As a hospital chaplain in a psychiatric clinic I sketch three encounters showing how the Russian Invasion in Ukraine affects my daily work and those around me.
Am Dienstag, 22. Februar, besuche ich, zusammen mit meinem damaligen Praktikanten, ein Wohnheim für psychisch erkrankte Menschen. Beim Herausgehen spricht uns Frau A. an. Ich kenne sie schon lange. Sie wird von Ängsten geplagt, vor allem vor der Angst zu sterben. Oder dass anderen etwas Schlimmes passiert. „Beten Sie für mich, beten Sie für mich, Frau T.!“ So ruft sie es mir immer zu, wenn sie mich sieht. So ich es einrichten kann, suche ich das Gespräch mit ihr und erkundige mich, wie es ihr geht (meist sehr schlecht wegen der Ängste) oder frage einfach, was sie an diesem Tag noch vorhat (Kaffee-Trinken, Spazierengehen, Ergotherapie, u.ä.). Auch an diesem Dienstagnachmittag ruft sie mir eindringlich bittend zu: „Beten Sie für mich! Ich habe solche Angst!“ Und sie fährt fort: „Ich habe solche Angst, dass ein Krieg kommt, dass die eine Atombombe abwerfen. Die zünden doch jetzt keine Atombombe, oder Frau Pastorin?“ Ich halte inne. Noch ist der Einmarsch der russischen Armee in der Ukraine weit weg. Sicherlich, man hört von der angespannten Lage, von den Manövern im Grenzgebiet. Doch Putin beteuert, nicht einmarschieren zu wollen, man glaubt nicht, dass er einen Konflikt mit der westlichen Welt provozieren wolle. Ich antworte ihr: „Nein, es wird keinen dritten Weltkrieg geben. Nein. Es wird keine Atombombe geben.“ „Sind Sie sicher, Frau T.?“ „Ja.“ So sage ich es und merke doch, wie meine innere Gewissheit an den Rändern zu bröckeln beginnt.
Zwei Tage später kommt es durch die Nachrichten, dass die russische Armee in der Ukraine einmarschiert ist. Ich weiß nicht, wie meine Antwort am Donnerstagnachmittag ausgesehen hätte. Frau A. ist, seit ich sie kenne, getrieben durch pathologische Ängste. Nun hat eine Angst – die vor einer militärischen Auseinandersetzung mitten in Europa – die Seite gewechselt.
Mein seelsorgliches Anliegen, sie erleben zu lassen, dass viele ihrer Ängste unbegründet sind, mündet in ein solidarisches Suchen, was gemeinsam Halt gibt in dieser Zeit.
Ein Tag nach Einmarsch der Russen beginnen Mitarbeitende des Wohnheims Sachspenden für die Ostukraine zu sammeln.
Coronabedingt muss ich für den Gottesdienst am Sonntag Okuli einspringen. Predigttext ist 1. Könige 19, 1-8, Elia unter dem Ginsterbusch. Der Angriffskrieg läuft seit über drei Wochen. Der erschöpfte Elia unter dem Dornbusch wird gerne parallelisiert mit heutigen Erfahrungen des Erschöpft-Seins, eines Burn-Outs nach engagiertem Kampf. So habe ich es auch schon mehrfach gepredigt: die Müdigkeit ob seines eigenen Lebens und Gottes wundersame Stärkung und Zuwendung. Nun lese ich den Text mit anderen Augen. Ich sehe das Morden Elias und das Morden in der Ukraine. Zum ersten Mal entscheide ich mich, bewusst politisch zu predigen. In der Predigt spreche ich von Männern, die sich für Gewalt entschieden haben. Auch Wladimir Putin nenne ich bei Namen. Das ist der Moment, als ein Patient von der H*, einer akuten Aufnahmestation, aufspringt: „Was hat Putin hiermit zu tun; das hier ist eine Kirche, da gehört keine Politik hin! Das hat nichts mit der Bibel zu tun!“ Interjektionen bin ich in „meiner“ Gemeinde gewöhnt; die Menschen, die in der Regel zu uns in die Kirche kommen, lassen sich merklich ansprechen und involvieren von den Worten, die ihnen entgegenkommen. Die Menschen, die zu uns kommen, sind welche, deren Leben aus dem Takt gekommen ist. Sie kommen in die Kirche auf der Suche nach neuen Antworten auf ihre Lebensfragen; manche offen, suchend, dürstend; manche gefangen in ihren Gedanken und Emotionen, verwirrt durch die inneren und äußeren Stimmen, auf der Suche nach Orientierung und Halt. Unsere Gottesdienste sind sehr lebendig, da manch normale „Schranken und Hemmungen“ in den Hintergrund rücken. Von daher ist es immer eine adhoc- Entscheidung, ob ich Einwände, Fragen, Gedanken, die während der Predigt laut hineingerufen werden, aufnehme und in einen Dialog trete. Oder ob ich eine Grenze ziehe. An dieser Stelle ist für mich klar: „Nein. Der Angriffskrieg in der Ukraine und das Leid, das Putin den Menschen dort zufügt, gehört auch hierhin. Denn wir als Kirche sind auch in dieser Welt herausgefordert, klar Position zu beziehen, Unrecht zu benennen.“ Ich folge weiter meinem Predigtgedanken, dass Gott keine_n aus der Verantwortung entlässt, dass er uns immer wieder neu auf den Weg schickt. Die inneren Kämpfe und Krisen des Mannes kenne ich nicht. Vor lauter innerer Anspannung hat er im Laufe des Gottesdienstes noch gegen unsere Kirchenglocke geschlagen, zum Erschrecken aller. Aber er ist geblieben bis zum Schluss. Auch in einer „Heilanstalt“ kann es richtig sein, klar politisch und parteiisch zu predigen.
Ich erhalte am Freitagnachmittag einen Anruf aus unserem Ambulanzzentrum: „Hallo Frau T., hier ist ein Herr M. G.. Er sagt, er habe nun einen Termin bei Ihnen.“ Ich schmunzle innerlich und verneine. Im Hintergrund höre ich, wie meine Botschaft weitergeben wird. „Nun will Herr M. G.. selbst mit Ihnen sprechen.“ Ich willige ein. Er meinte, er müsse mich unbedingt sprechen, Anfang nächster Woche gehe es nicht. „Bitte Frau Pastorin T., ich habe Sie noch nie so sehr benötigt wie jetzt gerade.“ Ich lasse mich umstimmen und wir verabreden uns vor dem Ambulanzzentrum. Seit der Krieg in der Ukraine begann, musste ich häufiger an ihn denken. Ich kenne ihn seit meinen ersten Jahren hier in der Psychiatrie. Damals stellte er sich vor: „Der Krieg hat mich krankgemacht. Auf einmal schossen Brüder auf Brüder.“ Er ist Kosovo-Albaner, floh zu Kriegszeiten nach Deutschland. Mittlerweile hat er eine Familie gegründet und ist deutscher Staatsangehöriger. Aufgrund seiner Traumatisierungen und psychischen Erkrankung hat er nur wenige Jahre als technischer Bauzeichner arbeiten können. Immer wieder muss er stationär bei uns aufgenommen werden. Ich mag und schätze ihn sehr. Er mich anscheinend auch. Er ist Muslim, und einer seiner Leitsprüche ist: „Wissen Sie, die einen trinken ihren Kaffee mit Milch, andere mit Milch und Zucker, noch andere schwarz. Aber wir trinken doch alle Kaffee!“ Ich musste viel an ihn denken und habe mich gefragt, inwieweit die jetzigen Kriegsgeschehnisse an seinen seelischen Wunden rühren. Als ich ihn an diesem Freitagnachmittag in der Sonne treffe, ist er wie immer mit Anzug und Krawatte gekleidet, neben ihm auf der Bank eine vollgestopfte Plastiktüte. Er lädt mich ein, neben ihm Platz zu nehmen. Er schildert, wie er Herzprobleme hatte, erst in das eine Krankenhaus, dann in ein anderes, schließlich hier in die LWL- Klinik kam. Aber hier könne er nicht bleiben und nun wisse er nicht, wie er zurück nach Hause käme, seine Frau arbeite, ebenso wie seine Kinder und Freunde, seinen Betreuer erreiche er nicht. Ich setze mich zu ihm. Er fragt mich, wie es mir geht. Ich antworte, dass mir wie wohl vielen die Corona- Lage und die Lage in der Ukraine zu schaffen mache. Mit nicht nachvollziehbaren Gedankensprüngen echauffiert er sich über die Lage in der Ukraine und wechselt sprunghaft die Themen. Ich spüre, wie innerlich durcheinander er ist, und lasse mich traurig berühren, da ich ihn auch ganz anders kenne. Ich würde ihn immer beruhigen, das täte ihm gut. Irgendwann frage ich ihn sehr direkt, ob die jetzigen Berichte aus der Ukraine ihn an seine Kriegserfahrungen erinnern würden. Er antwortet zunächst nicht. Kurze Zeit später lacht er wirr und sagt selbst: „Wissen Sie, das Lachen (dabei lacht er) kommt nicht aus dem Herzen, es ist kein echtes Lachen.“ Er habe im Übrigen für Putin gespendet. „Nicht im Ernst, Herr G., oder?“ „Doch“, fährt er heiser fort, „ich habe eine Dose mit Bohneneintopf für ihn gekauft, der kriegt doch sonst nichts mehr von niemanden.“ Nun bin ich ehrlich verwirrt und ratlos. „Und eine Flasche Wodka. – Die soll er mit einem Male aussaufen, und dann schläft er ein [er imitiert, wie er schlafend von der Bank fällt] und wacht hoffentlich nie mehr auf!“ Und wieder wechselt er schnell das Thema; es kommt ein Pärchen vorbei, die eine Station suchen, er springt auf und hilft ihnen. Meine Frage, ob ich noch irgendetwas für ihn tun könne, verneint er; er werde jetzt wohl zu Fuß die 35km nach Hause laufen, er habe nur albanisches Geld in der Tasche. Ich gebe ihm noch einmal meine Telefonnummer und vertraue, dass er wie sonst auch gut aufgefangen wird von den Menschen hier in der Klinik, von seinem Betreuer oder seiner Familie. Als ich nach einer Zeit aus meinem Bürofenster gucke, sehe ich, wie er mit anderen kumpelhaft quatscht.
Für ihn und für all die anderen, deren Kriegserfahrungen 80 Jahre, 20 Jahre oder 5 Jahre her sind, wünsche ich und bete ich, dass Frieden einziehe in der Ukraine. Auf der Demenzstation erlebe ich wie ältere Menschen nur vor sich hin flüstern: „Das kenne ich doch, das haben wir doch damals auch durchgemacht“, ich ahne, wie Menschen schmerzhaft erinnert werden an ihre je eigenen Erfahrungen von Gewalt und Krieg auf dem Balkan, in Syrien, Zentralafrika oder Afghanistan. Ich als Seelsorgerin versuche die verschiedenen Emotionen „zu halten“, sich der hiesigen und jetzigen Sicherheit zu vergewissern und Orte des Trostes und der Zuversicht zu vergegenwärtigen – auch für mich selbst.
Viele ukrainische Patientinnen oder Patienten habe ich hier noch nicht gesehen, weder auf den Aufnahmestationen noch in der Trauma- Ambulanz. Noch geht es um das bloße Überleben und um das Überleben von Familien und Freunden. Noch geht es um das Funktionieren und Durchhalten. Doch wenn irgendwann einmal Ruhe einkehrt, dann bin ich mir sicher, werden die psychosozialen und psychiatrischen Anlaufstellen viel Kraft und viele Ressourcen brauchen.
[geschrieben Ende März 2022]