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Das Avatar-Dilemma. Eine geschichtstheoretische Etüde

Ein historischer Avatar wirft nicht nur eine ganze Reihe praktischer, sondern auch historiographietheoretischer Probleme auf. Ein Luther-Avatar ist deshalb historiographietheoretisch interessant, weil er als Spezialfall der virtual reality angesehen werden kann.

Published onDec 23, 2024
Das Avatar-Dilemma. Eine geschichtstheoretische Etüde
·

I.

Ein historischer Avatar wirft nicht nur eine ganze Reihe praktischer, sondern auch historiographietheoretischer Probleme auf. Ein Luther-Avatar ist zunächst deshalb historiographietheoretisch interessant, weil er als Spezialfall der virtual reality angesehen werden kann: in der virtual reality werden Ereigniszusammenhänge virtuell vermehrt, um alternative Konfigurationen und Möglichkeiten durchzuspielen. Es leuchtet unmittelbar ein, dass solche virtuellen Realitäten für Ereigniszusammenhänge in einer Zukunft, in der solche alternativen Realitäten tatsächlich irgendwann und irgendwie existieren könnten, durchaus Sinn hat. Das gilt für virtual reality Modelle der Klimaerwärmung oder der Demographie ebenso wie beim Versicherungsschutz oder der militärischen Abschreckung. Eingeschränkter wird es in Bezug auf die Gegenwart, aber auch hier kann ein Avatar noch sinnvoll sein: er verwirklicht Wahlmöglichkeiten der unmittelbaren Zukunft, die allerdings im Moment des Vollzugs schon Vergangenheit sind - wir kennen das aus Videospielen oder von Crash Test Dummies.

Grundlegend anders ist das Verhältnis eines Avatars zur Vergangenheit. Denn hier stellt sich die Frage, ob ein Avatar überhaupt eine alternative historische Wahlmöglichkeit verkörpern kann? Kann es überhaupt eine andere Vergangenheit geben als eben die, die vergangen ist? Aus der Scholastik ist diese Frage als Sonderform des Allmachtsparadoxons bekannt: die Theologen waren sich einig, dass selbst die Allmacht Gottes eine Grenze anerkennen muß - die Faktizität geschehener Ereignisse. Folgen und Auswirkungen jedes geschehenen Ereignisses können zwar rückgängig werden (auch die Schöpfung, auch der Sündenfall oder die Inkarnation), aber die Tatsache, dass es die Schöpfung, den Sündenfall oder die Inkarnation dann einmal gegeben haben wird, kann selbst dann nicht ungeschehen gemacht werden kann - eben weil sie bereits geschehen ist. Die Vergangenheit als solche lässt sich nicht ändern.

Es lassen sich natürlich zusätzliche Vergangenheiten imaginieren, aber sie alle haben einen großen Nachteil: dass sie eben keine Vergangenheit, sondern Fiktion sind. Wenn es aber keine andere Vergangenheit als die Vergangenheit gibt, stellt sich die Frage, welche alternative Vergangenheit kann ein Avatar repräsentieren? In welcher Vergangenheit lebt der Luther-Avatar?

II.

Als Historiker wünsche ich mir natürlich einen Luther, der so historisch „korrekt“ ist wie nur irgend möglich. Das beginnt beim Aussehen, geht über die Kleidung und seine frühneuhochdeutsche Sprache und umfaßt natürlich auch seine Antworten, die sein Denken möglichst korrekt wiedergeben sollen -  so wie wir es aus Luthers Werken kennen, die den Antworten des Avatars ja auch zugrundeliegen. Doch sind die historiographischen und technischen Schwierigkeiten, die sich beim Versuch auftun, einen solchen Luther-Avatar historische Antworten geben zu lassen, nicht zu unterschätzen.

So stellt sich zunächst das Problem, wer der historische Luther überhaupt war, den der Avatar repräsentieren soll? Es ist ja eine Binsenweisheit, dass die Geschichtsschreibung nicht zeigen kann, „wie es eigentlich gewesen ist“ (Ranke), sondern selbst aus Narrativen besteht, die auf der Grundlage von schriftlichen, bildlichen oder sachlichen Quellen entwickelt werden, die sich selbst wieder Narrativen verdanken. Es ist also schon recht schwierig, überhaupt zu bestimmen, welchen „historischen Luther“ wir überhaupt wollen und wie wir ihn rekonstruieren können. Dazu kommt die schwierige Frage, wie man damit umgehen soll, dass Luther seine Meinung zu Vielem im Laufe seines Lebens immer wieder änderte. Während die WA oder ein Lexikon die vielen Meinungen Luthers nebeneinander dokumentieren können, kann ein Avatar als Sprecher zu einem gegebenen Zeitpunkt jeweils nur eine Meinung repräsentieren.

Noch schwieriger sind aber die methodologischen Probleme, die sich bei der Transformation historischer Daten in Trainingsdaten für einen Avatar ergeben, denn das Trainieren eines Avatars funktioniert völlig anders als eine wissenschaftliche Annäherung an einen historischen Sachverhalt. Die Geschichtswissenschaft rückt die Quellen in einen eigenen, narrativen Rahmen ein, der umso überzeugender ist, je mehr weitere Quellen er zu integrieren und zu erklären im Stande ist. Ein mit Quellentexten trainierter Avatar scheint mir gerade den umgekehrten Weg zu gehen: alle Narrative werden aufgelöst, historische Quellen werden ihrer Kontexte und Strukturen beraubt und auf den grammatikalischen und informationstechnologischen Zusammenhang einzelner Lexeme, ja Morpheme reduziert, die dann als rekurrente sprachliche Formen identifiziert und dem Avatar als eigene Rede in den Mund gelegt werden.

Man könnte eine historische Momentaufnahme Luthers schaffen, indem man zum Beispiel alle Schriften und Aussagen Luthers zu einem definierten Zeitpunkt verwendet; dann wäre der Avatar für diesen Zeitpunkt aber eben nicht für den weiteren „ganzen Luther“ repräsentativ. Das Problem erhöht sich paradoxerweise, je mehr Texte Luthers als Trainingsdaten verwendet werden: zwar würde unser Luther immer vollständiger, am Ende aber hätte man als Avatar sozusagen einen rein statistischen Durchschnitts-Luther, dessen Aussagen keiner konkreten Phase seines Lebens, keiner echten Schrift und keiner Facette seines wirklichen Denkens zugeordnet werden könnten. Nähme man den „ganzen Luther“ (d.h. alle verfügbaren Texte), repräsentierte der Avatar nur noch einen virtuellen Luther, der keiner tatsächlich vergangenen Vergangenheit mehr entspräche.

Kurzum: es historiographietheroretisch nicht nur außerordentlich schwierig zu bestimmen, welchen historische Luther wir durch den Avatar repräsentieren wollen, es ist noch schwieriger zu bestimmen, wen oder was die so verwirklichte Möglichkeit ihrerseits dann tatsächlich repräsentiert. Ein Luther-Avatar, der die tatsächlich vergangene Geschichte zeigen soll, ist unmöglich. Denn tatsächlich vergangene Geschichte ist ohne narrative Struktur nicht abbildbar. Ein Avatar, der nur Antworten auf Fragen gibt, kann eine narrative Struktur aber nicht abbilden.

III.

Die zweite Möglichkeit wäre, dass der Avatar uns eine Geschichte zeigt, die es so nicht gegeben hat: dann wäre die virtuelle Vergangenheit, wie gesehen, bloß eine fiktionale Vergangenheit. Ein solcher Avatar wäre sicher interessant, bewegte sich aber historisch in einem unmöglichen Raum. Wir kennen so etwas aus Videospielen, in denen historische Personen agieren, die andere Handlungsoptionen haben als in der historischen Vergangenheit. Unklar ist allerdings, wozu wir einen solchen Luther-Avatar brauchen: denn seine Aussagen wären in keiner Weise historisch, theologisch oder theoretisch verlässlich.

Nun könnte man einwenden, dass ja auch alle historiographischen Abhandlungen zu Luthers Leben und Lehre im Grunde nur Rekonstruktionen sind. Eine wissenschaftliche Darstellung von Luthers Leben, ein Spielfilm zu Luther und ein Avatar würden sich also in ihrem Verhältnis zur Geschichte nur graduell und nicht prinzipiell unterscheiden. Doch die graduellen Unterschiede sind das Entscheidende. Wissenschaftliche Darstellungen halten die historische Differenz offen und reflektieren ihren konstruktivistischen Charakter, während umgekehrt ein Avatar die historische Differenz überspielt. Denn der Zweck eines Avatars ist es ja gerade, eine personale Präsenz (embodiment) zu entwickeln, die Evidenz durch vermeintliche historische Unmittelbarkeit insinuiert. Wenn der Avatar historisch sinnvoll sein sollte, müsste er diese historische Differenz aufzeigen. Aber damit würde dieser Avatar paradox: er kann die Grenze zwischen Gegenwart und Geschichte nicht gleichzeitig markieren und zum Verschwinden bringen.

Das Problem lässt sich am jetzt schon existierenden Lutheravatar veranschaulichen: um den Avatar nicht zum Sprachrohr von Luthers Judenhaß werden zu lassen, antwortet er in seiner virtuellen Vergangenheit, er halte seine früheren judenfeindlichen Ansichten nicht mehr aufrechterhalten und erkenne das Existenzrecht Israels an. Das ist der Luther einer Vergangenheit, die es nie gegeben hat. Nicht nur, dass Luther das Existenzrecht Israels nicht hätte vertreten können, weil es Israel zu seiner Zeit nicht gab. Luther hätte das Existenzrecht Israels aus Prinzip nicht vertreten, da die Tatsache, dass die Juden keinen Staat besaßen sondern im Exil lebten, für ihn der zentrale Beweis für ihre Verwerfung durch Gott und diese wieder das entscheidende Argument dafür war, dass die Verheißung des Heils von den Juden auf die Christen übergegangen sei.

Narrative Darstellungen können sich leicht von Luthers antisemitischen, antidemokratischen, frauenfeindlichen und rassistischen Ansichten distanzieren. Ein Avatar, der mit der Stimme Luthers spricht, kann das nicht, ohne sich in zeitlogische und historiographietheoretische Widersprüche zu verwickeln. Denn anders als eine wissenschaftliche Darstellung legt der Avatar die Anachronie des Sprechens nicht offen, sondern hebt sie in der Illusion personaler Präsenz auf.

IV.

Ein historischer Avatar ist unmöglich, wenn er einen Luther reproduzieren soll, den es tatsächlich gegeben hat. Und er ist paradox, wenn er einen Luther produziert, den es nie gegeben hat. Ein Avatar hat nur dann Sinn, wenn er uns einen Einblick in Person und Denken des historischen Luther zu geben vermag, den Luthers Schriften uns nicht oder zumindest so nicht zu geben vermögen. Die eigentliche Frage lautet daher: kann der Avatar auch eine Vergangenheit repräsentieren, die es zwar gegeben hat, die wir aber nicht kennen?

Kann der Luther-Avatar durch Rekombination von historischen Quellen und historischem Wissen Strukturen und Zusammenhänge in Luthers Denken entdecken und erkennen, die uns bislang verborgen geblieben sind, so wie die Archäologie mittels Georadar unter der Oberfläche Strukturen erkennen kann, die dem menschlichen Auge bislang völlig unbekannt waren? Das time-machine-Projekt (www.timemachine.eu) rechnet bekanntlich mit dieser Möglichkeit, aber angesichts der Art, wie dort schriftliche Quellen verarbeitet werden, bleiben Zweifel vorerst noch erlaubt: Auch hier werden die Verknüpfungen der einzelnen Medien und Quellen ohne Rücksicht auf Kontexte, Narrative, semantische Wandlungsprozesse usw. vorgenommen, so dass zwar aus den Quellen geschöpfte Daten präsentiert werden, aber (zumindest bislang) kein Bild und schon gar kein Narrativ der Vergangenheit entstehen kann. Ich kann nicht beurteilen, ob der Luther-Avatar dieses Problem in naher Zukunft lösen können wird, halte es aber nicht für ausgeschlossen, dass durch die Zusammenführung von großen historischen Datenmengen Korrelationen und Zusammenhänge entdeckt werden, die dem Blick des einzelnen Historikers entzogen waren - wie wir es etwa von der Auswertung serieller Quellen in der Sozialgeschichte kennen. Wie groß die Erschließungskraft in Bezug auf Leben und Lehre einer einzelnen historischen Person sein mag, vermag ich nicht zu beurteilen. Aber schon der Versuch wäre faszinierend. Die Quellenlage immerhin sollte gut sein: über keinen Menschen der frühen Neuzeit wissen wir soviel wie über Luther. Die Frage ist nur, wie wir Narrative und Einzelinformationen so verknüpft bekommen, dass eine digitale virtual reality daraus entstehen kann.

V.

Man kann die Frage, wie der Avatar eine Vergangenheit repräsentieren kann, die es zwar gegeben hat, die wir aber nicht kennen, schließlich auch vom Rezipienten her stellen: wie gut kennen wir die Vergangenheit eigentlich? Und kann uns der Avatar helfen, sie besser zu verstehen?

Eine Möglichkeit wäre eine rein didaktische Anwendung: ein Luther-Avatar, der all die genannten historiographischen Schwierigkeiten gemeistert hätte, könnte das historische Wissen, das in seine Herstellung geflossen ist, didaktisch vielleicht leichter zugänglich machen als eine Bibliothek voll Lutherbücher - wobei, wie gesagt, die historiographietheoretischen Probleme der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen nicht unterschätzt werden sollen.

Spannender scheinen mir aber die Möglichkeiten, die sich aus der virtuellen Konfrontation mit der Person Luthers ergeben. Ein Avatar, der darauf verzichtet, den „ganzen Luther“ darstellen zu wollen und sich darauf beschränkt, ihn zu nur einem klar umrissenen Zeitpunkt seines Lebens, diesen aber umso genauer und vollständiger darzustellen, könnte etwas bewirken, das keine Begegnung mit Luthers Schriften allein vermag. Die modernitätsaffine Lesart der Theologie Luthers in Kirche, Gesellschaft und Theologie verdankt sich ja der weitgehend selektiven, vor allem aber völlig entkontextualisierten Rezeption von Luthers Schriften, die die irrige Vorstellung erweckt, mit ihm sozusagen ein Gespräch auf Augenhöhe führen zu können. Ein Avatar, der uns Luther nicht als statistische Durchschnitts-Theologie sondern als konkretes, lebendiges Individuum zu einem definierten Moment seines Lebens vorstellt, böte zumindest die Möglichkeit, ihn in seiner ganzen historischen Alterität kennenzulernen: als historisch, theologisch und mentalitätsmäßig „fremden“ weil mittelalterlichen Luther, in der Beschränktheit seines spätmittelalterlichen Weltbildes, seiner mystischen Frömmigkeit, seiner Unduldsamkeit gegen Frauen, Juden und Andersgläubige, seinem Grobianismus und seiner maßlosen, heilsgeschichtlich aufgeladenen Egozentrik. Dieser Luther würde sich, je historisch genauer er wäre, desto weniger als anachronistische Projektionsfläche (post-)moderner protestantischer Identität anbieten.

Natürlich wäre auch ein solcher Luther-Avatar nur ein ausschnitthaftes, historisch konstruiertes und deshalb das Luther-Verständnis unserer Gegenwart spiegelndes Bild. Auch kann sie uns nicht den wahren und zugleich den ganzen Luther vor Augen führen. Diesem historiographischen Dilemma entkommen wir nicht. Aber ich bin überzeugt, dass eine Kritik der Theologie Luther notwendig ist - und die beste Kritik dieser Theologie dürfte eine Begegnung mit der Person Martin Luthers sein.

In der Begegnung mit dieser Person, so fragmentarisch oder vorläufig sie auch wäre, in der radikalen Erfahrung ihrer historischen Alterität, bestünde der kritische Gewinn eines Luther-Avatars. Entsakralisierung Luthers wäre, so scheint mir, nicht nur historisch sondern auch theologisch die rechte Annäherung. Ein solcher Luther-Avatar würde eine Vergangenheit repräsentieren, die in jedem Sinne des Wortes vergangen ist.

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