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Digitale theologische Öffentlichkeiten. Perspektiven aus Theorie und Praxis

Published onNov 08, 2018
Digitale theologische Öffentlichkeiten. Perspektiven aus Theorie und Praxis
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Es handelt sich bei dem folgenden Text um ein Vortragsmanuskript.

I. Einführung

Wir beginnen mit einer Problematisierung des Phänomens der “Bubbles”: Die Digitalisierung unserer Gesellschaften geht in ihrer gegenwärtigen Phase mit einer fundamentalen Fragmentarisierung gesellschaftlicher Öffentlichkeiten einher. Dies führt zur Bildung kompartmentalisierter Weltsichten, die jedoch in den seltensten Fällen als solche von den User*innen als Problem oder Belastung wahrgenommen werden. Im Gegenteil. Beispiele aus der jüngsten Mediengeschichte zeigen, dass In-Group Effekte der Bestätigung von Vorurteilen - auch wenn sie als faktisch falsch "gewusst" werden - in Feedbackschleifen münden, die das Sprachspiel von Tatsachenkommunikation nur noch simulieren, aber dennoch bzw. darin psychische Belohnung produzieren.

Es wäre ein Missverständnis, die damit einhergehende Identitätsbildung in und durch digitale Öffentlichkeiten als Selbstzweck zu lesen. Der ökonomische Vorteil einer Landschaft fragmentarisierter Bubbles liegt in ihrer Steuerbarkeit aufgrund der hohen Vorhersagbarkeit ihrer Dynamiken und ihrer informationellen Geschlossenheit. Die genannte Fragmentarisierung wird auch als “Balkanisierung” des Internets bzw. als “Splinternet” bezeichnet, in welchem Konzerne Isolation profitabel machen. Wir befinden uns somit in einem Prozess der umgreifenden Reterritorialisierung des Netzes und seiner Öffentlichkeiten, die der Monopolbildung Vorschub leistet und damit qua Nebenwirkung eine gefilterte Weltsicht mitliefert, die an irgendeinem Punkt der langen Verwertungskette zwischen Plattform und Endnutzer Profit abwirft.

Die 6 wertvollsten Konzerne 2017. Quelle: Statista

So weit, so bekannt?! Ein (weiteres?) Lamento zur Digitalisierung von Seiten der Theologie? Darum geht es uns heute nicht. Uns interessiert die Frage, wie Theologie auf diese Entwicklungen reagieren kann. Im Hintergrund steht ein von uns mitverantwortetes Projekt: Das theologische Open Access Journal “Cursor_ Zeitschrift für explorative Theologie”, das sich selbst als Reaktion auf die eingangs skizzierten Entwicklungen versteht. Theologie steckt mitten drin in diesen Entwicklungen, bewusst oder unbewusst, reaktiv oder gestaltend.

Denn erstens braucht jede Theologie einen öffentlichen Kommunikationsraum und ist durch diesen bestimmt. Theologie ist ein kommunikatives Geschehen - sie ist auf ein gegenwärtiges oder vergangenes, textliches oder personales Gegenüber und daher immer auf eine (oder mehrere) Öffentlichkeiten bezogen.

Theologie verhält sich reflexiv und ändert dabei die Art ihrer Reflexion selbst. Die Digitalisierung schafft neue Öffentlichkeiten, neue Kommunikations- und Lebensräume mit einer spezifischen Struktur. Diese sind theologisch relevant. Zum einen als Gegenstand theologischer Reflexion, da sie neue Lebens- und Kommunikationsräume eröffnet: Zum andern verändern digitale Lebensräume die Art und den Ort theologischen Reflektierens durch ihre spezifische codebasierte und algorithmisch strukturierte Architektur. In diesem Sinne muss Theologie sich um eine Hermeneutik der Digitalität bemühen.

Unsere Überlegungen und Erfahrung dazu möchten wir Ihnen in den kommenden 25 Minuten vorstellen. Bevor wir Ihnen unser Projekt Cursor_ vorstellen, skizzieren wir im ersten Teil auf die Spezifika digitaler Kommunikationsräume. Im zweiten Teil zeigen wir, wie das Projekt Cursor_ digitale theologische Öffentlichkeiten imaginiert und anbietet, und wie diese bislang faktisch genutzt werden. Auf dieser Grundlage reflektieren wir abschließend auf die Spezifika theologischer Kommunikation in digitalen Öffentlichkeiten.

II. Spezifika digitaler Kommunikationsräume

A) Strukturen digitaler Kommunikationsräume

Digitale Kommunikationsräume kennzeichnen sich durch verschiedene Spezifika, davon sind drei für die Reflexion auf Cursor_ von Interesse.

Hinweisen möchten wir erstens auf den Zusammenhang von Selbstdarstellung und Information. „Ich bin, was ich like“ – das digitale Selbst konstituiert sich aus seinen sichtbar gemachten Vernetzungen. Interaktionen sind daher in einem hohen Maß von privaten Inhalten geprägt und zugleich Teil einer öffentlichen Meinungsbildung und Debatte. Information kommt vor allem aus der Perspektive des eigenen Ichs in den Blick und ist immer auch Medium der Selbstdarstellung. Nicht nur im digitalen Raum, aber hier besonders sichtbar, ist Information immer auch Ausdruck von Sozialität und sozialer Verortung. Je nach Plattform ist dabei inhaltliche Exaktheit den Zielen „authentischer“ Identitätsbildung und sozialem Erfolg (in Form von möglichst vielen Klicks) oft untergeordnet.

Ein zweites Spezifikum der Kommunikation, insb. in sozialen Netzwerken, ist für unsere Analyse ebenfalls relevant: Denn diese sind durch die Struktur der Plattformen auf emotive Kommunikation, also auf zügige und impulsive Reaktionen, ausgerichtet. Soziale Medien können daher als “reaktionsschnelle Emotionsmedien” beschrieben werden. Emotional aufgeladene Beiträge provozieren nachweislich mehr Reaktionen als nicht emotionale. Der rationale Diskurs, sorgfältiges Abwägen oder umfassendes Argumentieren wiederum erzielen wenig “Gewinn” und verschwinden entsprechend zügig von der digitalen Bildfläche.

Der emotive Gewinn wird zum eigentlichen Grund der Interaktion und daher von Anbieterseite aus gefördert und kann zu einer habitualisierten Verfestigung auf Nutzerseite führen. Viele digitale Produkte implemetieren Mechanismen von “gamification”, also der spielerischen Zusatzgratifikation. Die kann Formen inhalts- und sinnentleerter Exzesse annehmen - Mark Fisher spricht von “Click orgies” - wie sie auch z.B. in Beschreibungen wie dem Lacan’schen “enjoyment” oder Nolan Gertz’ Analyse des “age of nihilism” zum Ausdruck kommen.

Ein dritter Aspekt berührt den Wissensbegriff. Die Versprechen eines egalitären Zugangs zu Wissen durch digitale Medien - etwa open access, open data oder als citizen science - sind bisher kaum eingelöst. Dafür zeigen sich zwei gravierende Veränderungen im Wissensbegriff selbst.

Erstens macht die Verbreitung von Fake-News deutlich, dass für eine emotiv motivierte identitätskonstruierende Diskussion inhaltliche Exaktheit nicht unbedingt ein Kriterium bzw. sogar kontraproduktiv ist. Im Zuge der oben beschrieben emotiven und reaktionsschnellen Kommunikation haben sich die Marker erfolgreicher Kommunikation entsprechend verschoben. Dies verstärkt sich dadurch, dass überdurchschnittlich viele Artikel geliked oder verlinkt werden, von denen nur die Überschriften gelesen wurden. Durch die algorithmengesteuerte Priorisierung erscheinen in Folge insbesondere jene Artikel als wissenswert und diskursrelevant, die oft geteilt und mit hoher statistischer Wahrscheinlichkeit nicht gelesen werden. Es kommt zu einem Zusammenspiel von meinungsprägenden Influencern und algorithmisierter Aufmerksamkeits­zuschreibung.

Zweitens führt die personale Strukturierung sozialer Medien zu einer neuen Perspektive auf das vorhandene Wissen: “Nicht mehr eine objektive Wissensmenge […], sondern die eigene Stellung innerhalb des umgebenden Netzwerkes stellt die Basis dar, von dem aus die Welt erschlossen werden soll.” Dieser Prozess kann als Reperspektivierung des Wissens bezeichnet werden. Dazu kommt es zum psychologischen Phänomen der sog. Bestätigungsverzerrung: Wissenslücken werden bevorzugt mit Informationen ausgefüllt, die zu bestehenden Überzeugungen passen. Der strukturell angelegte Trichtereffekt wird somit aus psychologischen Gründen weiter verstärkt.

B) Fragmentarisierung, Aufmerksamkeitsökonomie und Autonomie

Diese drei strukturellen Spezifika digitaler Kommunikationsräume befördern die eingangs skizzierte Fragmentarisierung der Kommunikations- und Lebenswelten. So entstehen tendenziell abgeschlossene Kommunikationsräume - die im Tagungsthema benannten “bubbles”. Obwohl die sozialwissenschaftlichen Analysen zu dieser Frage nicht eindeutig sind, kann eine tendenzielle Engführung der angebotenen Informationen und Kommunikationswege kaum bestritten werden.

Wir schlagen daher vor, im Blick auf das Phänomen von einem Trichtereffekt zu sprechen: Die algorithmisch strukturierte Interaktion führt zu einer fortschreitenden Engführung frag­mentierter Kommunikations- und Resonanzräume, ohne dass diese in sich abgeschlossen sind. Die Folgen dieser Entwicklung sind bekannt: Es kommt zu Tendenzverstärkungen und selbstreferentiellen Kommunikationsprozessen. Da die Codes zumeist auf duale Reaktionen zielen (Like/Dislike) wirken sie differenzverstärkend und laufen konstruktiven oder kompromissorientierten Kommuni­kationslogiken entgegen. Dies führt zu teilweise massiven Effekten von kommunikativer Benachteiligung und epistemischer Ungerechtigkeit - und damit in der Folge zu Phänomenen sozialer Disruption, bei denen ganze Bevölkerungsgruppen den Eindruck haben, “in einer anderen Welt” als andere Gruppen zu leben.

Relevant ist an dieser Stelle nicht nur nicht nur diese strukturelle Entwicklung, sondern v.a. das Zusammenspiel von algorithmenbasierten Prozessen und menschlicher Nutzung und Auswertung derselben. Diese werfen massive Anfragen im Blick auf individuelle und soziale Autonomie auf. Die im Hintergrund stehenden wirtschaftlichen Interessen wurden eingangs bereits angesprochen. Der Motor dieser Produktionskreisläufe - bzw. systemtheoretisch gesprochen, die Leitdifferenz - ist jedoch nicht einfach nur der monetäre Gewinn an sich. Es ist die Monetarisierung der Ressource “Aufmerksamkeit”, individuell und kollektiv. Zunehmend auch, indem sie konstruiert, worauf ein Nutzer überhaupt erst seine Aufmerksamkeit lenken kann.

Denn mittlerweile liegt das ökonomische Interesse gar nicht unbedingt auf den persönlichen Daten, die das Individuum als solches "verwertbar" machen. Viel lohnenswerter scheint die Auswertung persönlicher Daten zur Erstellung granularer, personalisierter Merkmalcluster, die in Persönlichkeitstypologien oder Mikromilieus münden. Dies eröffnet die Möglichkeit, individuell zugeschnittene und konstruierte “Aufmerksamkeitskorridore” zu erstellen und so das Selbstempfinden und Nutzerverhalten zu lenken.

Der Einsatz solcher Korridore und ihr potentieller politischer Einfluss ist spätestens seit dem letzten US-Wahlkampf und dem Brexit Referendum weithin bekannt. Nicht nur ihre Aufmerksamkeit, sondern auch ihre Identitätsfindungsressourcen und schließlich ihre Anerkennungs- und Gratifikationssysteme werden so miteinander gekoppelt. Sie erzeugen eine Art “Wissens”raum, dessen Leitdifferenz nicht mehr in wahr/falsch besteht, sondern nur noch in gamifizierter Weise als bestätigt mich/bestätigt mich nicht. Menschen, deren Denk- und Handlungsoptionen künstlich auf einige wenige konsistente Folgerungen reduziert wurden, benötigen am Ende nur noch indirekte Impulse, um sich als persönlich aufgefordert zu verstehen. Die Formulierung “stochastischer Terrorismus” ist nur das neueste und perfideste Beispiel für diese Mechanismen.

Das dahinterliegende und grundlegendere Problem ist das Phänomen, dass unsere Filterblasen nicht emergent als unser individuelles, selektives Fenster zur Wirklichkeit entstehen, sondern dass sie zunehmend intentional konstruiert werden - quasi als “Schuhkarton-Wirklichkeit”, die vor unser Fenster geklebt wird. Die vorhin genannten Trichter können also durchaus individuell maßgeschneidert sein, als Kombination aus algorithmisch-automatisierten und intentional-fabrizierten Effekten.

Aspekte wie Religion, Spiritualität, religiöse Sozialkontexte, Werte, Traditionen, theologische Überzeugungen usw. spielen bei der Erstellung solcher Typologien und der Steuerung von Verhalten eine zentrale Rolle: Gerade, weil sie besonders affin sind für emotive Kommunikationsprozesse.

Es ist also nicht nur die Frage nach persönlicher und sozialer Autonomie, die durch diese Prozesse in Frage gestellt wird, sondern auch die Bedeutung und ggf. Instrumentalisierung von Religion, die theologisch in den Blick genommen werden muss. Zwar drehen sich die Diskurse im Kontext von Digitalisierung seit jeher stark um Fragen von Datenschutz, Privatsphäre und Persönlichkeitsrechten. Es ist aber zunehmend denkbar, dass die spezifisch ethischen Perspektiven auf die Digitalisierung ihren Fokus auf andere Aspekte richten sollten, die sich im Bereich von post- bzw. pre-privacy befinden. Die theoretische und praktische Arbeit an Grundlagen für eine nachhaltige, faktenorientierte, nichtbinäre und fehlanreizarme Debattenkultur könnte so ein möglicher ethischer Schwerpunkt werden.

II. Cursor – ein Versuch in Theorie und Praxis

Die Tatsache der oben beschriebenen Negativentwicklungen hat ihrerseits bereits Folgen verursacht.

Noch stehen uns keine bewährten Lösungen zur Verfügung, aber gerade diese Situation macht es notwendig, sich über die aktuellen und potenziellen Rollen und Verantwortlichkeiten religiöser oder religionsbezogener Diskurse in unterschiedlichen Öffentlichkeiten bzw. über Bubblegrenzen hinweg Gedanken zu machen. Digitale theologische Öffentlichkeiten müssen mit und innerhalb der Ambivalenzen der verschiedenen technischen und kulturellen Bedingungen nicht nur imaginiert und implementiert, sondern vor allem selbstreflexiv konzipiert werden.

Vor diesem Problemhorizont ergeben sich folgende praktische und technische Fragen, die sich in ähnlicher Weise für ähnliche Projekte (z.B. für Feinschwarz) stellen.

  1. Wie generiert man Sichtbarkeit aufmerksamkeitsökonomisch nachhaltig und “fair”, d.h. möglichst nicht-manipulativ?

  2. Wie verwaltet man als potenziell kollaboratives und demokratisches Medium Funktionen von Anerkennung ethisch, so dass Fehlanreize wie Selbstdarstellungsschleifen minimiert werden?

  3. Wie stellt man diskursive und partizipative Kontinuität her und wie kann man zugleich Autonomie garantieren? D.h. wie setzt man Anreize, die einerseits commitment ermöglichen, andererseits aber negativen (Selbst-)Konditionierungen des Publikums entgegenwirken? Dies gilt ebenfalls insbesondere im Hinblick auf die vorhin angesprochenen Mechanismen von öffentlicher Selbstreproduktion und Habitualisierungen.

  4. Wie können verschiedene audiences miteinander in respektvollen, produktiven und nicht-binären Kontakt treten, d.h. wie kann man Trichtereffekten und Bestätigungsverzerrungen entgegensteuern und stattdessen Kompromisse, Konsense und Synthesen honorieren?

  5. Wie man unter den gegenwärtigen technischen sowie kulturellen Bedingungen Kommunikation anstoßen, die ihre Relevanz über die Grenzen von Zielgruppen hinweg behält und welche Marker für ihren Erfolg ließen sich benennen?

  6. Was sind mögliche und tatsächliche Verantwortlichkeiten von Theologie und Kirche gegenüber pluralisitischer strukturierten gesellschaftlichen Öffentlichkeiten?


A) Die Vision von Cursor_

Konkret stellten sich unsere Ausgangspunkte für Cursor_ daher wie folgt dar:

Wenn die Praxis theologischer Diskurse trotz aller Säkularisierungsphänomene - so unsere These - von zentraler gesellschaftlicher Bedeutung ist, und wenn diese Bedeutung durch gesteuerte Fragmentarisierungen paradoxerweise im Kontext der Digitalisierung wieder ansteigt, dann können wir über die etablierten Themen wie Privatsphäre und Informationsethik hinaus weitere Rollen für Theologie und religiöse Kommunikationsformen in digitalen Öffentlichkeiten identifizieren.

Ex-Generalstaatsanwalt Jeff Sessions über Römer 13.

Diese Prozesse befinden sich noch in ihren allerersten Anfangsphasen, weshalb regelmäßige Selbstreflexionen aus theologischer Sicht unabdingbar und verstärkt in den Alltag praktizierter Religion eingebracht werden müssen. Die Entwicklung des Konzeptes für unsere Zeitschrift Cursor_ verläuft daher in rekursiven Schleifen, bei denen wir versuchen, kontinuierlich Feedback zu generieren, um anpassungsfähig zu bleiben. Wenn wir nun etwas ins Detail gehen, so geht es genau darum, dass für uns Ihre Eindrücke und Rückmeldungen wichtig sind.

Cursor_ ist eine Zeitschrift, die experimentierfreudig versucht, fachwissenschaftliche und praxisbezogene Diskussionen, partizipative und egalitäre Textformate und verschiedene digitale sowie analoge Öffentlichkeiten zusammenbringen. Explorative Theologie verstehen wir als offenen Prozess gemeinsamen Nachdenkens über Diskursgrenzen hinweg und als theologische Zeitdiagnose im Bezug auf aktuelle Entwicklungen.

Wir versuchen dabei, Dynamik, Unmittelbarkeit und Partizipationsmöglichkeiten von Onlinemedien mit der Materialität analoger Publikationen zu verbinden und gleichzeitig zu verbessern und zu erweitern. Wir haben bislang Beiträge für unsere ersten beiden Ausgaben online veröffentlicht und werden Ausgabe 1 vor Weihnachten auch auf Papier gedruckt publizieren.

Um sowohl im digitalen als auch analogen Feld nicht nur unsere

inhaltlichen Themen zu placieren, sondern auch sicht- und wiedererkennbar zu werden, haben wir Cursor_ nach den Prinzipien von Glitch-Art und digitalem Brutalismus gestaltet, wo Disruption und eine Fehlerästhetik immer auf die Präsenz des Mediums hinweisen.

Wir haben darum im Vorfeld nach einer technischen Lösung gesucht, die unseren Vorstellungen von Offenheit, Zugänglichkeit, Diskursivität, akademischen Anspruch usw. möglichst nahe kommt. Neben den bekannten Kandidaten für akademische Online Zeitschriften wie “Open Journal Systems” oder einem Blogformat ist PubPub eine vom MIT Media Lab als open source Software entwickelte und inzwischen von der non-profit Knowledge Futures Group getragene Plattform, die offene Kollaboration, Reviewing-Prozesse und Diskussionen unter dem Stichwort “community publishing” nicht nur unterstützt, sondern fördern will - z.B. indem Kommentare eigene DOIs erhalten können und somit Diskussionen zitierfähig werden.

Dies könnte ein erster Ansatz sein, um Selbstdarstellungseffekte abzumildern und authentische inhaltliche Diskussionen zu begünstigen. Desweiteren versucht die Knowledges Futures Group mit anderen Projekten die gegenwärtig noch nicht eingelösten Versprechen von freiem Zugang zu objektivem, weitgehend fake-news-resistentem Wissen mit dem sogenannten Underlay-Projekt umzusetzen. Zwar bleibt abzuwarten, was die Zukunft bringt und welche unserer Wetten aufgehen, aber aus unserer Sicht stellt der Ansatz von PubPub als technologische Ausgangsbasis gerade beim Versuch einer Verschiebung kultureller Binnennormen eine qualitative Verbesserung gegenüber bisherigen Lösungen dar.

Neben diesen technischen Aspekten ist eine der Grundfragen, wie wir möglichst rationale über religiöse Themen führen können, in denen Emotion zwar eine Rolle spielen, aber nicht als Leitdifferenz fungieren darf. Diese Diskursform soll verschiedene Bubbles verbinden können, dabei nachhaltig, also kontinuierlich, gleichzeitig aber auch aufmerksamkeitsökonomisch, also mit möglichst wenig zusätzlichen Aufwand für die Leser*innen gestaltet sein.

B) Bisherige Erfahrungen

Gestartet sind wir offiziell vor einem guten Jahr. Innerhalb dieses Zeitraums haben wir einen bislang kleinen, aber weiterhin wachsenden Kern von Stammleser*innen aufbauen können.

Nutzerzahlen zwischen November 2017 und September 2018. Quelle: Google Analytics

Die wöchentlichen Zugriffe liegen im Schnitt bei ca. 20-40 mit Zugriffzahlen zwischen 200-300 bei neu publizierten und beworbenen Texten. Dabei folgen auf Intervalle mit hoher Veröffentlichungsfrequenz und entsprechender Bewerbung zwar wieder normalisierte Nutzerzahlenniveaus, die aber im Durchschnitt höher liegen als davor, wie ein Vergleich der Zahlen vor Februar und nach April 2018 nahelegt.

Nutzerzahlen zwischen November 2017 und Juni 2018. Quelle: Google Analytics.

Die durchschnittliche Besuchsdauer der Nutzer auf unsere Seite liegt mittlerweile bei knapp über sechs Minuten.

Wir stellen weiterhin fest, dass das Bewerben unserer Beiträge in den sozialen Medien zwar tatsächlich Spitzen von Klickzahlen produziert, dass aber die so generierte Aufmerksamkeit nicht über einen momentanen Eindruck hinausreicht. Gerade fachwissenschaftliche Beiträge erzeugen paradoxerweise bislang wenig Resonanz und Diskussion - auch bei reizvollen Themen, wie etwa “Theologie der offenen Quellen” oder sogar dort, wo sie transdisziplinär aktuellste Entwicklungen in den Blick nehmen, wie beim Digitalisierungsthema. Dies mag an dem jungen Alter unserer Zeitschrift liegen und sich mit dem Erscheinen der Printausgabe ändern, aber für ein explizit als akademische open access Zeitschrift antretendes Medium ist es dennoch bezeichnend.

Einen der Texte haben wir testweise breiter beworben. Bislang haben 265 User den Text angeklickt, und die Besuchsdauer war mit über 9 Minuten tatsächlich um die Hälfte länger als bei unseren Durchschnittswerten. Allerdings bleibt es bei einer niedrigen Anzahl von Interaktionen. Was das Problem von Diskussionen jedoch generell technisch erschwert, ist die Getrenntheit der verschiedenen Diskursplattformen (PubPub, Twitter, Facebook).

Unser unter dem Gesichtspunkt von Nutzerinteraktion bislang beliebtester Beitrag ist ebenfalls einer unserer kürzesten. Wir haben in der Zeitschrift die Kategorie "In einfacher Sprache" eingerichtet, in welcher Forscherinnen und Forscher in kurzen Sätzen und einfacher Sprache komplexe theologische Sachverhalte erklären sollen. Bisher liegt hier der Beitrag von Martin Hailer zum Thema "Neues Leben" vor. Dieser Text, obwohl nur eine dreiviertel Seite lang und nur 54 Klicks, hat die höchsten Werte bei der durchschnittlichen Verweildauer, die im Schnitt bei knapp 19 Minuten liegt, und der Interaktionsrate, also Dinge wie Suche auf der Seite, Export, Zitation, die mit 11 Aktionen weit über dem Durchschnitt liegt.

URL: https://cursor.pubpub.org/pub/hailer-leben2017

Diese Attraktivität von kleineren, basaleren und pointierteren Formen, die auf den ersten Blick nicht zur Selbstdarstellung per like oder repost taugen, trifft sich mit den Ergebnissen einer kleinen Umfrage, die wir auf Twitter gestartet hatten. Dort gaben bei einer Stichprobe von n=50 46% der Befragten zu Protokoll, dass sie theologische Diskussionen am liebsten in kürzeren Formaten wie Blogposts oder Podcasts bzw. in Mikroformaten wie einer Twitter-Diskussion konsumieren. Eine Userin lieferte folgende Begründung:

URL: https://mobile.twitter.com/KolpingEssenBBE/status/1052831813775843328

Gleichzeitig jedoch plädierten 54% für die traditionelleren Formate von Aufsätzen und Büchern:

URL: https://mobile.twitter.com/CursorZeth/status/1052670828855345159

Eine der weiteren Grundfragen sowohl für unsere Vision als auch deren konkrete Umsetzung ist für die absehbare Zukunft, wie wir diese beiden Zugangsweisen unserer Leser*innen zu theologischen Themen miteinander vereinen können, und so möglichst zu einer Synthese von Vorteilen beider Diskurslogiken gelangen. Das Negativresultat wäre dagegen ein “worst of both worlds”-Szenario der Banalitäten digitaler Selbstinszenierung und sinnentleerter Aufmerksamkeitserzeugung auf der einen und ungelesener Wälzer in Bibliotheksregalen auf der anderen Seite enden.

Wir als Herausgeber von Cursor_ denken daher über produktive Formen von “Osmosen” zwischen den verschiedenen aktuellen und potenziellen Zielgruppen nach, aber wir fragen uns auch, wo die Grenzlinien zwischen Technologien und Kulturen verlaufen und was wir bzw. was man als experimentelle Publikation grundsätzlich realistischerweise verändern und verbessern kann. Die genannten Eckpunkte werden sich wohl nur mit gemeinsamen und koordinierten Anstrengungen von Medien im Bereich Religion und Theologie, sowie den reflektierenden Austausch über unsere Erfahrungen effektiv adressieren lassen.

III. Fazit

Schlagen wir noch einmal den Bogen zum Anfang und zur Frage nach der Rolle von Theologie in digitalen Öffentlichkeiten. Wir glauben, dass gut geführte und möglichst offen zugängliche theologische Diskurse einen gesamtgesellschaftlichen Nutzen haben können, auch außerhalb von kirchlichen Verlautbarungen zu oder universitätstheologischer Behandlung von ethischen Themen. Struktur und Thematik inkludierender theologischer Diskurse könnte einer Fragmentierung in emergente oder intentional erzeugte Bubbles ein Stück weit entgegenwirken, oder zumindest das “osmotische Potenzial” von Filterblasen erhöhen.

Auch wenn es abgedroschen klingt, der Faktor von wahrgenommener und performierter Authentizität bei niedrigschwelligen Partizipationsangeboten wird hierbei eine wichtige Rolle spielen, als Wille zur öffentlichen Meinung bei gleichzeitiger Offenheit für Gegenstimmen.

Sicher wäre es nach dem zuvor Gesagten mehr als naiv anzunehmen, dass solche Formen (vermeintlich) direkter oder authentischer Kommunikation nicht ebenso artifiziell produziert oder manipuliert werden könnten. Dies geschieht bereits tagtäglich. Aber wichtig ist dennoch die Wahrnehmung, dass die Theologie mit einem Rückzug auf fachliche Binnendiskussionen sich und ihre Diskurse nicht vor solcher Manipulierbarkeit schützt nur anderen "das Feld" überlässt.

Gerade im Bezug auf das Ausloten, Einüben, Anpassen und Etablieren neuer Diskursformen hat die Theologie eine Verantwortung, die weiter reicht, als wir möglicherweise gegenwärtig sehen. Und im Blick auf dieses Ziel wäre es wünschenswert, wenn zumindest die verschiedenen christlichen und theologischen Bubbles miteinander in produktivere und defragmentierende Diskurse träten. Die von uns vorhin skizzierten 6 Fragen dürften für die Mehrzahl von theologischen Medien innerhalb digitaler Öffentlichkeiten gelten. Einige mögliche Lösungsansätze sind sicherlich abhängig von der unterliegenden technologischen Infrastruktur andere vo digitalenund analogen, aber auch akademischen und religiösen Praktiken und Gepflogenheiten. Dies sind weiterhin unbeantwortete Fragen, die wir am besten gemeinsam im Verbund angehen sollten.

Vielleicht müssten wir tatsächlich als Theologie insgesamt analog zu den Bürgerwissenschaften intensiver an einem Konzept von “Citizen Theology” innerhalb analog-digitaler Hybridöffentlichkeiten arbeiten. Unsere Vermutung ist, dass die Idee von Citizen Theology gekoppelt ist an ein Selbstverständnis von Theolog*innen als “public intellectuals”, die sich öffentlich sichtbar und auch angreifbar machen. Dies könnte einen sanften Kulturwandel innerhalb und außerhalb unseres Faches ins Rollen bringen.

Comments
9
Thomas Renkert:

Cambridge Analytica scheint dabei nicht nur mit doxastischen Merkmalen und deren identitätsstiftendem Potenzial gearbeitet zu haben. Auch Oberflächlichkeiten wie Mode und Marken waren instrumentell: https://www.theguardian.com/fashion/2018/nov/29/christopher-wylie-the-fashion-industry-was-crucial-to-the-election-of-donald-trump

Thomas Renkert:

Sehr gute Frage. Da müsste man tatsächlich weiter arbeiten. Z.B. auch mit den de facto-Rollen von Theolog*innen im Alltag: Sozialarbeiter, Politiker.. Aber auch die Frage nach den Anerkennungs- und Aufmerksamkeitsdynamiken bei potenziell marginalisierten Stimmen.

Rasmus Nagel:

Hier mal eine theologische Assoziation: Das Ideal des*r aufgeklärten Bürger*in steht Pate für “citizen science”, soweit klar. Was ist das evangelische Pendant dazu? Da gibt es Gemeinsamkeiten, aber auch Unterschiede. Das Priestertum aller Gläubigen und damit die Einsicht, dass jede*r Christ*in zugleich Theolog*in in einem weiteren Sinne ist, wären ja die ersten Assoziationen. Wie hängt das mit dem Konzept des (Staats-)Bürgers zusammen?

Benedikt Friedrich:

bislang wurde das erst mal als ein medientheoretisches Problem laut. Daran hängt allerdings natürlich auch eine inhaltliche Frage der Ökumene! Wollen wir das überhaupt? Mal auf die Spitze getrieben: Warum soll ich digital mit anderen Bubbles kommunizieren, wenn ich mit diesen Bubbles noch nicht mal gemeinsam am Abendmahlstisch stehen darf. Die Vision des einen Leibes Christi muss für die hier vorgetragene Vision der gegenseitigen Diskursteilnahme ganz schön hochgefahren und belastet werden.

Thomas Renkert:

Dann hast Du uns richtig verstanden.

Benedikt Friedrich:

Joa… Andererseits hält das ja in anderen Kontexten auch niemanden davon ab, parallel in verschiedenen Netzwerken aktiv und partizipativ am Werk zu sein. Die Schwierigkeit hier ist, dass für viele der Inhalt zugleich das Medium ist. Wenn ich mir ein FB Konto zulege, ist das ein global weitreichendes Netzwerk. Wenn ich mich auf pubpub registriere, bin ich wahrscheinlich erst mal nur bei Cursor am Start.

Benedikt Friedrich:

Danke für die realistische Einschätzung, dass man sie dadurch abmildern aber auf keinen Fall gänzlich verhindern kann! Ich denke, daran kranken einige Digitalisierungskonzepte, dass entweder um jeden Preis mit bestimmten Entwicklungen mitgehalten werden muss oder, dass bestimmte Effekte verteufelt und in vollkommen romantischer Weise einfach negiert werden (“Kirche und öffentlich Theologie darf sich diese Praxis nicht zu eigen machen” etc.). Genau dieses Analysieren von Entwicklungen und Phänomenen und die Identifzierung wirksamer Stellschrauben ist eine wichtige Aufgabe im Digitalisierungsdiskurs. Und dazu gehört eben auch, dass der eigene Einfluss im optimalen Fall ein Puffern oder leichtes Abmildern bestimmter Effekte ist. Wenn man aber gerade den Mulitplikationsfaktor bedenkt, der in digitalen Medien optimalerweise mitschwingt, wird klar, was für ein riesiger Mehrwert durch solche kleinen Stellschrauben generiert werden kann. Das macht die Stellschrauben nicht einfacher, entlastet aber von der Illusion “die digitale Welt” änderung zu müssen

Thomas Renkert:

100% Zustimmung. Vielleicht sollte man genau dazu jetzt weiter arbeiten.

Thomas Renkert:

Z.B. “Chains” bei Snapchat, psychische Benefits beim Sammeln von likes, allgemein: non-addictive design.

Benedikt Friedrich:

was heißt das konkret?

+ 1 more...
Benedikt Friedrich:

… wenn ich etwas von Wahrheitswert zu sagen habe, dann will ich manipulieren! Dann will ich, dass mein Gegenüber das einsieht. Selbst in einer "rationalen Diskussion” inszeniere ich mein Argument so, dass meinem Gegenüber hoffentlich keine andere Wahl bleibt, als mir mindestens teilweise zuzustimmen. Mich stört tatsächlich die Reserviertheit vor dem Phänomen der Manipulation

Rasmus Nagel:

Das ist zwar grundsätzlich richtig, aber es gibt z.B. auch Phänomene wie “Clickbait”, die ich lieber vermeiden würde. Die persönliche Schwelle liegt da sicher je unterschiedlich, aber ich denke schon, dass es da zumindest grobe Grenzwerte geben sollte - auch weil sonst das Medium selbst Teil einer wenig konstruktiven Aufmerksamkeitsökonomie werden kann, anstatt diese zu verändern.

+ 2 more...
Benedikt Friedrich:

Ich finde, hier müssten zwei verschiedene Richtungen der Beeinflussung bedacht werden: 1. die genannte intentionale Konstruktion und Aufmerksamkeitslenkung, die mit einer ganz bestimmten Agenda arbeitet (Wahlkampf (“wähle diese Person!”), Advertisment (“kaufe dieses Produkt”, etc.). 2. Andererseits gibt es ja auch eine wesentlich weniger zielgerichtete Art der Aufmerksamkeitslenkung. Bsp.: Streaming-Portale: “Uns ist egal was du hörst — hauptsache du verlierst dich in den unendlichen Möglichkeiten, die dir auf unserer Plattform geboten sind.” Der Mechanismus ist ja hier genau das Gegenteil: nicht das Aufzeigen von alternativlos besten Optionen, die ich sofort will, sondern das Zerstreuen und unterdrücken einer distinkten Entscheidung da *mich* die Mannigfaltigkeit des Gebotenen konsumiert.

Thomas Renkert:

Sehr gut! Vielen Dank!

Benedikt Friedrich:

Ich finde, das ist aber nur die eine Seite der Medaille! Gerade wenn es um kontroverse Themen geht wird ja doch sehr umfassend und auch z.T. sorgfältig — wenngleich polemisch — argumentiert. Vielleicht könnte man hier noch mal unterscheiden in “lautes” und “leises” Positionieren, wobei gerade die “Exaktheit” der eigenen Likes ja fast schon eine Form leiser Argumentation darstellt und dagegen die polemische Auseinandersetzung z.B. in Feeds wesentlich “lauter” geführt wird. Ich habe jedoch nicht pauschal den Eindruck, dass Komunikation auf sozialen Plattformen die ratio tendentiell verabschieden.

Thomas Renkert:

Es ging darum, auszusagen, dass die Struktur sozialer Medien Benefitdynamiken verursachen kann - besonders bei den Aspekten Identität und Emotion - die (je nach Kontext und Akteuren) rationale Anmerkungen weniger oder negativ honoriert als emotionale Kommentare. Siehe Kaskaden wie Shitstorms.

+ 1 more...