteren auf die Momente der autoritären Anrufung von außen, denn sie markieren wie intensiv weitere Iterationen einer religiösen Identität durch Praxis überhaupt als relevant übernommen werden. Mir ist wichtig, mit einer Orientierung an der ersten Szene auf die soziale Dimension, Alltäglichkeit und Körperlichkeit religiöser Identifizierung zu achten, denn so funktioniert m.E. das doing religiöser Identität in Reaktion auf Anrufung: Althusser betont die Subjektwerdung durch die „physikalische Drehung“ (conversion) um 180 Grad.[11] Beide Seiten – Anrufende und Angerufene – sind physikalisch und verbal aktiv. Beide ‚erstehen‘ eine Identitätsposition, im performativen Anrufen und Ausrichten auf einen Körper und im Ausfüllen dieser Position.

Die Wiederholung der Szene: Judith Butler – From Gendering to Religification

In Aufnahme und Weiterentwicklung von Althusser hat Judith Butler die performativen Akte der Identitätszuweisung durch Anrufung als Gendering beschrieben.[12] Durch das gesamte Leben hindurch wird die Kategorie ‚Gender‘ durch wiederholte körperliche und dramatische Akte der Anrufung aufrecht erhalten. Das geschieht z.B., wenn ein Arzt oder eine Krankenschwester einen Babykörper ansieht und sagt: „Es ist ein Mädchen!“ Oder: „Es ist ein Junge!“ Sobald die Eltern oder Fürsorgenden sich dieser Anrufung entsprechend verhalten, also diese Identität wiederholen, stabilisieren sie das gegenderte ‚Sein‘ des Kindes in der Welt. Es ist kein ‚es‘ mehr, sondern ein Junge/Mädchen. Andere Optionen sind ausgeschlossen. Als ‚es‘ hatte ‚das Baby‘ noch keine Identität. Indem es ge-jungt bzw. ge-mädchent (boy-ed/girl-ed) wird, steht die Identität durch die Wiederholung der Norm ‚entweder Junge oder Mädchen‘ fest. Identität ist also nichts als die Wiederholung einer Grundszene (die immer schon Wiederholung ist). Keine Szene gleicht aber der anderen und in der Abweichung, im Spielraum der Wiederholung liegt nach Butler, die Möglichkeit des Widerstands, der Machtumkehr, Parodie und Befreiung.[13] Diese Momente möchte ich an weiteren Szenen religiöser Identifizierung empirisch komplexer zeigen.

Mein Vorschlag (der keineswegs neu ist)[14] wäre aber zunächst, das Feststellen einer religiösen Identität, bzw. religification[15] theoretisch genauso wie Interpellation und Gendering zu verstehen. Ich will dazu auch konkret und empirisch analysieren, welche Möglichkeiten des Denkens und Handelns durch die epistemische Gewalt religiöser Identifizierung ausgeschlossen werden und wie sie sich zurückgewinnen ließen. Ich beginne mit Beispielen für gescheiterte Anrufungen ‚in‘ religiöse Identität.

Szenen religiöser Identifizierung – Die Oster/Weihnachtsfrage

In „Der große Navigator“, einem Dokumentarfilm (2007) kommt der schwäbische Missionar Jakob Walter ins ostdeutsche Neubrandenburg im Auftrag der Liebenzeller Mission. Um Kontakt mit der lokalen Bevölkerung zu etablieren, geht Walter auf die Stadtplätze, in die Einkaufszentren und Elektronikmärkte – und fragt direkt nach zentralen christlichen Glaubensinhalten.[16] Der Film ist voll solcher Anrufungsszenen: Der Kontakt beginnt mit einer Frontöffnung, die religiöses Schulwissen als religiöse Positionierung abfordert. Walter ruft Menschen mit der Möglichkeit zur Positionierung als christlich/nicht-christlich an und verpasst alle Feinheiten und Zwischenangebote, jede Referenz auf Handeln oder Denken, die ihm seine Gegenüber doch ständig anbieten. Der Anrufende legt Angerufene auf seine Sprache und auf Handlungsmöglichkeiten fest, die sie nicht annehmen (können). Entweder sie sind schon religiös und ansprechbar oder nicht. Die Interaktionsszenen scheitern.

Auch das Walter begleitende Dokumentarfilm-Team fragt Jugendliche im Shopping-Center „Was ist an Weihnachten passiert?“ – und erstaunlicherweise bleibt da ein Gespräch. Die jungen Menschen präsentieren Fakten und Fragmente religiöser Sprache, aber sie erreichen nicht, was sie ausfüllen sollen. Weil ihr Gegenüber sie mit der binären Option religiös/nicht-religiös anspricht, wird alles, was sie produzieren als Nichtwissen oder Halbwissen disqualifiziert.

Nichts anderes geschieht in den Fernseh-Kurzinterviews der Sorte „Wir haben Menschen auf der Straße gefragt, „Was feiern wir Ostern?“.[17] Schaut man sich solche Szenen der Anrufung in eine religiöse Identität an, fällt auf, wie hier „wir feiern Ostern“ vorausgesetzt wird. Das Gegenüber wird auf ein Zug-um-Zug-Spiel festgelegt, mit Lenkung durch die Interviewenden, Nicken und Bestätigung.

Menschen werden so in die Position religiöser Identität als Wissens-Expert*innen interpelliert. Sie werden als Subjekte angerufen, die sich anhand eines festen kognitiven Wissens auf einer Achse religiöse-Fakten-Haben = Christ*inseins positionieren müssen. Das Problem dabei ist, dass dann niemand mehr ‚ausreichend‘ Christ*in ist, weil keiner mehr die Fakten ‚hat‘. Die Regeln für die Position ‚religiös‘ werden in solchen Szenen der Anrufung so vorgegeben, dass eine echte Interaktion ausgeschlossen bleibt.

Überlagerte Anrufungszenen: Kimberlé Crenshaw – Religion als Kategorie intersektionaler Diskriminierung

Mir ist wichtig, die Festschreibung religiöser Identität nicht noch weiter isoliert zu betrachten. Sie geschieht nicht nur in einer Einzel-Szene, nicht nur in der Wiederholung, sondern in der Überlagerung von Anrufungsszenen.
Ein Fortschritt auch in der Debatte um ‚Gender‘ und ‚Religion‘ war, den Zusammenhang von unterschiedlichen Festschreibungen von Identitäts-kategorien herauszuarbeiten – und somit die epistemische Gewalt gegen Minoritäten zu kritisieren. Lange wurde dabei Religion in der Debatte um Diskriminierung – wie als Instrument für Widerstand – vernachlässigt.[18] ‚Gender‘ wie ‚Religion‘ gehören aber beide zu sich überschneidenden, diskriminierenden Identitätsfestschreibungen. Kimberlé Crenshaw hat dafür den Begriff ‚Intersektionalität‘ geprägt.[19] Gerade Menschen, die zu Minderheiten gehören, werden durch mehrfache identifizierende Diskriminierungen ausgeschlossen. Gleichzeitig als ‚schwarz‘ und ‚weiblich‘ Diskriminierte (z.B. bei Entlassungswellen) können nicht zugleich den Schutz gegen Sexismus oder Rassismus kombinieren, sie werden mehrfach marginalisiert.

Dazu werden gerade Menschen aus Minderheitengruppen in Diskriminierung wie in positiver Feststellung permanent durch mehrere, sich überschneidende Identitäten angerufen. Z.B. kann eine junge Frau, die säkular aufgewachsen ist und deren Familie aus dem Iran kommt, als ‚Frau‘, ‚jung‘, ‚iranisch‘, ‚deutsch‘, (kulturell-)‚muslimisch‘, ‚ungläubig‘, ‚atheistisch‘ u.v.a. angerufen werden – im Positiven wie im Negativen. Aber um gegen eine dieser Festschreibungen anzugehen, um sichtbar zu bleiben und weiter handeln zu können, muss sie dennoch eine andere annehmen. Sie muss zwischen Identitäten navigieren, um weiter zu sprechen und zu handeln, auch wenn Menschen solche Identifikationen überhaupt nicht voll ausfüllen können oder wollen.

Fälle der Überschneidung: Ethnification und Religification

Ähnliche Dynamiken der Überlagerung von religiöser Identifizierung mit anderen Formen von Diskriminierung lassen sich am Beispiel der Ethnisierung von Religion zeigen. Kerstin von Brömssen[20] zeigt in einer Umfrage, dass schwedische Teenager im Religionsunterricht eine Ausgrenzung in Verbindung von Abstammung und religiöser Identität vornehmen. Während für sie eine nicht-religiöse Position mit Schwedisch- und Nordeuropäisch-Sein (weiß, schwedisch-sprachig) zusammengehört, verfügen sie über ein eigenes Sprachspiel für die, auf die das nicht zutrifft. Sie konstruieren ein ethnisch-religiöses fremdes Gegenüber, bzw. vollziehen religiöses othering.[21] Dabei wird die eigene Nicht-Religiösität als ‚Wahl‘ und Bildungsangelegenheit gesehen, während eine religiöse Identität als unhinterfragbare, angeborene, kulturelle Prägung und als Unterwürfigkeit konstruiert wird. Die willentliche Wahl, religiös zu leben, d.h. bestimmte Praktiken und Glaubensinhalte zu pflegen wird ausgeschlossen. Auch religiöse Inhalte als Wissenssysteme spielen in dieser Konstruktion keine Rolle mehr. In dieser binären Frontstellung werden Stereotype aus der Ethnisierung des ‚anderen‘ – z.B. Gefangen-Bleiben in Verwandtschaftssystemen und Traditionen der Herkunftsländer – auf Religion übertragen.

Ich diskutiere eine weitere Fallstudie, um Prozesse von religification – aber auch deren Gegen-Strategien – zu zeigen. In ihrer ethnographischen Studie von Pakistanisch-Amerikanischen Arbeiterkindern hat Ameena Ghaffar-Kucher gezeigt, wie nach den Anschlägen vom 11. September 2001 die Festschreibung von religiöser Identität die Kategorien von ‚Ethnizität‘ oder ‚Nationalität‘ verdrängt haben. Diesen Prozess nennt sie „religification“ und definiert diesen dialektischen Prozess folgendermaßen:

Während ‚rassenbezogene Identifizierung‘ [racialization] weiter eine dominante Form der Kategorisierung von Individuen und Gruppen bleibt, überbietet Religion für den Fall von Pakistanisch-Amerikanischen Jugendlichen Rasse, obwohl Rasse, Klasse und Geschlecht in diesem Prozess impliziert sind. Nicht nur Mitschüler*innen und Schulpersonal sehen diese Jugendlichen durch eine religiöse Linse, die Jugendlichen (und ihre Familien) definieren sich selbst mehr durch religiöse Identität.[22]

 

Vor allem in schulischen Kontexten werden Schüler*innen ohne große Unterschiede als ‚muslimisch‘ angerufen, und zwar immer, wenn ihr Recht im Land zu sein angegriffen wird. War ‚Pakistanisch‘ vor dem 11. September 2001 unter ‚fremd‘ oder ‚muslimisch‘ nicht weiter ausdifferenziert, wurden Schüler*innen aus Pakistan nach den Anschlägen als ‚eine*r von denen‘ umgeordnet. Sie wurden mit einem neu gefüllten Begriff ‚Muslim*a‘, mit einer neuen Mischung aus vorgeblich ethnischen Merkmalen („die Leute vermuten, dass alle Muslime schwarze Haare und dunkle Haut haben müssen.“)[23] und südostasiatischer Herkunft identifiziert. Entsprechend begannen die Schüler*innen sich selbst neu zu gruppieren – nicht mehr nach der nationalen Herkunft, sondern der regionalen und auf Basis der religiösen Zugehörigkeit. Sie konnten die Diskriminierungserfahrung mit dieser Strategie der Umgruppierung ihrer sozialen Bezugsnetzwerke verarbeiten – eine Strategie des gegen-otherings. Aus der negativen Erfahrung des Ausschlusses, aus der universalisierenden Identifizierung mit einer großen Gruppe ‚potentiell anti-amerikanischer Muslim*as‘, machten sie eine Erfahrung von Solidarität. Eine religiös markierte Essentialisierung von außen wird mit einer Gegen-Essentialisierung und strategischer Selbst-Festschreibung beantwortet.

Die Unterschiede zwischen religiöser und ethnischer Diskriminierung verschwimmen auch hier wie in von Brömssens Studie, weil nicht direkt Religion vs. Religion gesetzt wird, sondern ‚Religion‘ Aspekte anderer Identitätskategorien aufnimmt. Die Identitätskategorie wird m.E. gespleißt (splicing = miteinander verkleben) und neu verknüpft. Anders als bei von Brömssens schwedischen Jugendlichen organisiert sich die Frontstellung bei Ghaffar-Kucher nicht nach ethnisch-nicht-religiös vs. ethnisch-religiös, sondern diffus-religiös-weiß-American-citizen vs. ‚Muslim*a‘ bzw. (=) universal-muslimisch-nichtweiß-südostasiatisch.

Das Szenenbild der Identifizierung füllen: Ausfüllen einer Anrufung mit religiöser Identität

Das Konzept des strategischen Essentialismus[24] erklärt solche Strategien der Annahme einer religiösen Identitätskategorie, wie sie Ghaffar-Kucher herausarbeitet: Die Schüler*innen wehren sich gegen eine Identität, paradoxerweise, indem sie sie vollständig oder sogar stärker annehmen, als das vorher gedacht war. Entsprechend definiert Gayatri C. Spivak strategische Essentialisierung als bewusste Selbstidentifikation mit einer unveränderlich-fixierten Position, um so Unbeweglichkeit einzutauschen gegen die Fähigkeit zu handeln und gehört zu werden.[25]

Junge Menschen nutzen strategische Essentialisierung jedoch auch als verantwortliche Repräsentationsfunktion, in der sie eine Identitätsschablone neu positiv füllen wollen. Aber sie verwehren sich dem Zugriff genauso durch strategisches Schweigen. In einer Studie, die Jugendliche auf ihre jüdische Positionierung hin befragt erklärt der 18Jährige, in Hamburg geborene Ariel, wie eine äußere, autoritäre Anrufung zur Positionierung und zum Ausfüllen der Position zwingt, bei der ein unerfüllter Rest, eine Differenz bleibt:

Wenn man mich fragt, welche Religion hast du, dann sage ich, ich bin Jude. Aber wenn man mich nicht fragt, warum soll ich das sagen. Und ich möchte das niemand auf die Nase binden. Ich finde das nicht wichtig, weil die Leute fühlen sich auch verunsichert. [...] Die Meinung auch über mich als Jude dann [ist] dann auch immer so von meinen Taten ... auch so sich das Bild des Juden in den Augen der anderen auch immer geformt hat. [...] Ich bin mir einer großen Verantwortung bewusst, ganz definitiv, als Jude. Ich war mir immer darüber klar, dass ich ein besseres Bild den [...] Nichtjuden, da vor allem Christen vermitteln kann und [...] vielleicht dem Bild vom Juden etwas Menschliches einzuhauchen.[26]

 

Normalerweise findet Ariel die Kategorie religiöser Identität unwichtig, schweigt und verweigert Identifizierung. Aber manchmal nimmt er das „Bild“ vom Jüdisch-Sein an. Er will es neu ausfüllen. Er übernimmt Verantwortung und will einer stereotypisierten Identität „Menschliches einhauchen“, also etwas Totes lebendig machen.

Noch auf andere Weise verwenden die Jugendlichen in Ghaffar-Kuchers Studie religiöse Identifizierung: Sie organisieren sich über sie in Gruppen. Hilfreich ist Ghaffar-Kuchers Analyse, dass für die (Gegen-)Gruppenorganisation eine oberflächlichere religiöse Zugehörigkeits-Identität wirkt. Sie spricht von „thin religion“[27] als selbstgewählte, intersektionale, ‚dünne‘ Zuschreibung aus Religion, Politik und Nationalismus – also von fadenscheinig-durchsichtiger Essentialisierung. Indem die Schüler*innen mit einer diskriminierend-angereicherten Variante von ‚Muslim*a‘ konfrontiert werden, die genauer aus grober Herkunft, hate speech (terrorist, non-citizen), körperlichen Eigenschaften und Religion besteht, übernehmen sie dieses fragmentierte Bündel – und zwar nur als von vornherein defektes Label – und füllen es neu aus. Was dabei ursprünglich ‚Religion‘ (bzw. thick religion) ausmachte, nämlich Rituale, Praktiken, Organisations- und Repräsentationsformen, Symbole und Glaubensinhalte, spielt dabei dann auch für sie keine große Rolle. Wichtiger ist das Schutzschild ‚Muslim*a‘, um Solidarität unter Schüler*innen zu organisieren. Ein befragtes Kind, Marina, obwohl nicht aus Pakistan, wechselt bspw. ihre Identität von „American“ zu „Muslim“, weil in ihrer Schule „American“ und „Muslim“ sich auszuschließen begannen und sie Unterstützung in der Gruppe Paktistanischer Arbeitskinder findet.[28]

Das Szenenbild der Identifizierung sprengen: Überfüllen als Reaktion auf religiöse Interpellation

Ghaffar-Kucher zeigt empirisch, wie junge Menschen mit religiöser Festschreibung umgehen, sie annehmen oder mit ihr spielen. Auf religification reagieren die Befragten in Ghaffar-Kuchers Studie auch, indem sie sich zwischen Identitätspolen und in unterschiedlichen Kontexten je anders verhalten. Ihren hijab bzw. das im Islam zur Abschirmung gedachte Textil, verwenden manche der Befragten als Sub-Gruppen-Identitätsmarker oder politisches Statement nur in der Schule, mit und ohne religiöse Signifikanz – oder tragen den Schal entweder nur in der Schule – oder daheim um zu rebellieren.[29] Der hijab wird zur temporären spirituellen oder politische Technologie der Selbstidentifizierung und damit viel mehr als ein permanenter Identitätsmarker.

Dazu beobachtet Ghaffar-Kucher, dass ihre Befragten sich, erst nachdem sie von Lehrer*innen und Mitschüler*innen als ‚universalisierte Muslim*as‘ angerufen wurden, in Reaktion darauf, intensiver mit Religion auseinander setzen. Auf die Anrufung „Warum bist eigentlich Muslim*a oder warum bist du Christ*in?“ erarbeiten sie – selbständig – Orientierungen und Praktiken, eben Ausfüllungen dieser Kategorie. Religiöse Identitätsschablonen werden von ihnen über-füllt. Ein Surplus entsteht, der die Ausfüllung durch Praktiken, Vorstellungen und religiöse Narrative übersteigt. Die Schüler*innen überproduzieren Wissen als Reaktion auf epistemische Gewalt, die religiöses Wissen beherrschbar machen will. Sie erarbeiten sich religiöses Wissen, Praxis und Normen, um sie strategisch einzusetzen.

Ghaffar-Kucher bietet ein Beispiel für überfüllende Widerstandsstrategien gegen religiöse Klassifizierung und die Aneignung und Erfindung religiöser Normen für eine Selbstpositionierung bei abweichender eigener Praxis. Ein Schüler, Walid, konfrontiert Lehrer*innen und Mitschüler erfolgreich damit, dass ihre Musik und ihr Musik-Anhören „gegen seine Religion“[30] sei – obwohl er in der Pause selbst Musik hört.

Walid: „Ich mache das nur um sie wahnsinnig zu machen, weil ich es mag, wenn sich Leute ärgern ... Ich mache das mit vielen Lehrern.“[31]

 

Walid bringt eine (im Islam nicht einheitlich verfolgte) Norm als religiös in eine Interaktion ein. Er produziert religiösen Wissens-Surplus, denn er gibt vor, mehr über die ihm zugeordnete Religion zu wissen als die anderen und kann das strategisch einsetzen. Damit erreicht er Handlungsspielraum und er konstruiert ein Gegenüber, dessen Position und Praxis er kontrollieren kann. Walid verwendet religiöse Identifizierung als Gegen-Diskriminierungsstrategie und hält sich nicht an die eigenen religiös begründeten Regeln. Das Beispiel zeigt wie die Szene Althussers in einer Verstärkung der Diskriminierung wiederholt und als Handlungsermächtigung umgenutzt wird. Denn Walid eignet sich hate speech wie „Terrorist“ an und droht halbironisch:

Die Leute in der Schule hatten Angst vor mir. Ich hab was Übles zu ihnen gesagt, ‚Yo ich sprenge dein Haus in die Luft‘ [...] Um sie zu erschrecken. Also wurde ich ein Ausgestoßener, ein Rebell und das fühlte sich gut an [...]. Ich fühlte mich anders. Sie haben mich bedroht. Ich hab das nicht einfach nur gesagt ‚ich werd dein Haus hochjagen“. Nur wenn sie mich geärgert haben, „ich werd mich draußen mit dir prügeln“ – „Oh ja? Ich werd dein Haus hochjagen!“.[32]

Walid führt eine gewaltförmige Performance von Identität aus und berichtet von spürbarer körperlicher Ermächtigung. Er bestätigt stereotype Annahmen als aggressives minoritäres Subjekt und perpetuiert so eine gewaltaffine religiöse Identität. Zugleich aber ordnet er seine Sprechakte als Notwehr und Gegen-Gewalt ein und zeigt die Macht hinter mit hate speech aufgeladener religiöser Positionierung als selbstgewählte, rebellische Außenposition.

Diese Beispiele zeigen, wie eine Über-Akteptieren einer von außen angetragenen religiösen Position und ein aggressives Sich-Umdrehen von Althussers Szene wiederholt wird, um Handlungsmacht zu steigern und zugleich die unausgesprochenen Konnotationen der Anrufung sichtbar und wirksam zu machen. Das unterstützt mein Gesamtargument, dass eine komplexere Anrufungstheorie auch unvollständige, übervollständige und widerständige doings bzw. Teil- oder auch Schein-doings religiöser Identifizierung wahrnimmt.

Dazu zeige ich nun, wie die Anrufungsszene anders – ironisierend – kopiert und ihre Hassrede umfunktioniert werden kann. Ich entnehme das folgende Beispiel meiner kooperativen Studie zu Selbstidentifikationen und Disidentifikationen von als ‚Muslim*a‘ klassifizierten Schüler*innen in England aus dem Jahr 2011:

Jasmin: Wie wenn eine so einen Schal anhat, dann würden wir sagen „Taliban“. Weil, wenn du sie kennen würdest, dann würde sie sich gar nichts dabei denken. Aber wenn du die Straße runter läufst und es jemand ist, den du nicht kennst, dann würdest du sowas nicht sagen.[...]

Fatima: Ja die Mädchen [in der Schule] sagen das zueinander. Sie sagen so “Oh okay, Taliban!” Aber sie würden nur darüber lachen, sie würden sich gar nichts dabei denken.[33]

 

Dieser Ausschnitt zeigt eine zweischneidige Strategie des Widerstands gegen religiöse Identifizierung. ‚Taliban‘ kann als Hassrede verwendet werden.[34]Aber das Wort bezeichnet auch Suchende, Lernende, Studierende. Jasmin und Fatima spielen mit den semantischen Werten dieses Identitätsmarkers. Sie wählen eine Position, die öffentlich mit Verachtung aufgeladen ist. Sie benutzen Hassrede ironisch. Dafür brauchen sie religiöses Insiderwissen – ein genaues Wissen darüber, was das Wort bedeuten kann, wie es verwendet werden kann und wo die Grenzen seiner ironischen Verwendung liegen. Sie finden Genugtuung und Spaß daran, einen diskriminierenden Begriff selbst zu benutzen. Zugleich verwenden und zeigen sie die Macht und die Angst, die das Wort auslösen kann. Sie füllen ein „phobisches Bild neu mit Differenz an“.[35]

Diese Beispiele zeigen, wie auf eine Anrufung mit Nachäffung, Borgen und Maskieren mit beleidigenden Identitäten reagiert werden kann. Normen und Regeln der Identitätsschablone werden einfach falsch nachgespielt. Bei Jasmin und Fatima ist das eine Gleichzeitigkeit von Witz und Nichtwitz: Die Person auf der Straße oder das andere Mädchen ‚ist Taliban‘ und ‚nicht Taliban‘ in einem Witz, der zugleich auch kein Witz ist. Dieser performative Sprechakt, diese neu kreierte ironische Anrufungsszene erzeugt eine temporäre Gruppierung mit einer mehrdeutigen, entgleitenden Identität. Wer weiß, wie das Spiel mit der Hass-Rede funktioniert, ist ‚drin‘, wird Insider in einem neuen Gegen-Identifizierungsspiel.

Als teilweise Identifikation nehmen also Jugendliche strategisch die Persona des Terroristen oder Taliban an. Sie nutzten die symbolische Aufladung mit Gewalt, um sich zu verteidigen. Gerade religiöse Anrufungen, die diskriminierend oder mit hate speech verbunden sind, lassen sich über-aneignen. Ihre performativen Kräfte lassen sich umdrehen und umleiten – eine Identitäts-Jiu-Jutsu-Technik. Strategien der Maskierung, der Ironisierung oder der performativen Aneignung von religiösen Labels wie „Islamist“, „Jihadi“, oder mit Religion verbundenen Labeln wie „Isis“, „Terrorist“, „Taliban“ etc. nehmen ein Klischee an und benutzen die symbolische Macht mit der sie ausgerüstet sind, um zu handeln – um zu drohen, gehört zu werden, zu rebellieren. Zugleich entmachtet die Benutzung solcher Label wie „Terrorist“ innerhalb einer eingeweihten Gruppe die performative Kraft der Diskriminierung.

Die Szene der Identifizierung manipulieren – Disidentifizierung

Solche religionsidentitären Fremd- und Selbstzuschreibungen und die Strategien, mit ihnen zu spielen, werden in den bisherigen Konzeptionalisierungen nicht in ihrer Komplexität erfasst. Weiterführend ist die Theorie von Identitätsbildung, die der Queertheoretiker José Esteban Muñoz entwickelt. Auch Muñoz geht von dem Althusser‘schen Beispiel des Anrufens und Umdrehens aus. Allerdings interessieren ihn die Fälle, in denen Menschen die Konversions-Drehung der Anrufung gar nicht richtig mitmachen. Stattdessen spricht er von Disidentifizierung.[36] Diese findet statt, wo essentialisierte und geschlossene Identitätskonfigurationen auf Menschen zugreifen, aber durch kreative und widerständige Strategien der Selbstpositionierung herausgefordert und verändert werden.

Wie die Beispielstudien zeigten, werden in der gegenwärtigen ‚westeuropäischen‘ Öffentlichkeit religiöse Identitäten immer mehr und intensiver mit universellen und unscharfen Klischees verbunden. Dazu gehören Traditionalismus, Wissenschaftsleugnen oder monotheistische Gewaltbereitschaft, Hang zum Absoluten etc. Jede und jeder, der/die also auf Religiösität angesprochen wird, muss sich gleichzeitig zu mitschwingenden Annahmen positionieren, die sich in seinem/ihrem gegenwärtigen Kontext mit der Identitätsposition ‚religiös‘ verbunden haben. Das ist ein Aspekt von dem, was ich als das Spleißen religiöser Identität verstehe. Der Identitätsstrang ‚Religion‘ lässt sich erweitern und unsichtbar, ungesagt und umso wirkmächtiger mit anderen Positionen verbinden (z.B. Konservatismus, Frauenfeindlichkeit, Pädophilie usw.). Muñoz erarbeitet die andere Seite dieses Spleißens von religiöser Identität, bei der von denen, die angerufen werden, andere Füllungen, Praktiken, Symbole, Wissensbestände und Ideen mit ‚Religion‘ verbunden werden.

Genauso wie Menschen, die auf ihr Geschlecht hin mit überlagert-verwebten Klischees und Diskriminierungen angesprochen werden, stehen auch Menschen, die auf ihre Religion angesprochen werden „unsicher unter einem Schild, zu dem sie nicht gehören“.[37] Sie müssen es annehmen und damit arbeiten. Aber sie können auch darin und gegen dieses Label arbeiten. Disidentifizierung umfasst dann genau dieses Annehmen-mit-Differenz, das Arbeiten innerhalb und an pseudofixen öffentlichen Identitätsmatritzen einer Mehrheitssphäre, das Herausschälen von Handlungsräumen. Es bedeutet „zu kombinieren, zu re-kombinieren, abzuwägen, umzuordnen, zu löschen, zu ergänzen und zu deformieren“.[38]

Disidentifizierung geschieht, wenn Menschen als ‚Mädchen‘ oder ‚Bürger‘ angerufen werden, aber sich nur scheinbar umdrehen, gar nicht richtig, oder nur fliehend. Disidentifizierung kann das Vokabular zur Analyse von Selbst- und Fremdzuschreibung religiöser Identität erweitern. Statt sich nur auf die fixen und scheinbar unveränderlichen Identitätspole überkommener Konzeptionalisierungen zu konzentrieren, wird das Dazwischen, das Spiel und das Navigieren von unterschiedlichen Identitätshäfen möglich, ohne dass die Beobachteten in auch nur einem davon wirklich zu Hause sein müssten.

Disidentifizierung erlaubt eine genauere und flexiblere Kartographierung davon, wie Aktanten in ihren Selbstkonstruktionen und Performances auf Identitätsfestschreibungen tatsächlich reagieren. Die Beispiele oben machten Aspekte der Disidentifizierung wie Ironisierung und die Aneignung von Schimpfworten deutlich. Statt nur die Wechsel von multiplen und unterschiedenen religiösen Identitäten zu verfolgen, zeigt sich mit Disidentifizierung, wie in den Beispielen Performer*innen zwischen Identitäten agieren, in Annäherung und Ablehnung, Täuschung und Über-Erfüllung – eben weil und nur so lange sie die mächtigen Identitätsordnungen der herrschenden Ideologien nicht offen bekämpfen können. Wie ich hoffe, gezeigt zu haben und weiter zu zeigen, betont Disidentifizierung die Temporalität und die Fluidität von religiöser Selbst-Präsentation und verfolgt sie in dramatischen alltäglichen Situationen, in denen Menschen auf Anrufungen reagieren.

 Wegen der dialektischen Natur solcher Fixierungsprozesse lernen wir so etwas über die, die angerufen werden und über die, die anrufen. Denn in der Erforschung religiöser Identität sind es die Wissenschaftler*innen und Forscher*innen, die die Anrufungen vornehmen und damit ihr Gegenüber festschreiben, ein Echo produzieren und auf diese Weise den Diskurs religiöser Identität wesentlich – vielleicht wesentlicher als die eigentlichen ‚Untersuchungsobjekte‘ – bestimmen, wiederholen und performativ am Leben erhalten. In jedem Fall lohnt es sich, Selbstauskünfte von Menschen, ob jung oder alt, die mit einer religiösen Identitätsposition angerufen werden, genauer und tiefer auch auf Zwischenpositionierungen, Ambiguitäten oder strategische Projektionen hin zu untersuchen.

Das Szenenbild splitten: Teilweises Umdrehen als Reaktion auf religiöse Interpellation

Die Manipulation von Identitätspositionen kann mit dem Konzept der Disidentifizierung also neu auch als konditionierte Annahme verstanden werden: „Ja, ich bin Alevitin und/aber ich bin auch...“ Auf diese Weise wird eine gespleißte religiöse Identität angenommen und neu angereichert. Solche Strategien zeigen die Unabgeschlossenheit identitärer Positionierungen und spinnen den Faden weiter. Navid Kermani beschreibt den Prozess des Ausfüllens einer religiösen Identität, bei der sofort weitere Identitätsfäden eingewoben werden:

Ich bin Muslim, ja – aber ich bin auch vieles andere. Der Satz ‚ich bin Muslim‘ wird also in dem Augenblick falsch, ja geradezu ideologisch, wo ich mich ausschließlich als Muslim definiere – oder definiert werde.[39]

 

Indem Menschen als ‚Muslim*a‘ angerufen werden, müssen sie sich eingrenzen, selbst ein ‚wir‘ produzieren. Sie werden zur Produktion eines Wissens des ‚authentischen Muslimseins‘ gezwungen. Sie werden in einen Zirkel von Reproduktion und Re-Identifizierung immer stärker in eine singuläre, religiöse Selbstdefinition gebracht. Dieses Wissen geht in Fleisch und Blut über, inkorporiert sich – und zwar so, dass Muslime sich ganz und gar über Religion in der Öffentlichkeit platzieren müssen.[40] In Alltagszenen müssen sie sich zu der diskriminierend-gespleißten Identität Muslim („intolerant, kriminell, rückständig“)[41] körperlich verhalten und positionieren. Religiöse Anrufungen setzen ihre Körper permanent neben andere Körper, die sie zugleich zu sein haben: Muslim-Mann-rückständig-frauenverachtend-stolz-etc. Kermani durchbricht aber diesen Zirkel mit dem Sprechakt: ‚ Ich bin auch vieles andere‘. Statt sich solchen Schablonen körperlich anzupassen, ermöglicht das Aufrufen von anderen Teilpositionen, im Gegenzug andere Körper zu evozieren, die in der ersten Anrufung – als primärer Effekt epistemischer Gewalt – ausgeschlossen werden.

Die sozialen Medienplattformen sind voller partieller und anreichender Antworten auf religiöse Identifizierung.[42] Bloggerinnen wie Kübra Gümüşay identifizieren sich als Muslimas, aber füllen das anders aus, als Feministinnen zum Beispiel. Sie rekombinieren Identitäten und spielen mit der Matrix. Mal kann so ein Identitätsstrang mitgezogen werden, mal reißt er ab, mal halb, mal wird er anders eingeflochten. So widersprechen sie der These, dass eine unvollständige Identität zu Radikalisierung führen würde. Sie eröffnen vielmehr neue Spiel- und Kombinationsmöglichkeiten und performen Identität als Ermächtigung-Mix.

Wo sich Menschen auf Anrufungen hin halb umdrehen, oder nur vorübergehend, wo sie Ganzes und Absolutes nicht mittragen, zeigen sie, dass Anrufung kontextabhängig ist. Sie beweisen, dass man auch religiöse Identität als Position frei weiter verwenden kann. Religiöse Identität ließe sich dann, mit Maher und Tetreault als relationale Positionalität versteht:

Geschlecht, Rasse, Klasse und andere Aspekte unserer Identität sind Marker relationaler Positionierung und keine essentiellen Charakteristika. Das Wissen darüber ist dann gültig, wenn es die spezifische Position des Wissenden in einem Kontext anerkennt, weil sich verändernde kontextuelle und relationale Faktoren zentral sind für die Definition von Identitäten und unserem Wissen in jeder möglichen Situation.[43]

 

Religiöse Positionierung ist dann nicht substanzartig, sondern abhängig davon, wer von wo mit welcher Autorität wen wie anruft, wer zuschaut usw. Es ist nur vorübergehende, veränderliche, verwackelte oder überlagerte Momentaufnahme. Sich nur teilweise zuzuordnen ist nicht eine gefährliche pick’n’mix-Identität oder Patchwork, nicht defizient, sondern ermächtigend. Es ermöglicht neue Allianzen und Identitätsverschränkungen, kreativ, subversiv und erfrischend und als Gegenmittel gegen überlagernde Diskriminierung.

Angebliche und unentschiedene Identitäten

Ein speziell Beispiel dafür, wie Anrufungen in religiöse Identitäten hinein eine Interaktionssituation gestalten, sind ‚Identitätsinventarisierungen‘ empirischer Untersuchungen des Religionsunterrichts. Hier zeige ich eine Liste vor der Analyse einer RU-Stunde, die Differenzen zwischen der Wirklichkeit (der Forschenden bzw. des Lehrenden) und den Selbstpositionierungen der Schüler*innen feststellt und damit Zwischenräume der Anrufung sichtbar macht.

 

[Z]wischen den Auskünften des Lehrers und denen, die die Schüler selbst geben, [treten] kleinere Differenzen auf:

 

Religiöse und weltanschauliche Hintergründe laut Selbstauskunft:

4 muslimische Mädchen; 3 katholische Mädchen und 1 katholischer Junge; 1 konfessionsloser Junge; 1 evangelischer Junge, 1 evangelisches Mädchen; 2 atheistische Mädchen und 2atheistische Jungen, 1 serbisch-orthodoxes Mädchen.

 

Ein vom Lehrer als „deutsch“ ausgewiesener Schüler gibt an, einen französischen Hintergrund zu haben; die „libanesische Schülerin“ hat lediglich einen libanesischen Vater, bezeichnet sich aber selbst als Deutsch; die „indische“ Schülerin kommt – wie sie selbst sagt – aus Tunesien. Sie ist nicht katholisch, sondern muslimisch. Von den angeblich evangelischen SchülerInnen bezeichnen sich nun zwei als Heiden, bzw. als Atheisten, und die „türkische“ Schülerin, die übrigens perfekten Hamburger Slang spricht, ist in ihrer eigenen Wahrnehmung nicht muslimisch, sondern atheistisch; und auch der angeblich serbisch-orthodoxe Schüler ist katholisch.[44]

 

Es ist nicht nötig, überhaupt in die Interaktionssituation zu schauen, die aus diesen religiös verortenden Identifizierungen entsteht. Was passiert schon vorher? Woher kommt diese Differenz? Wieso tauchen in der zweiten Auflistung ganz neue Kategorien auf? Vielleicht haben die Schüler strategisch andere Identitäten angegeben und dann ihre ‚Aussage‘ geändert. Vielleicht benutzen sie Freiräume in ihren Selbstzuschreibungen, die den Lehrer irritieren sollen, die er selbst nicht kontrollieren kann. Warum aber muss für den Religionsunterricht eingeteilt werden, wer wer ist? Ich schlage vor, diesen Textauszug direkt auf die Anrufungsszene von Althusser zu übertragen. Dann liest sich die Liste wie die Rollenübersicht in einem Dramenstück. Stellen wir uns vor, wie chaotisch es wäre, die anwesenden Menschen nach dieser Liste in die Interaktion hinein aufzurufen – und das heillose Durcheinander, das zwischen der Perspektive des Lehrers und der Selbstauskünfte der Schüler*innen entstünde.

Welche Vorannahmen aufseiten des Lehrers notwendig sind und welche die Schüler*innen wichtig finden, ist ebenso aufschlussreich wie der Versuch, Diversität und plurale Repräsentationsfähigkeit im RU abzubilden. Spannend ist auch die Umkategorisierung des ‚unbeteiligten‘ forschenden Beobachters, der die Sprachfähigkeit der „türkischen Schülerin“ über die nationale Herkunftszuordnung des Lehrers hebt. Wann ‚passt‘ die Identität „libanesisch“ im Religionsunterricht, wenn „nur ein Vater“ nicht reicht? Wo ist die Grenze zwischen konfessionslos und atheistisch? Aufschlussreich ist die Differenz zwischen Lehrersicht, Forschendensicht und Selbstzuschreibung aber auch, weil die Unterschiede nur entstehen, wenn Fremdzuschreibung und Selbstauskunft überhaupt nebeneinander zum Stehen kommen – wie das normalerweise nicht geschieht. Die Vorgliederung des Lehrers gibt sonst die Identitätsrollen für die Diskussion und den Unterrichtsverlauf vor (z.B. als ‚Atheist‘ zu sprechen), egal ob sie genau genug mit Selbstauskünften übereinstimmen oder nicht. Raum für Differenzen zu einer Position muss dann im Verlauf erst erarbeitet werden.

Spannend ist demgegenüber die religiöse Identitätserhebung, die Uta Pohl-Patalong et al. für ein Interview machen:

Die Interviewgruppe des Interviews K besteht aus vier religiös bunt gemischten Schüler*innen. Katja ist katholisch und Karoline evangelisch, Karl ist nicht religiös („ich bin überhaupt keiner Religion [...] ich hab‘ jetzt auch keinen Gott oder so“] und Kerim ist halb Muslim, halb Christ („ich muss mich noch für eine entscheiden“).[45]

Im Vergleich mit der obigen Auflistung, wird hier religiöse Identität komplexer erhoben. Auffällig ist, dass Positionierungen wie „ist nicht religiös“ mit längeren Selbstauskünften qualifiziert werden (– vielleicht sind die Schüler*innen ja auch in sich „religiös gemischt“). Karls Auskunft ist unabgeschlossen. Sie bleibt in einer Überlegung zu dem, was ihn zu einer Religion zuordnen könnte, stehen. Karl benutzt dann aber personale, als festes Beziehungsverhältnis verstandenen Transzendenzbezug als entscheidend für ‚Religion‘. Noch spannender ist, dass Kerim zwei „halbe Identitäten“ angibt, ‚Muslim‘ und ‚Christ‘. Er steckt dazwischen. Entsprechend der implizit-stillen Anrufung – was für ein religiöses Subjekt bist du? – expliziert er dann selbst, zu Recht, die implizierte Anfrage zur Entscheidung. Seine hybride Positionierung aus zwei Hälften macht kein Ganzes im Sinne der Anrufenden aus. Kerim müsste sich für ein ‚Bekenntnis‘, eine identitäre ‚Konversion‘ entscheiden, um im Sprach- und Handlungsspiel Religionsunterricht und seiner empirischen Erforschung ‚richtig‘ vorzukommen – aber er macht das einfach nicht. Erstmal.

Notwendig wird die singuläre religiöse Selbstidentifizierung für Kerim allerdings, wenn es um die konfessionelle Gruppen-Aufteilung vom Religionsunterricht geht. Dazu diskutiert die die Gruppe und zeigt, wie die Rufe der unsichtbaren Lehrkraft weiter zirkulieren und verhandelt werden.

Katja: Wär halt blöd.

Kerim: Das ist blöd.

I: Warum?

Katja (mit Blick zu Kerim): Weil er beides ist, er ist beides.

I: Okay bei dir ist es ein bisschen schwierig...

Kerim: Bei mir ist es überhaupt ganz schwierig.

Karl: Hey, man müsste mich in drei Teile aufschneiden.

I: Bei dir wär‘s schwierig, das stimmt.

Karoline: Nein, du dürftest überhaupt nicht...

Kerim: Naja bei mir wär’s auch schwierig, weil sonst müsste ich mich für eine schon entscheiden halt [...] Ich will mich gar nicht entscheiden, ich will [...] alles machen, alles wissen.[46]

 

Diese Szene demonstriert, wie die Anrufungen und Selbstpositionierungen Wissen und Gruppen organisieren. Bezeichnend ist, dass die höchstwahrscheinlich christlich-normative Position und Perspektive der Lehrenden unsichtbar bleibt, wie auch ihre Identitätsraster der Zugehörigkeit, mit dem sie Schüler*innenverhalten für den Unterrichtsablauf erwartbar machen und vorordnen. Wie in Althussers Straßenszene sind die Anrufenden unsichtbar und umso mächtiger. Hier zeigen sich die Widerstände der mehrdeutigen und doppelten religiösen Positionierung. Kerim testet, wie weit er mit einer hybriden Position kommt. Und er arbeitet heraus, wie diese Positionierung mit Wissen über Glaubensinhalte und Praktiken verbunden ist. Mit einer Entscheidung geht für ihn der Zugang zu Wissen und Praktiken verloren, die zur ‚anderen‘ Identität gehören. Karl droht der Zugang zu einer Vielfalt an Wissen verloren zu gehen, weil er sich nicht identifizieren kann. Er beschreibt das als Auftrennung des Körpers in substanzartige feste Teile, die nur je einer Konversion der Anrufung zugeordnet werden können, und bei der non-transzendenz-bezogene Praktiken und Glaubensinhalte unsichtbar blieben.

Die Szene unterbrechen: Vor und zwischen religiöse Anrufungen treten

Weitere Strategien der Disidentifizierung finden sich im machtvollen Eingreifen in religiöse Interpellationen.

Ich bin religiös, wenn du was gegen Religion hast

Ich erläutere das an einem Beispiel: Die Gesichter von Berliner Prominenten fand man vor einigen Jahren (2013) gesichtsgroß auf Postern abgedruckt mit Nachrichten wie „Ich bin Muslima, wenn du was gegen Muslime hast.“ Oder „Ich bin Jude, wenn du was gegen Juden hast.“[47] Denken wir an die Ur-Szene von Althusser zurück, dann treten hier gut sichtbare, einflussreiche und prominente Menschen zwischen Anrufende und Angerufene. Oder sie treten wie ein großes Geschwisterteil neben die als religiös minoritär Angerufenen und machen sich ihnen gleich. In dieser Anrufung wiederholen sie aber die Kategorien diskriminierender Identifizierung. Sie zeigen: Muslima-Sein/Jude sein ist nicht normal. Das muss geschützt werden. Es bleibt eine Schieflage der Macht, wenn sich Unantastbare ‚herablassen‘ auf eine niedrigere Identitätsposition, um sie zu beschützen.

Wer ist hier eigentlich religiös?

Ähnliche Strategien des Dazu- oder Davortretens bei einer Anrufung mit religiöser Identität zeigt Riem Spielhaus. Sie demonstriert, wie sich die Kategorie ‚die Muslime‘ im deutschen Kontext gebildet und verändert hat. Spielhaus führt Interviews mit Menschen, die in der Öffentlichkeit stehen und als ‚muslimisch‘ angerufen werden. Sie arbeitet die Diskriminierung des Individuums heraus, die hinter dieser Anrufung liegt: Was dich im Wesentlichen ausmacht, was dich adressierbar und sichtbar macht, ist dein Muslim*a-Sein, nicht, was dich sonst in die Öffentlichkeit brachte. Die Vielfalt und Beweglichkeit der eigenen Positionierung zu Glaubensinhalten oder -Praktiken spielt keine Rolle. Die eigentlich säkulare Bundestagsabgeordnete Lale Akgün etwa erzählt, dass sie aus Solidarisierung mit Menschen gleicher Herkunft begann, sich selbst zur Muslima zu machen. Mit jedem Angriff auf Muslime wächst die Identifizierung mit dieser Kategorie. Spielhaus arbeitet eindrücklich heraus, wie Prominente in verschiedenen Gruppen ‚Muslim-Sein‘ modifizieren, weil sie stellvertretend vor andere Angerufene treten, sie verteidigen.

Spielhaus zeigt mit Verweis auf die Anrufungstheorie Judith Butlers, dass öffentliche Angriffe auch Machtpotential mit sich bringen. Je mehr sich Prominente als Muslim*a identifizieren und sich angreifen lassen, desto sichtbarer werden sie und desto mehr können sie tun. Selbstpositionierung und Bestätigung der Fronten erkaufen Widerstandsmacht. Die Möglichkeit zur Veränderung sieht Spielhaus in der Kombination von Muslim*a-Sein mit anderen machtvollen Identitäten, z.B. solcher der Profession oder gesellschaftlichen Stellung.

Beim Treten zwischen Anrufende und Angerufene zeigt sich aber, an der Posterkampagne von Gesichtzeigen wie dem Agieren von Prominenten, eine problematische performative Stellvertretung, in der Menschen mit einer Stimme für andere (ohne Stimme) sprechen – und dabei die fixierten Identitäten und ihre epistemische Gewalt auch wiederholen. Kommt es zu einem ‚darstellenden Sprechen über andere‘, unsichtbar und sprachlos bleibende religiös Identifizierte, ‚Sprachlose‘ oder zu einem ‚stellvertretenden Sprechen für’ auf diese Weise Marginalisierte, bei der die Angerufenen durch Prominente ersetzt werden?[48] Repräsentieren ‚die anderen’, die nicht vor der Kamera oder auf dem Poster sind, dann immer noch, was ‚wir’ Prominente in unseren Interaktionen erstmal nicht sind, aber uns bereit machen zu sein, uns herablassen, als Rettungstat? Wer wird am Ende zu sehen sein?

Dennoch, zwischen Anrufende und Angerufene zu treten, verkompliziert Szenen der Identifizierung auch produktiv. Absichtlich oder nicht, legt es die Machverhältnisse und das Gefälle an Handlungsmacht in tatsächlichen Anrufungen in Anwesenheit oder Abwesenheit der Objekte religiöser Identifizierung frei.

Ergebnis: Ansätze kritischer religiöser Anrufungstheorie

Mit dem gezeigten Material und dem Analysewerkzeug von Althusser’scher Anrufung, Butler’scher Wiederholung und Muñoz’scher Disidentifizierung werden Strategien der Zuschreibung religiöser Identitäten in einer neueren Komplexität nachvollziehbar. Die Reichweite und Vielfalt von disidentifizierenden Praktiken zu zeigen – von Selbstessentialisierung, Ironie, selbstreferenziellen Witzen, Nachäffung, Aneignung, Spiel mit intersektionaler Diskriminierung, mit beweglichen und temporären Front- und Allianzbildungen, Schein-Angaben und Widersprüchen, Übernahme von Verantwortung, politischem Protest oder Schweigen – eröffnet ein vielversprechendes Repertoire für weitere Analysen. Es zeigt, dass die Identitätskategorie „Religion“ genauso benutzt und ihr genauso widerstanden wird wie „Rasse“, „Ethnie“, „Geschlecht“, „Alter“, „Befähigung“, „Bildungsstand“ etc. Während die Analysen tentativ Disidentifizierungsphänomene erschließen, zeigen sie die Vielfalt, Kreativität und Komplexität, das körperliche und kognitive Wissen von jungen Menschen im Handhaben von Selbst- und Fremdrepräsentation. Sonst bliebe es ungesehen, von epistemischer Gewalt religiöser Identifizierung gefährdet.

Gegen die psychologisierende Annahme, dass unvollständige Identifizierung zu Krise, Gewalt und Terrorismus führt, stehen das Potential und das befreiend-ermächtigende Wissen hinter dem Navigieren unterschiedlicher Identitäten, des Dazwischens, des Zugleichs, des Ja-Und und Aber-Auch, die Beweglichkeit, Temporalität und Fragmentarität von religiösen Identitätskonstruktionen.

Mithilfe von Fallbeispielen, queerer und postkolonialer Theorie konnte herausgearbeitet werden, welche Chancen und welches Potential unvollständige Identifizierungen tragen. Gerade in der empirischen Religions(unterrichts)forschung werden so Interaktionsverläufe mit einem kritischen Blick auf Selbst- und Fremdanrufungen besser verständlich als mit einem unsichtbaren Wissenschaftler*innensubjekt, das die Rollen still festlegt und wiederfindet. Die Erweiterung des Angerufenwerdens um strategisches Ausfüllen, Überfüllen, partielles Umdrehen, Davor- und Danebenstellen zeigen, wie brüchig, fluide, aber auch produktiv religiöse Identität und Gegen-Identität sein können und welche Zwischenformen es zu entdecken gilt – für neue Phänomene von Widerstand und für unvorstellbare kreative Allianzen.


Comments
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Arne-Florian Bachmann:

Ein Problem bei der Aufnahme von Althusser könnte sein, dass man einen an sich alltäglichen Vorgang einseitig problematisiert. Nämlich, das was man Fremdbild- und Selbstbild nennt. Ähnlich gibt es die Szene ja bei Sartre im “Für mich” und “Für andere”; wobei Sartre den Blick der Anderen nur als “Objektivierend-Feststellend” denken kann. Dagegen müsste ich mich wehren: “Ich bin mehr und anderes als was ihr aus mir macht!”.
Was aber vergessen wird, ist die andere Seite: das Fremdbild, dass aus strukturellen Gründen niemals mit dem Selbstbild übereinstimmen kann, verrät einen auch wichtiges über einen selbst: “Du bist mehr und anderes, als was Du selbst in Dir siehst!”
Das muss nicht feststellend-objektivierend gemeint sein. Aber wo diese Dimension nicht beachtet wird und aus jedem Clash zwischen Selbst- und Fremdbild ein Kampf um Anerkennung (auf Leben und Tod!) wird, führt das zu narzistischer Selbstbehauptung alá Trump.

Überhaupt: wäre nicht die ganze Szenerie nochmal durch die Rechtfertigungslehre zu brechen: Du bist mehr und anderes als Du selbst in Dir siehst und Mehr und anderes als andere aus Dir machen!

Bertram J. Schirr:

Richtig, ich hab den Moment des Angerufenwerdens hier analytisch isoliert. Aber gerade Butler betont ja, das Subjektwerdung immer von perfomativem Mitspielen abhängig ist, die dann aber durch subversive Verschiebung gebrochen werden kann. Das geht ohne Weiteres mit Rechtfertigung aus Glauben und simul iusti et peccatores zusammen.

Arne-Florian Bachmann:

Verwandt mit der oben genannten Frage: stimmt das eigentlich als Aussage über die Gegenwart: Menschen werden in totale Identitäten “eingesperrt”? Terry Eagleton behauptet in “Der Tod Gottes und die Kultur”: “Man betrachtet Glaubensüberzeugungen nicht - wie es Charles Taylor oder Stanley Fish taten - als Grundlagen der persönlichen Identität, sondern als Verkleidungen, die man nach Lust und Laune an- und ausziehen kann. Und in der Regel geht es beim An- und Ausziehen eher um ästhetische Erwägungen, ähnlich wie bei Kilt und Krawatte.”

In diesem Sinne ist vielleicht die ultimative Festschreibung von Identität heute der Imperativ in weltanschaulichen Fragen keine allzu feste Identität zu haben, sondern diese - häretischer Imperativ! - ironisch zu brechen. Dann wäre der ultimative Andere derjenige, der in einem Verhältnis fast ungebrochener Affirmation zu einer Glaubensüberzeugung steht. Was macht das mit Deiner Theorie?

Bertram J. Schirr:

Mir geht es ja eben um die Außen-Zuschreibung, die eine selbstobjektivierende Positionierung erzwingt.
Ich verstehe deine Anmerkung so, dass die Anrufung eines fragmentierten, fluiden Subjekts genauso machtvoll sein könnte - auf einer höheren Ebene quasi.
Das erinnert mich an die Romantisierung des Hybriden bei Said und Bhabha und führt mich gleich zurück dazu, dass solche (vorübergehenden und strategischen) festen Identitäten bisher immer noch die politischen Kämpfe bestimmen. Wenn das die Hybriden anfangen, wird es spannend!

Aber genauso spannend ist, ob wirklich die zu neuen Abweichenden werden, die sich absichtlich fest machen und identifizieren. Haben die wirklich wieder eine größere Anziehungskraft - als tief glaubende unfragmentierte Subjekte? Das wäre wiederum eine interessante Anfrage an simul iustus et peccator und schon dogmatisch kein evangeliums-getreues Selbstverständnis.

Spannend dazu übrigens Prediger 7, 16ff: Sei nicht allzu gerecht und nicht allzu weise, damit du dich nicht zugrunde richtest.

17 Sei nicht allzu gottlos und sei kein Tor, damit du nicht stirbst vor deiner Zeit.

18 Es ist gut, wenn du dich an das eine hältst und auch jenes nicht aus der Hand lässt; denn wer Gott fürchtet, der entgeht dem allen.

Arne-Florian Bachmann:

Ist das so?
Meine Position als in Ostdeutschland sozialisierter Mensch ist eine ganz andere. Meines Erachtens ist das Christentum einfach eine große Minderheit. Das Christentum hat nicht mehr die Hegemonie inne. Es gibt noch einige institutionelle Privilegien, aber gesellschaftlich, dH auf der Interaktionsebene, erlebt man sich heute als religiöser Mensch in der “queeren Position” während nicht etwa Atheismus, sondern weltanschaulich-religiöse Indifferenz die eindeutige Hegemonie hat.

Bertram J. Schirr:

Ich bin mir nicht sicher, ob das global gesehen nicht doch recht festhält, wenn man bspw. an die Verbindung von Ethnizität und Religion in der aktuellen Debatte um chinesische Religionsverfolgung denkt - und mit viel Erfolg Christentum vom subversivem zum partei-sinisierten Herrschaftsdiskurs zu machen.

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