Reminiszenzen zum theologischen Diskurs der Moderne zwischen ästhetischer Religionstheorie, Ethik und Zeitdiagnostik
Nemo contra deum nisi deus ipse.
Goethe.
„Voilá un homme!“ – „Was für ein Mann!“ entfuhr es dem Kaiser der Franzosen am 2. Oktober 1808, als ihm im Rahmen des Erfurter Fürstenkongresses ‚Monsieur Göt‘ vorgestellt wurde. Der Weimarer Minister stand zuvor für eine Weile unbeachtet im Raum und erlebte die Szenerie napoleonischer Weltpolitik aus unmittelbarer Anschauung: Bonaparte saß, umschwirrt von Bediensteten und Militärs, beim Frühstück, diktierte, gab Anweisungen und nahm Meldungen entgegen. Schließlich wandte sich der Kaiser mit dem zitierten Ausruf an Goethe, den er auf Empfehlung als damals wichtigsten Dichter der Deutschen einbestellt hatte. Nach einigen kundigen Bemerkungen zum ‚Werther‘, den Napoleon als junger Offizier gelesen hatte, entwickelte sich sodann ein kurzes und respektvolles Gespräch, das Goethe rückblickend zu den bedeutendsten Ereignissen seines Lebens zählte. Das im Nachgang auf Geheiß des Imperators verliehene Ordenskreuz der Ehrenlegion trug der Dichterfürst in späteren Jahren auch dann noch mit Stolz, als der Mythos Napoleon längst in befreiungskriegerische Schmährufe umgeschlagen war.
Über das legendäre Erfurter Treffen der beiden Olympier ihres Zeitalters ist natürlich viel gesagt und geschrieben worden. Auch der 200. Todestag Napoleons im vergangenen Jahr bot wieder Anlass zu zahlreichen Retrospektiven.1 Die erneute Revue des Ereignisses wäre demnach vollkommen überflüssig, würde sie im vorliegenden Fall nicht in besonders pointierter Weise auf das gestellte Thema hinführen. Die kleine napoleonisch-goetheanische Reminiszenz soll aus gegebenem Anlass an den besonderen Eindruck erinnern, den der 60-jährige Weimarer und der zwei Jahrzehnte jüngere Kaiser aufeinander machten. Wohlbemerkt: Napoleons Ausruf über die Statur Goethes hat entgegen allen Klischees und Karikaturen mit der Körpergröße nichts zu tun: Der Korse war physisch auf Augenhöhe mit dem Dichter; nach heutigem Kenntnisstand maßen beide 1,69 Meter und entsprachen damit dem gehobenen Mittelmaß damaliger Zeit. Es ist wohl eher an den Gesamteindruck der Persönlichkeit oder, wenn man so will, an Aura und Ausstrahlung zu denken, wenn man nach dem Grund für die gegenseitige Bewunderung fragt. Dies ist für den vorliegenden Zusammenhang insofern wichtig, als der Eindruck, den Goethe von Napoleon gewann, seines Erachtens keineswegs auf dessen welthistorischer, realpolitischer oder militärischer Bedeutung und auch durchaus nicht auf der physiologischen Erscheinung des inzwischen schon etwas untersetzt-dicklichen Kaisers beruhte. Vielmehr war es, wie der Dichter später immer wieder betonte, der Eindruck einer geheimnisvollen Macht, als deren Träger und Emanation ihm Napoleon erschien. Immer wieder nannte er den Korsen gegenüber Vertrauten im Zusammenhang mit dem Begriff des – ‚Dämonischen‘.2
Was er damit meinte, ist nur schwer zu beschreiben. Goethe selber hat oft genug ein Geheimnis daraus gemacht und nur in dunklen Andeutungen davon gesprochen. Zweifellos handelt es sich um einen der schwierigsten, zweideutig-dunkelsten und zugleich wichtigsten Begriffe seines Denkens und Wirkens.3 Im April 1821 rückte er ihn in einem Brief an Hegel in die Nähe der ‚Urphänomene‘. Das Dämonische ist bei Goethe demnach ein dunkles Mysterium, eine Ahnung. Es begegnet als Duft des Faustischen, roh, numinos, ambivalent. Ausdrücklich – und dies ist bereits eine entscheidende Pointe der vorliegenden Überlegungen – ist das Dämonische bei Goethe keine sittlich-moralische Be- oder gar Abwertung: es handelt sich um eine Kategorie, die jenseits des Moralischen liegt und auf einen intuitiven Eindruck ganz eigener Klasse zurückgeht. Das Erschaudern vor dem Ungeheuren, wie es den im Jahr der Napoleonbegegnung erschienenen Faust I und umso mehr „der Tragödie zweiten Teil“ von 1832 durchweht, entzieht sich der ethischen und überhaupt der begrifflichen Bestimmbarkeit. Es ist die bis zu Nietzsche und Thomas Mann reichende „deutsche Affäre“ (Safranski) dunkler Gefühlsdimensionen aus dem Geist der Romantik, die in der Kategorie des Dämonischen beim späten Goethe eines ihrer wirkmächtigsten Motive fand. Auch als Napoleon schon längst nach St. Helena verbannt war, unterstrich der alte Weise vom Weimarer Frauenplan dessen dämonische Aura und schied sein Bonapartebild damit scharf von der moralischen und weltgeschichtlichen Bewertung der napoleonischen Herrschaftsepoche. Auch in literarischen Gestalten seiner Werke zeichnete er jene Spur des Dämonischen nach – z.B. im Egmont und natürlich im Faust.
Im vierten Teil von Dichtung und Wahrheit wird eindrücklich davon berichtet, es sei „in der Natur, der belebten und unbelebten, der beseelten und unbeseelten, etwas zu entdecken, das sich nur in Widersprüchen manifestierte und deshalb unter keinen Begriff, noch viel weniger unter ein Wort gefaßt werden könnte.“ Und so baut sich die Spannung um den Begriff des Dämonischen immer weiter auf:
Es war nicht göttlich, denn es schien unvernünftig, nicht menschlich, denn es hatte keinen Verstand, nicht teuflisch, denn es war wohltätig, nicht englisch, denn es ließ oft Schadenfreude merken. Es glich dem Zufall, denn es bewies keine Folge, es ähnelte der Vorsehung, denn es deutete auf Zusammenhang. Alles, was uns begrenzt, schien für dasselbe durchdringbar, es schien mit den notwendigen Elementen unsres Daseins willkürlich zu schalten, es zog die Zeit zusammen und dehnte den Raum aus. Nur im Unmöglichen schien es sich zu gefallen und das Mögliche mit Verachtung von sich zu stoßen. Dieses Wesen, das zwischen alle übrigen hineinzutreten, sie zu sondern, sie zu verbinden schien, nannte ich dämonisch, nach dem Beispiel der Alten und derer, die etwas Ähnliches gewahrt hatten. Ich suchte mich vor diesem furchtbaren Wesen zu retten, indem ich mich, nach meiner Gewohnheit, hinter ein Bild flüchtete.4
Natürlich wird Goethe auch an Napoleon gedacht haben, als er die folgenden, ebenso dunklen wie vielzitierten Zeilen schrieb:
Obgleich jenes Dämonische sich in allem Körperlichen und Unkörperlichen manifestieren kann, ja bei den Tieren sich aufs merkwürdigste ausspricht; so steht es vorzüglich mit dem Menschen im wunderbarsten Zusammenhang und bildet eine der moralischen Weltordnung, wo nicht entgegengesetzte, doch sie durchkreuzende Macht, so daß man die eine für den Zettel, die andere für den Einschlag könnte gelten lassen. Für die Phänomene, welche hiedurch hervorgebracht werden, gibt es unzählige Namen: denn alle Philosophien und Religionen haben prosaisch und poetisch dieses Rätsel zu lösen und die Sache schließlich abzutun gesucht, welches ihnen noch fernerhin unbenommen bleibe. Am furchtbarsten aber erscheint dieses Dämonische, wenn es in irgend einem Menschen überwiegend hervortritt. Während meines Lebensganges habe ich mehrere teils in der Nähe, teils in der Ferne beobachten können. Es sind nicht immer die vorzüglichsten Menschen, weder an Geist noch an Talenten, selten durch Herzensgüte sich empfehlend; aber eine ungeheure Kraft geht von ihnen aus, und sie üben eine unglaubliche Gewalt über alle Geschöpfe, ja sogar über die Elemente, und wer kann sagen, wie weit sich eine solche Wirkung erstrecken wird? Alle vereinten sittlichen Kräfte vermögen nichts gegen sie; vergebens, daß der hellere Teil der Menschen sie als Betrogene oder als Betrüger verdächtig machen will, die Masse wird von ihnen angezogen. Selten oder nie finden sich Gleichzeitige ihresgleichen, und sie sind durch nichts zu überwinden, als durch das Universum selbst, mit dem sie den Kampf begonnen; und aus solchen Bemerkungen mag wohl jener sonderbare aber ungeheure Spruch entstanden sein: Nemo contra deum nisi deus ipse.5
Freilich müsste uns alles dies hier nicht interessieren, wenn es nicht eben jene Spur und Ahnung des Dämonischen wäre, die den modernen Protestantismus auf dem Weg ins 20. Jahrhundert in nicht unbeträchtlicher Weise prägte und damit auch für gegenwärtige Reflexionen über die Bedeutung des Dämonischen in Religion und Ethik von Belang ist. Schon für Goethes eigenes Glaubensuniversum war das Dämonische ein „Ausdruck elementaren religiösen Gefühls“.6
Die folgenden Überlegungen versuchen diese Spur in aller Kürze nachzuzeichnen. Die Idee des Dämonischen wird hier nun nicht nur als Urphänomen der Religionsgeschichte wiederentdeckt, sondern bildet zugleich, was man einen Grenzbegriff theologischer Ethik nennen könnte: In Zeiten der Krise theologischer Ethik – darin sind sich die Moderne um 1900 und die gegenwärtige Christentumskrise in Europa vielleicht durchaus ähnlich – eröffnet das Dämonische im Erbe Goethes einen Horizont des Rebellisch-Unintegrierbaren, des Widerständig-Sichentziehenden, an dem ethische Systeme und Theorien an ihre Grenzen stoßen und zugleich einen entscheidenden schöpferischen Grund finden; es steht für die lebens- und kulturphilosophische Grundlegung der Ethik auf dem Boden ihrer psychologisch-intuitiven, empirisch-sentimentalen Spurenelemente – ich werde im letzten Abschnitt darauf zurückkommen.
Die Fundamentalbedeutung Goethes für die Transformationen des modernen Protestantismus im 19. Jahrhundert steht außer Frage. Über alle Lager hinweg ist bis zum Ersten Weltkrieg und darüber hinaus „Goethedienst als Gottesdienst“7 zelebriert worden. Auch und gerade der dunkle Begriff des Dämonischen ist dabei tief in die Erneuerungs- und Selbstvergewisserungsbewegungen protestantischer Theologie und Frömmigkeit eingesickert. Ich erinnere in drei Schritten an die Entdeckung der Religionsgeschichte, die frühe Religionspsychologie und die sich hieraus ergebenden religionsphilosophisch-ethischen Konsequenzen.
In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entwickelte sich im Rückgriff auf neue Impulse zur Annäherung an das Alte Testament – in der Goethezeit denke man insbes. an Herder und in der Theologie an de Wette – jene Bewegung, die Ernst Troeltsch 1913 im Rückblick als „Neuformung der christlich-prophetischen Gedankenwelt“ bezeichnete.8 Im Sinn hatte er dabei besonders die kritische Bibelwissenschaft der Moderne mit ihren großen Protagonisten der literar- und religionsgeschichtlichen Forschung – zu nennen sind hier natürlich Namen wie Wellhausen, Duhm, Gunkel, Weiß, Bousset und viele mehr. Dass Troeltsch in dieser Gruppe den eigentlichen „Jungbrunnen“9 des modernen Protestantismus erblicken konnte, lag keineswegs nur an ihren bahnbrechenden exegetisch-bibelwissenschaftlichen Erkenntnissen, sondern in erster Linie an den hieraus gezogenen Schlüssen zum ‚Wesen der Religion‘, von denen man sich entscheidende Impulse im Ringen um die gravierenden Vermittlungsprobleme der protestantischen Theologie und Dogmatik in der modernen Welt erhoffte.
Einen Hotspot dieser Impulswelle möchte ich kurz herausgreifen, der besonders pointiert mit Goethes Idee des Dämonischen in Verbindung steht: Das Prophetenbild Bernhard Duhms, das in diesem Fall vor dem Hintergrund der Studien seines Lehrers Wellhausen zu sehen ist. Schon bei Wellhausen sind die Propheten des alten Israel bekanntlich keine Erben und Ausleger des mosaischen Gesetzes mehr, wie sie der Schriftenkanon der hebräischen Bibel zunächst nahegelegt, sondern erscheinen als lange Zeit vor Tora und Kultzentralisation wirkende charismatische Individuen schöpferisch-spiritueller Intuition. Das „Lebenselement“ jener prophetischen Gestalten des alten Israel benannte Wellhausen als einen „Sturm der Weltgeschichte, der die Ordnungen der Menschen hinwegfegt, in dem der Schutt der Geschlechter mitsamt den Häusern darauf ins Wanken gerät und nur ein Grund fest bleibt, der selbst keiner Begründung bedarf.“10 In Wellhausens Skizzen und Vorarbeiten heißt es:
Seher und Propheten schauten mit dem zweiten Gesicht, was Jahve that; es gab aber keine Gottesgelehrsamkeit, die ihn nüchtern construierte. Er war zu real, zu jugendlich und gewaltig; auch wollte man nicht seine Grundsätze kennen, sondern sein nächstes Vorhaben, um sich darnach für das eigene Handeln einzurichten. Nie wurde das Wort zur Mutter des Gedankens gemacht, aber die lebendige Evidenz des Gefühlten vertrug sich mit grosser Sorglosigkeit des Ausdrucks. Die Wahrhaftigkeit der Empfindung hatte auch vor Widersprüchen keine Scheu. Jahve hatte unberechenbare Launen, er liess sein Antlitz leuchten und zürnte, man wusste nicht warum, er schuf Gutes und schuf Böses, strafte die Sünde und verleitete zur Sünde – der Satan hatte ihm damals noch keinen Teil seines Wesens abgenommen. Bei alle dem wurde Israel doch nicht an ihm irre. Es waren eben im Ganzen bisher gute Zeiten gewesen; die Incongruenz der äusseren Erfahrung und des Glaubens war noch nicht so stark zur Empfindung gekommen, dass das Bedürfnis entstand sie auszugleichen.11
Bernhard Duhm griff in seinen großen Prophetenstudien auf dieser Linie dann tatsächlich zum Begriff des Dämonischen, – wohlbemerkt gerade nicht im Hinblick auf kleine Geister und Dämonen, sondern im Goethe’schen Sinne eines erdigen Wesensprinzips, einer religiösen „Lebendigkeit“ des „Zwingenden und Dämonischen der großen religiösen Genien“ im „ehrfurchtsvollen Erleben einer unendlichen Macht“.12 In seinem berühmten Baseler Programmvortrag von 1896 über Das Geheimnis in der Religion13 erhebt sich daraus die religionstheoretische These zweier miteinander im Kampf stehender Prinzipien innerhalb der Religion: dem „Geheimnisvollen und Irrationalen“ das in den archaischen Spuren prophetisch-dämonischer Quellen begegnet, und das „Bedürfnis der Rationalität“14, das sich seit jeher von jenen rohen Kräften zu lösen und theologische Lehre und Ethik in den Mittelpunkt religiöser Praxis und Überlieferung zu stellen versucht. Während die letztgenannten rationalen Kräfte nach Duhms Auffassung schon in der Antike und umso mehr im modernen Protestantismus die Oberhand behalten haben (bis „das Geheimnis aus dieser Religion fast ganz entwichen“ war), beruht der Schwerpunkt seines Interesses gerade darin zu zeigen, dass sich der „irrationale Rest“ geheimnisvoller „schöpferischer Kräfte“ dennoch über alle Zeiten als „dämonisches Element“ der Religion im Sinne eines Wesens- und Lebenskern erhalten habe und erhalten müsse:15
Es ist das dämonische Element, das den Kern und das Leben der Religion bildet, das sie hervorbringt, neben dem alle Institutionen, alle Lehre, alle religiöse Ethik, als nur sekundär zu gelten hat, wenn auch natürlich dies Sekundäre auf die erzeugende Kraft zurückwirkt. Die Zweige, Blätter und Früchte gehören ja gewiß zum Baum, die Früchte bestimmen für uns seinen Wert, die Blätter führen ihm die Nahrung zu, aber die erzeugende und gestaltende Kraft birgt doch der Kern, die geheimnisvolle Urzelle, und von hier aus strömt sie in das Geäder des letzten Blattes aus. Wer die Religion unbeirrt von den Meinungen des Tages und von den eigenen subjektiven Anschauungen kennenlernen will, der muß jenes dämonische Element der Religion historisch und psychologisch zu ergründen suchen.
Die „für die reine Wissenschaft unauflösbar“16 bleibende Spur des Mysteriösen ist, wie mir scheint, von Goethes Idee des Dämonischen zutiefst durchdrungen. Und so hat Duhm mit seinem Geheimnisbegriff auch tatsächlich Grundlegendes im Sinn, nämlich einen hermeneutischen Schlüssel für die Religion der Moderne: Auch in seinem späteren Prophetenbuch von 1916 erblickt er in der rohen „dämonistischen Vorstellungswelt“ des Altertums nun „wahrlich nichts Verächtliches“, sondern vielmehr das eigentliche „unmittelbare Verhältnis zur unsichtbaren Welt“, das sich hier nun weitgehend ungebunden und unabhängig von ethischen, sozialen und dogmatischen Formeln und Traditionen der Religionsgeschichte als unveränderliches und bis in die Gegenwart lebendiges Prinzip schöpferisch-religiöser Intuition zeigt.17 Die im 19. Jahrhundert noch vorherrschende kolonialistisch-arrogante Rede von ‚primitiven‘ Vorstufen der Religion ‚wilder‘ Völker und früherer Zeiten ist damit vollkommen erledigt und kehrt sich sogar um: Es ist nunmehr der eigentliche Glutkern der Religion, der ebendort zwar zuweilen dunkel und ungestüm, aber dafür unverfälscht und pur zu Tage liegt – und auch für die bürgerlichen Gemütlichkeitschristentümer der Moderne und ihre moralisch-dogmatisch-kirchlichen Verkrustungen wiedergewonnen und freigelegt werden soll. Einige Jahre später, auf dem Münchner Alttestamentlertag von 1924, war es schon gar nichts Besonderes mehr, dass Paul Volz seinen Hauptvortrag ganz auf der Linie Duhms über Das Dämonische in Jahwe hielt.18
Inzwischen war die Idee einer irrationalen Dimension des religiösen Bewusstseins zu einer Grundidee der nun intensiv betriebenen Religionspsychologie und Religionsphilosophie geworden. Nicht zuletzt im Zuge einer intensiven Rückbesinnung auf Kant, Schleiermacher und Luther war es der Generation um Gestalten wie Ernst Troeltsch und Rudolf Otto möglich, nun auf die Idee eines vor der Erfahrung liegenden religiösen Intuitionsvermögens zu reflektieren. Die Idee eines als ‘religiöses Apriori’ verstandenen Gefühls im Sinne einer „artbesonderen Deutungs- und Wertungskategorie“19 für das Irrationale in der Religion brachte besonders in Ottos Idee der „dämonischen Scheu“ Goethes berühmten Begriff in den direkten Zusammenhang mit der Idee des Numinosen, die nun anhand ihrer intuitiv-eruptiven Ausdrucks- und Darstellungsformen analysiert wird.20 Auch außerhalb des deutschsprachigen Protestantismus kamen Religionsforscher wie William James, Nathan Söderblom und besonders Robert Ranulph Marett in unterschiedlicher Weise auf die Spur eines in der Frömmigkeitsgeschichte greifbaren heiligen Erschauderns jenseits von spekulativer Ethik und Metaphysik – in rohen Gefühlen und in hochstufigen kulturellen Darstellungs- und Kommunikationsformen.
Sie alle sind, wenn man so will, Schüler Goethes insofern, als sie in Anlehnung an den divinatorischen „Heiden“ aus Weimar das dämonische ‚mysterium tremendum‘ als ursprüngliche, elementare und bleibend gültige Grundlage nicht nur der Religion Israels, sondern der Religion überhaupt begriffen. Karl Holl widmete diesem Phänomen des theologischen Interesses an der dämonischen Persönlichkeit im frühen 20. Jahrhundert eine große Rektoratsrede.21 Im Hintergrund ist natürlich eine ganze Generation von Gelehrten zu sehen, die fasziniert war von der „Inneren Welt“ der Religion und ihren epistemologisch-psychologischen Grundlagen in den Ausdrucksformen gelebter Frömmigkeit in Geschichte und Gegenwart.22 Dies dokumentiert sich nicht zuletzt im Durchbruch des „Erlebnis“-Begriffs bei lebensphilosophischen Protagonisten wie Wilhelm Dilthey, Rudolf Eucken, Georg Simmel und überhaupt im kulturphilosophischen Umfeld der für den modernen Protestantismus hochinspirierenden Zeitschrift „Logos“ – in der Theologie dann in der Ritschlschule, besonders beim späten Wilhelm Herrmann und in der erwähnten Konzeption des Numinosen bei Rudolf Otto sowie im Umfeld der Religionsgeschichtlichen Schule.
Auch die wohl elaborierteste Konzeption des Dämonischen in der protestantischen Theologie der Moderne steht – bei allen Eigenheiten – im Erbe dieser Problemgeschichte: Paul Tillich bezeichnete das „Wissen um den irrational-dämonischen Charakter des Lebens“ als Grundzug seines Denkens.23 Seine einschlägigen Schriften zum Thema lösten 1926 den Begriff des Dämonischen ebenfalls von der mythologischen Welt der Dämonenwesen und wendeten ihn zu einer religionsphilosophisch-systematischen Grundformel:
Das Dämonische ist die negative und positive Voraussetzung der Religionsgeschichte. Aus dem dämonischen Untergrunde erheben sich alle höheren, individuellen, historisch geprägten Formen der Religion, im Kampfe mit dem Dämonischen gewinnen sie ihre eigentümliche Gestalt, in dem dämonischen Element, das als Untergrund nie schwinden darf, haben sie ihre zwingende Kraft für das Bewußtsein.24
Im Versuch, die innere Dialektik in den Erscheinungsformen des Heiligen zu beschreiben, versteht Tillich das Dämonische dabei als ein dem Göttlichen widerstreitendes, gleichwohl diesem jedoch aber gerade darin wesentliches schöpferisches Prinzip. Es ist die „Spannung zwischen Formschöpfung und Formzerstörung“, aus der demnach die charakteristische Zweideutigkeit religiöser Ausdrucksformen und Symbole resultiert.25 Was Tillich schließlich den „Kampf gegen das Dämonische in der Religionsgeschichte“ nennt, hängt eng zusammen mit seiner Idee des Unbedingten, das er später in Amerika ‚ultimate concern‘ nannte: Was uns unbedingt angeht, ist immer „Grund und Abgrund“ des Sinns, der nur in seinem Charakter des Paradoxen und Antinomischen, des Mysteriösen und Ambivalenten adäquat zur Darstellung kommen kann, da es sonst unweigerlich zu einer götzenhaften, vom Unbedingten entfremdeten Chimäre des Göttlichen verkommt. Ein sich von der zuvor skizzierten Linie des napoleonisch-goetheanischen Dämonischen ein Stückweit abhebender Zug in Tillichs religionsphilosophischer Konzeption hängt derweil mit seiner damit latent verbundenen zeit- und kulturdiagnostischen Kritik zusammen, die in ihrem theoretischen Unterbau auf eine anspruchsvolle an Schelling, Kierkegaard, Nietzsche, Marx sowie der Existenz- und Lebensphilosophie geschulte Modernedeutung hinausläuft.26 Im Hintergrund steht natürlich der für Tillichs Denken fundamentale Eindruck des Ersten Weltkriegs und des Expressionismus. Überaus zeittypisch nutzt Tillich damit den Begriff des Dämonischen als politisch-ethische und kulturkritische Metapher, die auch tiefenpsychologische und kapitalismuskritische Dimensionen sozialer und kultureller Entfremdung in den disruptiven Kräften der Nachkriegsmoderne freizulegen versucht. Geradezu prophetische Züge gewann das Modell dann seit den 30er Jahren in der Anwendung auf den Nationalsozialismus (u.a. in der Auseinandersetzung mit Emanuel Hirsch) und auf die weltpolitischen Transformationen seit der Zeit des Zweiten Weltkrieges im amerikanischen Exil.27
Zweifellos ist, wie auch Folkart Wittekind zeigen konnte, dieser kulturdiagnostisch-politische Aspekt in Tillichs Konzeption des Dämonischen heute der ungleich verbreitetere Verwendungszusammenhang, während die zuvor skizzierte klassisch-goetheanische Spur einer irrationalen ‚inneren Welt‘ und ihres auch durchaus positiven ‚dämonischen Elements‘ in den Hintergrund tritt.28 Gerade Tillich liefert damit das entscheidende Stichwort für den nun folgenden Ausblick im Blick auf die bleibende Relevanz des Dämonischen als eines überaus ambivalenten und notwendigerweise dunklen Begriffs im Blick auf gegenwärtige Grundlegungsfragen der theologischen Ethik.
Das Anliegen der voranstehenden Überlegungen war es zunächst, entgegen einer vereinseitigten ethisch-politischen (und dort zumeist unterkomplex-negativen) Inanspruchnahme des Dämonischen an dessen hierzu nochmals in Spannung stehende numinose und geheimnisvoll-ambivalente Wurzel zu erinnern. Goethes Napoleonanekdote fungierte dabei als Blitzlicht einer letztlich bis in die griechische Antike zurückreichenden religions- und geistesgeschichtlichen Spur, die im Begriff δαίμων und seinen Derivaten gerade die Grenzen und Abgründe ethisch-moralischen, politischen und metaphysischen Denkens abschreitet. Das Beispiel Duhms schärft dabei den Blick für einen Vorgang, den man in Bezug auf Goethe jüngst als „Entkoppelung von Dämonen und Dämonischem“ bezeichnet hat.29 Das Dämonische wird als religionstheoretisch-hermeneutische Kategorie begriffen, die von religionsgeschichtlich greifbaren Dämonenvorstellungen im Sinne hier und dort ihr Unwesen treibender böser Geister und Zwischenwesen grundsätzlich unterschieden wird.
Dies führt zur Frage nach dem bleibenden Nutzen der Kategorie des Dämonischen im hier beschriebenen Sinn vor dem Hintergrund ethischer Gegenwartsdiskurse. Die Rückschau auf die skizzierte Deutung des Dämonischen als einer Intuition für das Ambivalente und Schöpferische bietet meines Erachtens ein kritisches Gegengewicht zur heute häufig zu beobachtenden Tendenz, den Begriff vornehmlich für Phänomene moralisch-fragwürdiger und niederträchtiger, bedrohlicher und politisch-unkontrollierbarer (‚dämonenhafter‘) Kräfte und Personen zu verwenden. Denn damit wird gerade jene Pointe des Begriffs unterbelichtet, die in den referierten Beispielen von Goethe bis Tillich kein bloß politisch-moralisches und tunlichst zu überwindendes oder zu bekämpfendes Problem, sondern ein auch in höchstem Maße schöpferisch-positives und damit unverzichtbares Wesensmerkmal des über sich selbst hinausweisenden Lebens sahen. Das Dämonische liegt in dieser klassischen Lesart jenseits von Gut und Böse. Es gilt als ebenso kreatives wie destruktives Prinzip des weltüberwindenden ‚ewig Neuen‘ im Sinne einer Sehnsucht nach dem Überweltlichen, nach Selbst- und Welttranszendierung.
Das Christentum geht dies heute nicht nur deshalb etwas an, weil seine heiligen Schriften und Traditionsmotive – wie gezeigt – in überwältigender Vielfalt von dunklen Propheten und heiligen Orten, ambivalenten Kräften und numinosen Mächten als Ausdrucksformen einer menschlichen Intuition für das göttliche ‚ineffabile‘ erzählen – nicht nur im Alten Testament sondern gerade auch in Bezug auf das Wirken und den Eindruck der Person Jesu, der die ihm Nachfolgenden zuweilen in „Furcht“ und „Schaudern“ versetzt.30 Vielmehr hat die Frage nach dem Dämonischen auf der hier skizzierten Linie letztlich auch jene Problemkonstellation im Blick, wie sie u.a. Thomas Erne derzeit im Bezug auf das Verhältnis von Kirche und Kunst zum Bild von Jesus Christus einkreist: Es geht um die Frage nach den eigentlichen schöpferischen Erneuerungskräften des christlichen Glaubens und ihren auch in der Gegenwart angemessenen Darstellungspotentialen.31 Vor diesem Hintergrund plädieren die angestellten Überlegungen ausdrücklich für ein mutigeres Einbeziehen des „dämonischen Elements“ (Duhm) der Religion in den gegenwärtigen Diskurs um christliche Ethik in kirchlichen Krisendiagnosen und Reformprozessen.
So sehr es natürlich ein hohes Gut besonders auch aufgeklärt-protestantischer Kirchen- und Theologiegeschichte ist, das rationale Verstehen und das sittliche Handeln in das Zentrum kirchlicher Lehrformeln und Strukturen gestellt zu haben, so unverlierbar ist auch die ‚innere Welt‘ der Religion und mit ihr die dämonisch-dunkle Spur ihrer schöpferischen Kräfte immerzu in ihren vagierenden kulturgeschichtlichen Darstellungswelten präsent und ihrer eigentlichen Vitalität wesentlich gewesen. Welche dieser Ausdrucksformen nun für die prophetischen Erneuerungskräfte des christlichen Glaubens auch heute noch die angemessenen sind, bleibt freilich eine gerade im Protestantismus niemals abschließend zu klärende Frage, ist es doch gerade die unabgeschlossene prophetische Note des „protestantischen Prinzips“ (Tillich), die sich der Verabsolutierung und Verstetigung seiner eigenen Formen immerzu widersetzt.32 Auch für das pervertieren christlich-kirchlicher Strukturen und Symbole, die nicht mehr auf das Unbedingte verweisen, sondern nur noch als autoritäre Hülle von in Wirklichkeit zutiefst weltlich-menschlichen Absichten und Handlungen teils abgründigster Art missbraucht werden, konnte Paul Tillich den Begriff des „Dämonischen“ im Sinne von etwas Pseudoheilig-Götzenhaftem verwenden. Ohne Frage erleben wir derzeit auch im Christentum so etwas wie den Overkill des Dämonischwerdens sakraler Symbolik und Kirchenstruktur im Zuge kirchlicher Missbrauchsskandale, religiös sanktionierter Angriffskriege und kapitolstürmerisch-fundamentalistischer Umsturzphantasien. Mehr denn je ist damit die Verbindung des dämonischen Elements der Religion mit historischen und institutionellen Identifikationsformen verdächtig und ethisch problematisch geworden.
Doch gerade deshalb wäre es wohl zu einseitig gedacht, die gegenwärtigen Ethik-, Reform- und Profilierungsdiskurse der Kirchen ganz von der ‚inneren Welt‘ der Religion und ihren numinosen Darstellungskräften abzurücken. Soll die Kirche im 21. Jahrhundert nicht nur verdienstvoller Ort nüchterner synodaler Verwaltung und des ethisch-politischen Diskurses, sondern auch Ort des Inspirierenden und wirklich Schöpferisch-Neuen in der Idee lebendiger und gegenwartssensibler ‚Christusnachfolge‘ sein, sind die alten Fragen nach dem Wesen menschlicher Frömmigkeit und ihrer dämonisch-dunklen Eigendynamik gerade in einem bürgerlich-aufgeklärten Christentum der Gegenwart von bleibender Brisanz. Der Begriff des Dämonischen in der hier skizzierten, bis in die Antike zurückreichenden Tradition steht letztlich für die bleibende und notwendige Bedeutung der dunklen und unkontrollierbaren Kräfte in jeder auch noch so aufgeklärten Religion. Eine sich von dieser religionspsychologisch-frömmigkeitstheoretischen Ebene lösende und ganz auf politisch-ethische Gegenwartsdiskurse konzentrierende theologische Ethik ließe demnach – wenn diese Diagnose stimmt – ein entscheidendes Momentum ihres unverwechselbaren und einzigartigen Zugriffs auf Fragen der Moral und Sittlichkeit liegen: Wenn es zutrifft – und so lässt sich immerhin das Erbe theologischer Ethik von Wilhelm Herrmann bis insbesondere zu Wolfgang Trillhaas durchaus lesen –, dass der bleibende Grundzug christlich-theologischer Ethik der Moderne gerade auch in ihren anthropologischen und religionspsychologischen Pointen besteht, ist es nicht zuletzt das Ernstnehmen jener Unschärferelation des „irrationalen“ und „dämonischen Elements“ in Religion und Christentum, mit der sich ein theologisch interessiertes Fragen nach Freiheit, Gerechtigkeit und Verantwortung, Wert, Würde, Recht und Norm im pluralen, digitalisierten und globalisierten Lebenszusammenhang des frühen 21. Jahrhunderts kritisch auseinanderzusetzen hat. Denn gerade hierin besteht meines Erachtens der eigentliche Mehrwert einer dezidiert theologisch und religionspsychologisch sensiblen Ethik im Gegenüber zu einer (wie Ritschl sagen würde) ‚uninteressiert‘-wissenschaftlichen Betrachtung politisch-ethischer Gegenwartsdebatten: An die eigentlichen dynamischen Untiefen religiöser Lebenswelten und die durch sie sich ausprägenden, noch immer ethisch-politisch hochrelevanten „konfessionellen Mentalitäten“33 der Welt ist kaum anders heranzukommen, als durch die anspruchsvolle theologisch-religionswissenschaftliche Erkundung jener Spur, die hinter den skizzierten „dämonischen“ Signaturen religiöser Ausdrucksformen lebendig ist.
Die in den vorliegenden Ausführungen implizierte Ermunterung im Bezug auf theologisch-ethische Arbeit besteht damit letztlich im Impuls einer Rückbesinnung auf das latente „Darstellungsproblem“34 des Gegenwartschristentums im Blick auf das, wie Rudolf Otto einmal schrieb, unstillbar „Vorantreibende, nie Ruhende in der Vorstellungsproduktion“ der Religion und das dabei stets latente Problem des „immer Inadäquaten der Ausdrucksmittel“ für das letztlich Undarstellbare.35 Der zu Unrecht vergessene Ritschl-Schüler Max Reischle hat diese theologische Darstellungs-Dauerkrise und ihren praktischen Lebensbezug schon vor über 100 Jahren treffend in Worte gefasst:
Nicht ein theoretisch-zwingender Beweis, sondern nur ein praktisch bestimmter Nachweis läßt sich für die Wahrheit des christlichen Glaubens erbringen. […] Die Form, in der wir den christlichen Glauben als die geoffenbarte wertvolle Wirklichkeit aussprechen, trägt, von der Erkenntnisseite betrachtet, notwendig eine Inadäquatheit an sich; sie findet ihre Rechtfertigung nur insoweit, als sie trotz jener Inadäquatheit als richtiger und verständlicher Ausdruck der im Glauben zu erlebenden Wirklichkeit aufgezeigt werden kann.36
Freilich – und dies ist nochmals ausdrücklich zu betonen – bedeuten diese Überlegungen kein unkritisches Zurück in die archaische Welt des Okkulten und Nebelhaft-Gefühligen, der rauchenden Opferaltäre und der schwärmerischen Veräußerlichung religiöser Gebots-Autorität eines „Du sollst“ oder „es steht geschrieben“; – dagegen haben schließlich schon die alten Propheten ihre kritische Stimme erhoben und völlig zurecht zählt die nüchtern-kritische und bürgerlich-liberale Ethik im Gefolge Kants und der Aufklärung bis heute zu den zweifellos größten Errungenschaften des neuzeitlichen Protestantismus. Wenn es daher so etwas wie eine bleibende Aktualität des Dämonischen im Christentum geben kann, dann wohl als etwas Innerlich-Wesentliches im Christusbild37: Als unabgeschlossenes Ringen um die immer wieder neu zu gewinnenden Darstellungsformen für das eigentlich Undarstellbare des göttlichen Geheimnisses, die sich immerzu selbst negieren und gleichwohl wieder neu hervorbringen; die auch die dunklen Momente frommen Erschauderns bejahen und zugleich um ihre ethisch-toxische Kraft wissen, wenn sie in menschlich-allzumenschliche Hände geraten. Der gegenwärtig vielversprechendste Hebel eines für diesen Zusammenhang kompetenten Ansatzes theologischer Ethik ist möglicherweise von den explorativen Ansätzen theologischer Religionsästhetik und interdisziplinärer Kulturhermeneutik zu erwarten.38 Zu denken wäre an eine im besten Sinne ‚sentimentale Ethik‘, die jenseits orthodox-fundamentalistischer Normensetzung und aufgeklärtem Sittengesetz-Formalismus ein Sensorium für das alte Motiv der „metánoia“ hat, für die Berührende, das ganze Leben ergreifende, lebenswendende Kraft innerlich-vitaler Impulse, deren eigentliche Gründe letztlich auf der hier skizzierten Traditionsline in nicht weiter auseinanderlegbaren religiösen Urphänomenen gründen.39 Eine Kirche, in der das „dämonische Element“ als immer wieder neu zum Durchbruch kommender „Christusimpuls“ (Beuys) im Rahmen kritischer Reflexion und explorativ-schöpferischer Frömmigkeit lebendig ist, wäre dann nicht nur Organisation, sondern religiöse „Experimentalbühne“,40 auf der die reformatorische Freiheitsidee aus den traditionellen christlichen Symbolwelten einen Ermöglichungsgrund für etwas am Ende immer auch Unkontrollierbares eröffnet und gerade in der immer mitgesetzten Kritik an dämonenhaft-pervertierten Chimären pseudoreligiöser menschlicher Abgründe einen religiösen Raum schafft für wahrhaft – Neues.
Eine bis heute für die theologische Ethik, gerade auch im Blick auf Fragen einer globalen Menschenwürde-Idee und aktuelle tier- und umweltethische Aspekte kaum ausgeschöpfte Spur in dieser Richtung scheint mir beispielsweise die allemal auch für irrational-dämonische und mystisch-dunkle Dimensionen der Religion musikalische Ehrfurchts-Ethik Albert Schweitzers zu eröffnen.41 Nicht zufällig verdankte auch Schweizer seine ethische Wende nach eigenem Bekunden der intensiven Auseinandersetzung mit Goethe, die ihn erst eigentlich zur lebensphilosophischen Kritik des kantischen und idealistischen Sittengesetzes und zur Konzeption seiner an Schopenhauers und Nietzsches Willensbegriff entzündeten empirisch-psychologisch und ästhetisch grundierten Ethik der ‚Ehrfrucht vor dem Leben‘ führte.42 Letztlich sind es die alten geistlichen Motive christlich-ethischer Lebensideale wie „compassio“ und „misericordia“ (Barmherzigkeit), die hier nun in der anthropologisch-kulturphilosophischen Analyse einer vitalen Intuition der Empathie, des Mitleids und Lebenswillens wiedergewonnen werden.
Vor Augen steht damit eine Ethik, die von Voraussetzungen lebt, die sie selbst nicht garantieren kann. Sie handelt von den letztlich dämonisch-irrationalen Urgründen vitaler Kräfte, die sie weder zu vergessen noch vollends zu ergründen imstande ist – und markiert damit eben jenen ‚sentimentalen‘ Kern religiöser Lebendigkeit, von dem die oben ausgeführten Überlegungen über das Dämonische handeln. Neu ist diese Spur – wie gezeigt – natürlich nicht, schon der bereits erwähnte Wilhelm Herrmann hat in seiner Anknüpfung an den reformatorischen Herz- und Gewissensbegriff die geradezu offenbarungstheoretischen Grundlagen einer modernen Ethik des religiösen Erlebens gesehen, die ihre eigentliche Kraft nicht aus intellektueller Argumentationsschlüssigkeit oder biblisch-dogmatischer Autorität, sondern aus den – nennen wir es: „dämonischen“ – Gründen intuitiv-innerlicher Erneuerung, Bekehrung, klassisch: aus metánoia in der Begegnung mit uns berührenden Persönlichkeiten gewinnt:
Was uns zur Offenbarung des allmächtigen Wesens werden soll, das uns völlig bezwingt, muss uns doch wenigstens zu Herzen gehen. Dann muss sich zeigen, ob uns darin die Macht berührt, der gegenüber uns nichts Anderes übrig bleibt als Unterwerfung. […] Die Ueberlieferung, die uns Grund des Glaubens an Gott, also Offenbarung Gottes in ernstem Sinne werden kann, besteht in Personen, denen wir zutrauen, dass in ihnen dieser Glaube eine sittlich befreiende Macht sei. Unter der Einwirkung solcher Personen kann in uns der Eindruck entstehen, dass Gott selbst sich uns vernehmlich macht.43
Für die Erschließung der klassischen christlichen Symbole ethisch-religiöser Lebenspraxis wie im Herz- oder Gewissenbegriff erscheint mir diese ‚sentimentale‘ Spur einer anthropologisch-psychologischen Grundlegung der Ethik gerade im Blick auf die hochkomplexen Begründungsfragen gegenwärtiger Ethikdiskurse als bedenkenswert und gewinnbringend. Mag die dunkle Intuition des Dämonischen auch ein zuweilen riskantes, ja bedrohliches, immerzu ambivalentes Erbe mit sich führen, lohnt ihre kritische Reflexion als Urelement der Religion im Rahmen theologischer Ethik gerade darin allemal, – eben weil sie den in liberal-pluralen Gesellschaften nahezu unmöglich gewordenen Setzungen normativer Überlieferung aus Bibel und Kirchentradition religionsgeschichtlich und psychologisch vorausliegt. Mit seiner sentimental-intuitiven Dimension, beispielsweise im ‚compassio‘-Motiv,44 rührt das dämonische Erbe der Religion an Gefühlswelten, die auch jenseits christlich-dogmatischer Sprachspiele von interreligiöser, interkultureller und letztlich – wie schon in Goethes Urphänomenen – alles Leben der Welt unbedingt angehender Evidenz sind. Mit der „die moralische Weltordnung“ auf geheimnisvolle Weise „durchkreuzende[n] Macht“ des Dämonischen zu rechnen, ist damit vielleicht nicht nur ein Krisensymptom, sondern auch eine anthropologisch-hermeneutische Chance für eine explorative, um ihre immer wieder neu auszuhandelnden Grenzen wissende Ethik des frühen 21. Jahrhunderts.
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