[Überarbeitete und am gesprochenen Wort korrigierte Druckfassung]
1. Bekanntlich lässt sich aus dem Sein unmittelbar kein Sollen ableiten. Jede Urteilsbildung braucht mindestens ein „Drittes“, das Kriterien an die Hand gibt, nach denen das Sollen auf das Sein bezogen werden kann. Jede Urteilsbildung ist daher ein Konstrukt, das auf Voraussetzungen und Entscheidungen beruht, die methodisch dialogfähig offenzulegen sind und die der Gestaltung und der Verantwortung der Handelnden unterliegen. Auch Bezugnahmen auf Texte der Heiligen Schrift oder der Bekenntnisschriften verstehen sich nicht von selbst, sondern sind immer Konstrukte in diesem Sinne. Gelegentlich wird der Eindruck erweckt, aus Schrift und Bekenntnis ließen sich unmittelbar Ableitungen für die Nutzung digitaler Medien oder für ekklesiologische Folgerungen aus der Digitalisierung vornehmen. Der Ansatz der Thesenreihe Blum/Fucker/van Oorschot bezieht sich offenkundig und wie selbstverständlich auf CA VII – Kirche als geistliche Communio – und nimmt in der Folge vor allem medientheoretische Bezugnahmen dazu vor. Ebenso wurde in den Beiträgen heute immer wieder auf CA VII Bezug genommen mit scheinbar selbstverständlichen Schlussfolgerungen, etwa dass digitales Abendmahl und erst recht digitale Taufe nicht denkbar sind – siehe CA VII. Ich meine, dass man solche Schlussfolgerungen methodisch hinterfragen muss. Dazu stelle ich eine These auf:
Die Entwicklung der verschiedenen Verständnisse des ordinierten Amtes und der anderen Dienste der Communio in den evangelischen Kirchentümern in Deutschland vollzog sich koevolutionär zu staatlichen, gesellschaftlichen und geistesgeschichtlichen Veränderungen. Die dabei vollzogenen Bezugnahmen auf Schrift und Bekenntnis sind hermeneutisch gesehen Konstrukte. Dies gilt auch für die sich gegenwärtig vollziehenden Veränderungen im Verständnis von Amt und Gemeinschaft.
Die politischen oder technischen oder gesellschaftlichen Rahmenbedingen stellen jeweils das „Dritte“ dar, aus dem Kriterien für die Bezugnahme auf die eigene Tradition abgeleitet werden. Da es sich bei diesen Veränderungsprozessen um höchst komplexe Vorgänge mit gegenseitigen Beeinflussungen oder gemeinsamen Beeinflussungen durch „Großwetterlagen“ handelt und man oft nicht sagen kann, ob „Henne“ oder „Ei“ zuerst war, wähle ich den Begriff „koevolutionär“. Die Fragen, auf die meine Überlegungen zulaufen, lauten: Wie sind die derzeitigen, durch die Digitalisierung angestoßenen Veränderungen von Amt und Gemeinschaft in der Kirche als ein solcher koevolutionärer und konstruktiver Prozess zu deuten; welche Handlungsmöglichkeiten gibt es; und wie kann Verantwortung in diesem Prozess wahrgenommen werden?
2. Um meine Überlegungen besser nachvollziehbar zu machen, konkretisiere ich zunächst, was ich mir unter dem „Konstrukt“ einer Bezugnahme auf die Texte unserer Tradition vorstelle: Der weitaus größte Teil des Augsburgischen Bekenntnisses spielt heute faktisch keine Rolle. Ausnahmen bilden CA V und VII sowie CA XIV und XXVIII und mit negativer Reibung CA XVI mit der Formel vom „iure bellare“. Der Rest ist praktisch der Vergessenheit anheimgegeben, und zu Recht, wenn man beispielsweise die Tauftheologie der CA ansieht1. Das Augsburger Bekenntnis war seinem Selbstverständnis nach nie als „Summa theologiae“ gedacht, sondern als ein Text, der die Rechtmäßigkeit der protestantischen Lehre gegenüber dem Reichstag nachweisen sollte. Insofern bedarf es nicht der Begründung, warum wir heute auf große Teile des Textes keinen Bezug mehr nehmen, sondern es bedarf der Begründung, warum ein reichsrechtliches Dokument aus dem 16. Jahrhundert heute irgendeine Relevanz für uns haben soll. Im Blick auf die Thesenreihe ist meine Frage folglich nicht, ob es richtig oder falsch ist, sich für die Gestaltung digitaler Kirche auf CA VII zu beziehen, sondern meine Fragen sind: Warum gerade diese Konstruktion einer Bezugnahme? Welche Funktion hat sie? Welche anderen Konstruktionen wären denkbar?
Ein anderes, klassisches Beispiel ist die Haltung der Kirche zur Sklavenfrage. Bekanntlich hat die Kirche bis ins 18. Und 19. Jahrhundert hinein die Sklaverei mit Verweis auf den Philemonbrief und Titus 2, 9f. theologisch gerechtfertigt. Es waren gesellschaftliche und politische Veränderungen, die als ein „Drittes“ in der Urteilsbildung wirkten und eine andere Hermeneutik an die besagten biblischen Stellen anlegten. Auf derartige Veränderungen bis hin zur Stellungnahme des Rates der EKD zur „Ehe für alle“ vom 28. Juni 2017 hinzuweisen, ist wohlfeil. Gerade aber da, wo ethische Maßstäbe für neue Handlungsfelder zu gewinnen sind, halte ich – wenn ich auf die Diskurse der letzten Monate schaue – den Hinweis auf die an sich in der evangelischen Theologie eingeübten hermeneutischen Methoden nicht für überflüssig; zumal deren explizite Anwendung die Dialogfähigkeit der Positionen erhöht.
3. Als nächstes konkretisiere ich, was ich meine, wenn ich von einer „koevolutionären“ Entwicklung des Verständnisses von Amt und Gemeinde spreche. Denn das weithin geprägte Bild eines geistlichen Amtes nach CA V und eines „Priestertums aller Getauften“ im Anschluss an Luthers „Adelsschrift“2 ist als Konstrukt im Rahmen historischer Bezüge zu verstehen. Ich kann hier zu einer ausführlicheren Darstellung nur auf meinen Aufsatz in der ZevKR verweisen3. In der hier gebotenen Kürze nur ein paar skizzenhafte Striche.
Man hatte gehofft, mit dem 1555 im Augsburger Religionsfrieden beschlossenen „cuius regio, eius religio“ Frieden zwischen den Konfessionen zu schaffen, doch der Dreißigjährige Krieg 1618-1648 lehrte etwas anderes. Die Erfahrung, dass die enge Verbindung einer Offenbarungsreligion mit einem Staat zu dauerhaften kriegerischen Konflikten um die Wahrheit führte, brachte grundsätzlich neue Denkmodelle hervor: Das Naturrecht (u.a. mit dem Namen Hugo Grotius verbunden) begründete die Herrschaft im Staat auf Rechtsannahmen jenseits der Religionen. Die Frühaufklärung entdeckte Theologie erstmals als Religionstheorie, also als Theorie über eine allen Menschen eigene religiöse Anlage. Der Pietismus wendete die neue Freiheit ins Private. Gerade am Pietismus kann man studieren, wie grundlegend neu Fragen von Amt und Gemeinschaft verhandelt wurden. Die Hauskreise feierten Andacht und Abendmahl ohne dazu bestellte kirchliche Vertreter. So sehr jede dieser Veränderungen auch theologische Wurzeln hat und theologisch reflektiert wurde, so wäre sie nicht denkbar ohne die gesellschaftlichen, geistesgeschichtlichen und politischen Veränderungen am Ende des Dreißigjährigen Krieges.
Für das Thema „Gemeinschaft“ als relevanter ekklesiologischer Kategorie4 spielt eine zentrale Rolle der von Samuel von Pufendorf (1632-1694) entwickelte „Kollegialismus“. Dieser löst die Kirche erstmals aus dem Civitas-Gedanken heraus (also aus der Vorstellung eines einheitlichen Corpus von Kirche und Staat) und sah die Kirche als eine „societas libera et aequalis“, eine Vereinigung in Freiheit und Gleichheit, deren äußerer Rahmen vom Staat gesetzt wird, die aber intern ihre Dinge in eigener Verantwortung kollegial regelt.
Schließlich: Erst im 19. Jahrhundert wurden Synoden im heutigen Sinne unter Mitwirkung von Laien geschaffen. Maßgeblich waren dafür sowohl Einflüsse der Remonstranten in den Niederlanden und deren Wirkungen auf die preußischen Rheinprovinzen, als auch die gesellschaftlichen Demokratiebestrebungen mit der Bildung von Parlamenten. Und erst parallel zur Bildung privater Vereine wurde die Leitung der Kirchengemeinden gewählten Kirchenvorständen übertragen.
Dies und vieles andere ist Ihnen bekannt, ich trage Eulen nach Athen. Mir ist der methodische Zusammenhang wichtig: Was wir gerne auf CA VII und auf Luthers „Adelsschrift“ zurückführen, nämlich Kirche als Communio der Getauften, die alle priesterlichen Status haben, ist erst in einem langen historischen Prozess gewachsen und mitnichten monokausal aus der Theologie oder aus der Interpretation bestimmter Textstellen zu erklären. Deshalb der Begriff „koevolutionär“: nämlich von der parallelen und ineinander verschlungenen Entwicklung von Recht, Philosophie und Theologie, von Kriegen und Erfindungen, von sich verändernden Staatsverständnissen und neuen Kirchenverständnissen.
4. Viel methodische Theorie und ein langer historischer Anlauf. In welchem Sinne können die damit gewonnenen Einsichten helfen, den Blick auf die Gegenwart zu klären?
Mir scheinen es vor allem zwei Metatrends zu sein, die derzeit und in Zukunft für die Entwicklung von Theologie und Kirche eine Rolle spielen:
4.1 Die moderne funktional ausdifferenzierte Gesellschaft bestimmt in hohem Maße kirchliches Leben. Die Kirche handelt nach außen mit nahezu allen anderen gesellschaftlichen Subsystemen wie Recht, Finanzwirtschaft, Immobilien, Medizin, Kunst, Politik usw. Deren fortschreitende Differenzierung wirkt auch auf die Kirche ein: Datenschutz und Arbeitsrecht, Jugendschutz, Haushaltsaufstellung und Vermögensverwaltung, Wiedereingliederungsmanagement und Arbeit im Sozialraum – man könnte die Beispiele schier endlos fortsetzen. All das ist kompetent nur noch mit hoher Professionalisierung zu leisten. Zugespitzt kann man sagen: Die funktionale Differenzierung drängt auf Zentralisierung und Hauptamtlichkeit. Zwar gibt es z.B. engagierte Baufachleute in Kirchenvorständen, aber die Schäden, die bei unprofessionellem Handeln entstehen können, sind so gravierend, dass man auf den Zufall solcher ehrenamtlicher Kompetenzen immer weniger setzen kann. Also werden verstärkt Zuständigkeiten auf die mittlere oder obere Ebene gezogen. Ganz im Gegensatz zum Subsidiaritätsprinzip, das vielen Kirchenordnungen explizit oder implizit zugrunde liegt, kann der unteren Ebene faktisch nur noch das überlassen werden, was sich ehrenamtlich voraussichtlich schadlos bewältigen lässt. Hier liegt erhebliches Konfliktpotential. Manche Kirchengemeinde gehen juristisch gegen die mittlere Ebene vor, der sie vorwirft, Kompetenzen zu Unrecht an sich zu ziehen.
Die Rolle des geistlichen Amtes ist in dieser Perspektive vielfältig und disparat. Die Spannweite reicht von den geistlichen Amtsträgern, die froh über die professionelle Unterstützung sind und sich auf geistliche Aufgaben konzentrieren, bis zu denen, die die Opposition dagegen zu ihrem Lebensinhalt machen.
4.2 Der andere Metatrend ist die Digitalisierung. Sie drängt die koevolutionäre Entwicklung der Kirche gerade in die andere Richtung, fördert Partizipation und Selbstermächtigung. Steuerung durch Entscheidungen der Leitungsebene hat hier praktisch keine Chance. Im Netz wird gehandelt, ohne nach Erlaubnis zu fragen.
Allerdings: Auch diese Perspektive ist vielschichtig und disparat. Wie die Thesenreihe Blum/Fucker/van Oorschot diagnostiziert, dienen die social media durchaus zur Selbstinszenierung von Amtsträgerinnen und Amtsträgern. Wahrscheinlich müsste man bei digitalen Gottesdienstangeboten unterscheiden zwischen denen, die in irgendeiner Weise an das verfasst-kirchliche Geschehen angebunden sind – hier spielen nach meiner Beobachtung die Amtsträger:innen eine zentrale Rolle – und denen, die ganz frei als Netzgemeinden ohne Amtsträger:innen existieren. Dennoch: Die Aufbruchzeit des Netzes, in der man die digitale Welt generell für ein Medium zur Förderung von Partizipation, Transparenz und Demokratie hielt, sind lange vorbei. Längst sind die Herrschaftsstrukturen im Netz erforscht5, die es sehr wohl gibt, die aber anders funktionieren als herkömmliche Machtstrukturen. So wird weniger über Normen Macht ausgeübt, als z.B. über die Definition von Zugangsvoraussetzungen. Aber natürlich spielen auch Bildungs-, wirtschaftliche und technische Voraussetzungen eine Rolle. Die Pandemie mit Homeoffice und Homeschooling führt vor Augen, wie wenig alle „gleich“ sind, wenn es um die Frage einer ausreichenden Zahl von Endgeräten in einer vierköpfigen Familie geht.
Für das geistliche Amt bieten sich neue Möglichkeiten: Wer die digitale Kommunikation beherrscht, kann durch blogs, podcasts, auch traditionell über facebook Gedanken verbreiten und Themen setzen. Leitung „sine vi humana sed verbo“ – „ohn menschliche Gewalt, sonder allein durch Gottes Wort“. (CA XXVIII) kann hier zu neuer Geltung kommen.
Für die Zukunft des digitalen Teils von Kirche wird die Zugehörigkeitsfrage entscheidend sein. Man kann – um die Extreme zu skizzieren – sagen: Alles, was seitens der Kirchenleitung nicht steuerbar ist, gehört nicht zum Raum unserer Landeskirchen dazu. Oder: Wir wollen, dass möglichst viele dazugehören und akzeptieren, dass wir vieles nicht steuern können. Beides hat Vor- und Nachteile, das ist klar. Im letzteren Falle sind z.B. auch ökumenische Auseinandersetzungen zu erwarten, wenn die evangelischen Landeskirchen digitale Abendmahlsfeiern ohne ordnungsgemäß berufene Personen akzeptieren. Ganz neu sind solche Fragen nicht. Auch zuzeiten von Pietismus und Erweckungsbewegungen mussten die Kirchen solche Entscheidungen treffen und haben sie oft zugunsten der Zugehörigkeit getroffen. In der Württembergischen Landeskirche feiern pietistische Hauskreise auch heute mit offizieller Erlaubnis Abendmahl ohne Amtsträger (nicht nur dort, wie ich in den letzten Monaten gelernt habe).
4.3 Beide Metatrends stellen die Kirche vor gegenläufige Herausforderungen: Wie ist umzugehen mit dem Professionalisierungs- und Zentralisierungsdruck? Wie ist umzugehen mit Partizipation und Selbstermächtigung? Und schließlich: Wie ist mit beidem gleichzeitig umzugehen? Wird die Kirche der Zukunft dichotom sein, einen organisatorisch straff geführten Teil haben mit einigen (weniger als heute) ordinierten Amtsträgern, über die ein Teil der Verkündigung noch gesteuert wird? Und einen davon unabhängigen geistlichen/virtuellen6 Teil, in dem die Verkündigung (und die Dogmatik) partizipativ entwickelt wird? Wie unabhängig werden und können beide Teile tatsächlich sein, wieviel Parochie brauchen auch Netzgemeinden im Hintergrund? Leben Netzgemeinden vielleicht von Voraussetzungen, die sie selbst negieren?
5. Was leistet mein konstruktivistischer Ansatz mit der Perspektive koevolutionärer Entwicklungen? Mir ist vor allem wichtig, dass er dazu beiträgt, die Diskurse zu verändern. Denn mir scheinen die gegenwärtig geführten Diskurse zu sehr von scheinbar gegebenen dogmatischen Grundsätzen bestimmt, von Normenfragen, von Fragen nach richtig oder falsch/erlaubt oder verboten. Das führt bisweilen zu Besorgnis- oder Verbotsdiskursen, die ich ausgesprochen unerfreulich finde. Mein Ansatz führt dagegen in einen weiten Raum der Gestaltung und damit auch der Übernahme von Verantwortung. Meine Frage ist nicht: Was ist richtig oder erlaubt? Gewiss geht nicht alles, aber doch vieles. Meine Fragen lauten deshalb: Was wollen wir? Wie reflektieren wir es theologisch? Wie wollen wir es gestalten?
Wenn man in der historischen Rückschau sieht, dass die Epochenumbrüche mit ihren koevolutionären Veränderungen jeweils neue Theologien hervorgebracht haben – etwa die lutherische Orthodoxie, die Frühaufklärung, den Rationalismus usw. – dann steht zu erwarten, dass wir mittendrin sind, eine neue Theologie für eine neue Epoche zu entwerfen. Ich finde, es macht Spaß, dabei zu sein!