Description
„Frommes Schweigen“ – so betitelt die ZEIT den Leitartikel ihrer Pfingstausgabe.
Über frommes Schweigen und unfrommes Dauerreden, über die Spötter_innen und an die Gebildeten unter den Kirchenverächter_innen. Ein Einwurf aus den ersten Pandemie-Monaten zu den ekklesiologischen und theologischen Dimensionen der Debatte um den Schweige-Vorwurf.
Angesichts grundsätzlicher und situativer Vulnerabilität: der Schweige-Vorwurf
Es gibt keinen Bereich der Gesellschaft, des privaten und des öffentlichen Lebens und der Religionsgemeinschaften und Kirchen, der gerade nicht von Corona getroffen ist. Spätestens seit Mitte März befinden wir uns alle in einer Lage, die wir uns noch vor wenigen Monaten nicht hätten vorstellen können. „Die Pandemie zeigt uns: Ja, wir sind verwundbar. Vielleicht haben wir zu lange geglaubt, dass wir unverwundbar sind, dass es immer nur schneller, höher, weiter geht. Aber das war ein Irrtum.“1 So formulierte es Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier in seiner Fernsehansprache zu Ostern 2020. Das Erschrecken darüber, dass menschliches Leben grundsätzlich verwundbar ist, prägt die gesamtgesellschaftliche Atmosphäre und auch das kirchliche Handeln. Solidaritätsaufrufe und Appelle zur Verantwortung für die „besonders vulnerablen Gruppen“ dienten als Basis dafür, das öffentliche Leben über mehrere Wochen weitgehend zum Erliegen zu bringen. Dabei ist eine fundamentale Spannung zu beobachten. Neben die Erschütterung über die Erkenntnis menschlicher Vulnerabilität tritt der Blick auf vulnerable Gruppen, die besonders schutzbedürftig sind und die mitunter nur schwer für sich selbst sorgen können. Dazu gehören insbesondere Menschen im Seniorenalter und Menschen mit chronischen Erkrankungen, aber auch Kinder und junge Familien. So sinnvoll eine solche Unterscheidung für eine realistische Risikoabschätzung und die Konzeption von Schutzmaßnahmen ist, so sehr wird damit auch die Notwendigkeit eines differenzierten Verständnisses von Vulnerabilität evident, das sowohl die von allen Menschen geteilte Verwundbarkeit in den Mittelpunkt rückt als auch die Situationen und Faktoren, die die individuelle, riskante Vulnerabilität steigern. Hier kann die theologische, genauer anthropologische Reflexion zu einem Verstehenshorizont und zur Sprachfähigkeit beitragen.2
Offenbar bringt die allgemeine Verunsicherung durch die Erkenntnis der Fragilität des Lebens aber nach dem Erschrecken auch noch andere Sehnsüchte ans Licht. Mit der Lockerung der Einschränkungen des öffentlichen Lebens ist auch in einer eigentümlichen Melange von Stimmen der Vorwurf zu hören, die Kirche habe sich des Schweigens schuldig gemacht.
In der ZEIT vom 28. Mai 2020 (23/2020) betitelt Evelyn Finger ihren Kommentar mit dem „frommen Schweigen“, die thüringische Ministerpräsidentin a.D. Lieberknecht hatte schon früher vom „Versagen der Kirche“ gesprochen und aus der Zunft der wissenschaftlichen Theologen sind sowohl in zeitzeichen (Ulrich Körtner)3 als auch in idea (Günter Thomas)4 die Vorwürfe zu lesen, die Kirchen haben geschwiegen oder nur das gesagt, was alle anderen auch gesagt hätten.
Unter der Überschrift „Schweigen“ werden dann munter die Aspekte der vermeintlichen Sprachlosigkeit und der (nicht mehr vorhandenen) Systemrelevanz der Kirche mit verhandelt. Man hätte sich gewünscht, dass man (die Kirche? die EKD? der Ratsvorsitzende?) „das Banner des Evangeliums verwegener hochgehalten hätte“ (Thomas, idea), dass es ein „gemeinsames Wort aller Bischöfe und Präsides der EKD“ gegeben hätte (Thomas, idea), dass „unsere Kirchenoberen ... etwas vom Innersten des Glaubens her sagen“ (Löwe, FAZ)5. Stattdessen hätte sich die Kirche in der Krise „kleingemacht“ (Finger, ZEIT).
Worum geht es hier eigentlich?
Als Gemeindepfarrerin und systematische Theologin reibe ich mir verwundert die Augen und frage mich: worum geht es hier eigentlich? Dass es schon am 20.03.2020 ein gemeinsames Wort der katholischen, evangelischen und orthodoxen Kirchen in Deutschland gegeben hat, wird den Autor*innen wohl kaum entgangen sein6, ebenso wenig die Zusammenstellung von Statements der Leitenden Geistlichen aller Gliedkirchen auf der Seite der EKD.7 Dazu unzählige Stellungnahmen, geistliche Worte, Videobotschaften, Briefe an die innerkirchliche Öffentlichkeit, lange Zeitungsartikel in Lokalzeitungen der Bischöf*innen zu Ostern und Pfingsten, tägliche Videobotschaften des Ratsvorsitzenden aus dem Englischen Garten in München auf facebook. Wer bischöfliche Worte hören wollte, konnte sie geradezu im Übermaß vernehmen.
Zum Narrativ der Kritik gehört auch die rhetorische Schleife, dass das Engagement von Pfarrer*innen und Seelsorger*innen an der „Basis“ durchaus gewürdigt werden konnte. Man wirft insbesondere den Bischöf*innen Schweigen vor, um dies dann als Schweigen der Kirche zu werten. Das ist nicht nur ein Schlag ins Gesicht von allen, die das Amt der öffentlichen Wortverkündigung haben (Pfarrer*innen und Bischöf*innen), es ist auch und vor allem ekklesiologisch und kirchentheoretisch unterbestimmt.
Wer redet, wenn die Kirche redet? Und wo ist sie zu hören?
Seit Beginn der Corona-Krise ist die Kirche in ihren verschiedenen Öffentlichkeiten weitaus deutlicher vernehmbar als vorher. Als Mitte März die öffentliche Feier analoger Präsenzgottesdienste nicht mehr möglich war, setzte eine Flut von livegestreamten Gottesdiensten, von täglichen Videogrüßen aus unzähligen Kirchen, Büros und Pfarrhausbalkonen ein, die manch eine fragen ließ, ob nicht eher Schweigen das Gebot der Stunde sei.8 Neben den digitalen Aktivismus trat in den Gemeinden die Frage: wie erreichen wir jetzt, unter diesen Bedingungen, die Menschen? Die Corona-Krise hat dieser Frage, die eine ekklesiologisch und kirchentheoretisch grundlegende Frage ist, einen eigenen, durchaus konstruktiven, Schub verliehen. Wir haben neu sehen und gestalten gelernt, dass die Gemeinde größer ist als die Gottesdienstgemeinde. Auch dass sie größer ist als die digital erreichbare Gemeinde. Auch wenn die empirischen Untersuchungen in der Breite noch ausstehen, kann man wohl annehmen, dass die Kirche in den letzten Wochen mehr Menschen erreicht hat als sonst. Gerade auch mit den unspektakulären, medial nicht häufig berichteten Formen der Zuwendung.
Kirche ist aus ihren Mauern herausgegangen, bei uns und an vielen anderen Orten wurden Trostworte und „Andachten to go“ auf Wäscheleinen an die Kirchen gehängt zum Mitnehmen. Pfarrer*innen schrieben Briefe an die älteren Gemeindeglieder und an die Konfirmand*innen, an Trauerfamilien und Geburtstagskinder. Neue und partizipative Formen der Kommunikation in der Gemeinde wurden entwickelt – von mit Straßenkreide auf die Straße geschriebenen Bibelversen bis hin zur Organisation von Nachbarschaftshilfe, Telefonketten und – seit das wieder möglich ist – Gottesdiensten im Freien, Konfirmationen im privaten Garten oder auch das Posaunenblasen von Balkonen und vor den Pflegeheimen. Die Entwicklung neuer Video-Gottesdienst-Formate hat den Blick neu darauf gelenkt, wie und in welchem Format das Evangelium jeweils angemessen kommuniziert werden kann. Auch das ist keine neue Frage, aber da phasenweise so gut wie nichts so geschehen konnte „wie immer“, wurde neuer Raum für kreative Experimentierfreude geschaffen. Selbstverständlich ist dabei auch einmal mehr deutlich geworden, dass es ein Nebeneinander und eine Vielfalt von Kommunikationsformen braucht, auch von Gottesdienstformen. Mit den digitalen Angeboten werden einerseits Menschen erreicht und interessiert, die sich vorher nicht über die Schwelle der Kirche gewagt hätten oder denen das unmöglich war – zugleich sind auch diese Angebote längst nicht für alle zugänglich. Die Frage nach der materialen Leiblichkeit und der Bedeutung der physisch erlebbaren Gemeinschaft liegt darüber hinaus deutlicher auf dem Tisch, nicht nur im Blick auf die Feier des Abendmahls. Für die Zeit nach Corona wird es viel zu reflektieren geben darüber, welche Formen bleiben sollen und können – aber auch dass der Blick auf die ganze Gemeinde und darüber hinaus handlungsleitend sein muss. Einmal von der Gefahr des Kreisens um sich selbst in der Krise abgesehen – auf parochialer, landeskirchlicher, aber auch nationaler Ebene.
Dabei handelt es sich schon auf parochialer Ebene um verschiedene Öffentlichkeiten – die digital erreichbare Öffentlichkeit steht neben der Öffentlichkeit der nicht selten betagten, traditionell orientierten Gottesdienstbesucher*innen. Die Öffentlichkeit der Schulgemeinschaft steht neben der Öffentlichkeit der Stadt oder des Dorfes, deren Teil eine konkrete Gemeinde ist usw.
Wie in anderen Gemeinden auch haben wir in der Pforzheimer Johannesgemeinde zu Ostern in jeden der 1800 Haushalte einen Ostergruß gebracht, Ostergottesdienste für Zuhause, eine Osterkerze und Blumensamen. Zugleich waren die Türen des Kirchraums offener denn je und sind es immer noch täglich von 10-19 Uhr. Täglich läuten die Glocken zum Abendgebet. Beides findet anhaltend großen Anklang. Ja, auch das gehört zu den Lehren aus Corona, dass auch in den alten Formen, in den Kirche öffentlich laut wird wie dem Gebetsläuten für moderne Menschen tröstliche Kraft liegt. Unzählige E-Mails und Anrufe in den Pfarrämtern haben darüber ihre Dankbarkeit zum Ausdruck gebracht.
Und ja, auch in den Pflegeheimen und Kliniken geschah Seelsorge trotz eingeschränkter Möglichkeiten – und ja, auch in den Pflegeheimen und Kliniken sind dennoch Menschen einsam gestorben. Die Ungeduld darüber, dass Menschen in den Kliniken und Pflegeheimen zeitweise weder von Seelsorgerinnen und Seelsorgern noch von Angehörigen besucht werden konnten, wurde von den Verantwortlichen durchaus zum Ausdruck gebracht, wenn auch nicht immer öffentlich vernehmbar.
Aber es gehört wohl immer schon zur beängstigenden und bedrohlichen Dimension des Sterbens, dass dies auch einsam geschieht. Nicht nur in Corona-Zeiten. Im Anschluss an die eingangs genannten Überlegungen zur Vulnerabilität lässt sich hier durchaus fragen, ob die aggressiven Reflexe auf die Bischöf*innen (!), die die Menschen allein gelassen hätten, nicht auch ihren Anhalt darin haben, dass die coronabedingte Verunsicherung auch die trifft, die sich sonst sicher planend, organisierend, wissenschaftlich deutend und beherrschend der Welt bemächtigen.
Das Reden der Kirche geschieht in unterschiedlichen Öffentlichkeiten und in unterschiedlichen Dimensionen und Resonanzräumen. Ob auf der Dorfkanzel, im landeskirchlich zentral gestreamten Gottesdienst mit bischöflicher Beteiligung oder in der Talkshow – es handelt sich immer um öffentliches Reden. Die Lautstärken sind auch deswegen unterschiedlich, weil die Grade von Öffentlichkeit unterschiedlich sind. Zugleich geschieht das kirchliche Reden in den Dimensionen von Bildung, Seelsorge, Verkündigung, Diakonie.
Die Repräsentanz der Kirche als Institution – genauer: der Landeskirchen – geschieht in besonderer Weise durch ihre gewählten leitenden Geistlichen, denen mit dem Amt auch die Aufgabe zukommt stellvertretend für die ganze (Landes-)Kirche zu sprechen: Bischöfe und Bischöfinnen, Prälaten und Prälatinnen, Präses und Kirchenpräsident*innen. Ein zentrales Lehramt haben diese aber nicht. Vielmehr geschieht diese Repräsentanz wiederum an unterschiedlichen Schnittstellen, von denen die medial präsente in Talkshows und Zeitungsinterviews nur eine ist. Zu dieser Repräsentanz gehören auch die Gespräche, die gerade wegen ihrer eingeschränkten Öffentlichkeit öffentlichkeitswirksame Folgen versprechen. Dazu gehören die Verhandlungen mit den Landesregierungen und der Bundesregierung über die konkreten Folgen und mögliche Lockerungen der coronabedingten Einschränkungen. Dazu gehören auch Memoranden wie das von Jochen Cornelius-Bundschuh und Andreas Kruse zur Frage einer differenzierten Wahrnehmung der sogenannten Risikogruppen anstelle einer pauschalen Etikettierung von Menschen nur aufgrund ihres Lebensalters.9 Auch hier hat die Kirche geredet. Sie ist weder sprachlos noch stumm.
Ein weiterer, deutlich irritierender Aspekt ist, dass die Kritik am vermeintlichen „Schweigen der Kirche“ genau von den Theologen kommt, die sonst laut und vernehmlich kritisieren, dass sich die Kirche (dann meist: die EKD) zu weitgehend in die politischen Debatten einmischt. Sollte sich dahinter der Streit darum verbergen, was Öffentliche Theologie ist und wer am Ende die Deutungsmacht über die relevanten Fragen des Lebens und Glaubens hat (die Kirche oder die wissenschaftliche Theologie?)? Wäre ersteres der Fall, dann gehört es transparent auf den Tisch und in die Gazetten – und man kann die Fragen nach den Adressat*innen der Kritik stellen.
Im Fall des Streits um die Deutungsmacht ist an die unlösliche Verbindung von wissenschaftlicher Theologie und Kirche zu erinnern, sei es im Sinn von Theologie / Dogmatik als wissenschaftlicher Selbstprüfung der Kirche (Barth)10, sei es im Sinn einer Theorie und Theologie der Kirchenleitung im weiteren Sinn (Schleiermacher)11. Dass beide aneinander gebunden sind, bedeutet allerdings gerade nicht, dass die Theologie in ihren kreativ-konstruktiven und kritischen Dimensionen einzuhegen sei – aber wer aus der Sicht wissenschaftlicher Theologie über Prozesse des kirchlichen Handelns redet, muss die Breite kirchlicher Wirklichkeit, Strukturen und ja, auch Öffentlichkeiten zur Kenntnis nehmen.
Das öffentliche Wort der Kirche im Sinne einer Stellungnahme der EKD ist vor allem dann (aber nicht nur dann) sinnvoll und angezeigt, wenn es um ethische Orientierung in politischen Entscheidungsprozessen geht, z.B. in Fragen der Sterbehilfe, Krieg und Frieden, soziale Gerechtigkeit. Es hat dann Kraft, wenn es theologisch differenziert durchdrungen, gründlich erarbeitet und mit der zeitlichen und sachlichen Distanz verfasst ist, die neue Freiräume der Reflexion schafft.
COVID-19 stellt uns alle vor die Situation, dass wir in vielem auf eine bislang unwägbare Situation reagieren. Vieles, was sonst im Großen und im Kleinen im Bereich des Planbaren liegt, lässt sich heute realistischerweise nicht planen. Dennoch gilt es Kirche auf allen Ebenen zu leiten, einen verlässlichen Rahmen zu bieten, der Menschen Halt und Orientierung gibt, mit den Unwägbarkeiten in existentieller und institutioneller Hinsicht zu leben und in ihnen zu agieren. Dies bringt an manchen Stellen eine Explosion von Kreativität und Innovation mit sich, an anderen Stellen lähmt es Amtsträger*innen oder weist sie zumindest in die Grenzen, etwa weil sie selbst in besonderer Weise durch COVID-19 gefährdet sind. So oder so zeigt sich Kirche als Experimentierraum für das, was der Geist Gottes an Überraschendem bereithält.
Die (un-)heimliche Sehnsucht nach dem Oberhirten
Dass in dieser Situation der allgemeinen Verunsicherung die Sehnsucht nach der einen, verbindlichen Stimme ex cathedra groß ist, die jetzt das eine orientierende Wort spricht, mag verständlich sein. Dem protestantischen Kirchenverständnis angemessen ist es jedoch nicht.
Dass es in der breiten Öffentlichkeit diese Sehnsucht gibt, ist weniger irritierend als die Tatsache, dass auch unter gebildeten Protestant*innen die Sehnsucht nach der Eindeutigkeit eines kirchlichen Lehramts in Zeiten wie diesen wach wird. Theologie als kritische Selbstprüfung der Kirche und als Dienst (Barth)12 verballhornt sich selbst, wenn sie zwischen pastoraler Verkündigung in der Gemeinde (als „Basis“ verstanden) und bischöflichen Verlautbarungen so unterscheidet, dass das eine nettes Kleinerlei ist und das andere „die Kirche“.
Kirche im evangelischen Sinn zeichnet sich durch die Vielstimmigkeit ihrer Glieder aus, die ihre Einheit der gemeinsamen Bezogenheit des Leibes Christi auf ihr Haupt verdankt. Damit entstehen Räume der Experimentierfreude und der Klage, Räume des Redens und des Schweigens, Räume des Hörens und des Planens. Vor allem aber entsteht eine geschwisterlich orientierte Kirche, die darum weiß, dass die Ämter in der Kirche einander und der gemeinsamen Sache dienen (Barmen IV: „Die verschiedenen Ämter in der Kirche begründen keine Herrschaft der einen über die anderen, sondern die Ausübung des der ganzen Gemeinde anvertrauten und befohlenen Dienstes.”)
Die zum Narrativ des gegenwärtigen Schweige-Vorwurfs gehörenden Versuche, die „Basis“ gegen „die da oben“ auszuspielen sind theologisch billiger Theo-Populismus und sehen am Kern des protestantischen Kirchenverständnisses vorbei.
Stattdessen lassen sie sich von einer Medienlogik leiten, die ein (nachvollziehbares) Interesse an einzelnen profilierten Gesichtern der Evangelischen Kirche hat. Diese gilt es aber immer nach ihrer Situationsangemessenheit zu befragen. Die Print-/Online-/Audio-/TV-Medien bilden die Schnittstelle zu unterschiedlichen Öffentlichkeiten. In genau diesen Medien hat sich in den letzten Wochen eine überdurchschnittlich hohe Zahl von Deutungs- und Orientierungsangeboten sowohl durch Pfarrer*innen als auch durch leitende Geistliche gefunden – vom Gemeindebrief, über ganzseitige Worte zur Lage in regionalen Tageszeitungen bis zum gemeinsamen Wort der christlichen Kirchen im März.
Zuguterletzt: das Baumarkt-Narrativ und die Frage nach der Systemrelevanz
Geradezu gebetsmühlenartig mit unterschiedlichen Graden von Häme ist in diesen Tagen auch davon zu lesen, dass die Baumärkte als systemrelevanter betrachtet wurden als die Kirchen – weil die öffentliche Feier analoger Gottesdienste später möglich war als der Besuch von Baumärkten. Einmal davon abgesehen, dass nach der Logik der Baumärkte Kirchen seit Anfang der Pandemie offen waren – als Möglichkeit, individuell hineinzugehen, sich zu holen, was man braucht (Stille, Gebet, Trostwort, Orgelmusik ... ) – liegt der kategoriale Unterschied hier nicht in der Bedeutung, sondern im Nutzen. 10 Minuten auf der Suche nach einem Farbeimer sind etwas anderes als die Versammlung einer Gemeinschaft zeitgleich über einen längeren Zeitraum, möglichst noch singend (auch das kommt außer in der Werbung in Baumärkten bekanntlich nur selten vor).
Ja, es war auffällig und durchaus irritierend, dass die Bundeskanzlerin in ihrer Fernsehansprache Mitte März weder die Kirchen noch ihre Geistlichen nannte. Dennoch ist hier weder Platz für Häme noch für Beleidigtsein, sondern Gelassenheit trotz der damit verbundenen Kränkung.
Mit dem Begriff der Systemrelevanz verbinden sich zwei Fragen: Wem kommt die Deutungsmacht darüber zu, welcher Bereich systemrelevant ist und welcher nicht? Welches sind die Kriterien, nach denen die erste Frage entschieden wird. Dass sich das immer wieder verschiebt, haben die Diskussionen der letzten Wochen gezeigt.
Die Logik des Begriffs Systemrelevanz ist vor allem eine funktionale. Systemrelevant ist, was dazu beiträgt, dass der Laden läuft und das Leben reibungslos funktioniert. Dass die öffentliche Ordnung und die medizinische Versorgung besteht, dass die elementaren Bedürfnisse an Lebensmitteln gestillt werden können. In dieser Hinsicht war und ist Kirche noch nie systemrelevant gewesen. Schon Soziologen wie Talcott Parsons haben die besondere Bedeutung der Religion für das gesellschaftliche System gerade darin gesehen, dass sie auch eine dem System zuwiderlaufende Dimension haben, dass sie sich also nicht ganz funktionalisieren lassen. Auch wenn es Bereiche des gesellschaftlichen Systems gibt, in denen Kirche eine bestimmte, notwendige funktionale Rolle spielt (Gesundheitssystem, Bildungssystem, Kindergärten ... ) – ob das, was sie sagt und tut relevant ist, entzieht sich der an funktionalen Notwendigkeiten orientierten Zuschreibung. Mehr noch: eine Kirche, die von den Verantwortlichen für das funktionierende gesellschaftliche System deswegen als relevant eingestuft würde, weil sie für den reibungslosen Ablauf notwendig wäre, wäre mir suspekt. Schließlich gehört es zu ihrem Wesen, ihre tragende Logik (zumindest auch) außerhalb des Systems zu haben. Dazu kommt der Aspekt, dass die biblischen Texte meist die in den Blick nehmen, die nicht systemrelevant sind, sondern an den Rändern des gesellschaftlichen, politischen und religiösen Systems stehen. Gerade darin entfalten sie auch in der jetzigen Situation ihre Kraft.
Ein funktionaler Religionsbegriff mag in soziologischer Hinsicht aufschlussreich und tragend sein, eine hinreichende Bestimmung der Kirche ist es nicht. Kirche ist immer auch Teil einer „counter-culture“, Sand im Getriebe und Raum für das Unvermutete.
Zu den mitunter bis hin zur Zerreißprobe gewordenen Herausforderungen der letzten Wochen gehört auch immer wieder die Frage: Was ist jetzt das Notwendige und das Richtige zu tun? Momentan ist das immer noch vor allem die Frage nach der Wiederaufnahme der analogen Präsenzgottesdienste. Die politischen und rechtlichen Bestimmungen bilden dafür den Rahmen – entschieden werden muss vor Ort, in der konkreten Gemeinde unter Beachtung der konkreten Gemeinde-, Raum- und Personalsituation. Dabei ist es ironischerweise so, dass die Gemeinden, in denen der Gottesdienstbesuch aus unterschiedlichen Gründen traditionell eher gering ist, leichter wieder Gottesdienste aufnehmen können als die, bei denen Gottesdienste traditionell gut besucht sind, die damit also vor dem Problem des Abweisens von gottesdienstwilligen Menschen stehen. Die Bandbreite an konkret getroffenen Entscheidungen ist hoch und auch hier lernen wir neu, dass nicht alles an allen Orten stattfinden kann, jedenfalls nicht immer.
Welche von den getroffenen großen und kleinen Corona-Entscheidungen richtig waren und welche falsch, wird sich wohl erst in der Zukunft weisen. Deutlich ist aber schon jetzt: die letzten Wochen haben die Kirche auf allen Ebenen – in den Gemeinden, auf der Ebene der Kirchenleitung im engeren Sinn, an den Schnittstellen zwischen analoger und digitaler Öffentlichkeit aus ihren Mauern herausgeführt. Sie hat das Gewohnte verlassen (müssen) auch dann, wenn das mit Risiken, Mehraufwand und Verunsicherung verbunden war, sie hat neue Wege der Kommunikation gesucht und entwickelt, sie hat sich neue Partner gesucht und sich in den frischen, aber eben auch schärferen Wind auf die Kirchenvorplätze und Marktplätze gewagt. Dazu gehört auch, dass sich in theologischer Hinsicht Fragen und Aspekte in den Vordergrund gedrängt haben, die bisher nur am Rande betrachtet wurden, beispielsweise eine Theologie der Vulnerabilität.
Es gab und gibt eine Explosion von Kreativität, unzählige Lebensgeschichten des Geistes und auch eine neue Kommunikationskultur innerhalb der Kirchen. Die Kirchen und ihre Amtsträger*innen haben in einer großen Vielfalt und Unterschiedlichkeit, mit hohem Kraftaufwand und der Bereitschaft, das Unplanbare zu planen und das Unwägbare abzuwägen alles daran gesetzt, Menschen in ihren unterschiedlichen Situationen gut zu begleiten und Orientierung zu bieten. Sie haben Menschen getröstet und andere Menschen irritiert oder gar enttäuscht. Sie haben sich eingelassen darauf, dass sie wie alle anderen auch eher tastend als vollmundig deklarierend unterwegs waren.
Nur eines haben sie ganz sicher nicht: geschwiegen.
Dr. Heike Springhart ist Privatdozentin für Systematische Theologie an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg und Pfarrerin der Evangelischen Landeskirche in Baden, in der Johannesgemeinde Pforzheim.