Aufgrund der Erfahrungen einer evangelisch-freikirchlichen Gemeinde während der Corona-Krise von März bis Dezember 2020 entwickelt der Autor Thesen, wie Gemeinden sich weiterentwickeln können, um die Erfahrungen hybrider Gemeindearbeit zu nutzen.
Mit der Corona-Pandemie hat die Gemeindearbeit in allen Kirchen eine Spreizung erfahren, die auch ihre künftige Gestalt prägen wird. Waren bisher einige Gemeinden schon in den digitalen Medien unterwegs, gehört eine Präsenz der Gemeinde im Internet vielfach zum erwarteten Standard. Im Folgenden schildere ich die Erfahrungen in der Evangelisch-Freikirchlichen Gemeinde Kassel-West, die in Kassel als Kirche im Hof bekannt ist. Die Kirche ist der frühere Tanzsaal des Quartiers und liegt im Hinterhof inmitten eines Innenstadtquartiers. Sie ist als Familienzentrum vom Land Hessen anerkannt und hat ein breites Angebot, das besonders durch das internationale Publikum geprägt ist. In den Zeiten vor Corona besuchten wöchentlich bis zu 500 Personen die Veranstaltungen.
Die Kirche im Hof als eine Evangelisch-Freikirchliche Gemeinde (240 Mitglieder, Freunde und Familienangehörige) hat schon seit vielen Jahren ihre Predigten nach dem Gottesdienst ins Internet gestellt, so dass etwa 10 Gemeindemitglieder und Freunde diesen Teil der Gemeindearbeit mitverfolgen konnten. Die Hinweise aus dem Gemeindeleben wurden per E-mail an etwa 100 Adressen verschickt. Die baptistische Gemeinde hatte im Sommer 2020 7 angestellte Mitarbeiter auf 2,8 Vollzeitstellen, darunter neben dem Gemeindepastor, eine Gemeindereferentin, eine Sozialarbeiterin, eine syrische und zwei eritreische Mitarbeiterin, einen amerikanischen Jugendreferenten und einem Popkantor. In der Gemeinde und dem Familienzentrum arbeiteten im Laufe des Jahres 2020 140 ehrenamtliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mit.
Die Kirche wird von einer eritreischen und einer chinesischen Gemeinde mit genutzt. Nach dem Lockdown hat die chinesische Gemeinde ihr Programm komplett ins Internet verlegt, die Eritreische Gemeinde leidet unter den Beschränkungen der Präsenzveranstaltungen besonders.
Mit dem Lockdown wurden schon länger vorhandene Überlegungen plötzlich sehr bedeutend. Es wurden jeden Sonntag Live-Gottesdienste aus einem improvisierten Studio gestreamt. Die Besucher des Youtube-Kanals entsprachen etwa dem üblichen Gottesdienstbesuch (100 Personen). Die Lieder wurden von Musikern der Gemeinde eingesungen. Die Kirche im Hof bot nach den Hygieneregeln statt der üblichen 100 Gottesdienstbesucher nur noch 20 bis 25 Besuchern Platz. Eine derartige Beschränkung erschien nicht sinnvoll, so dass alle zwei Wochen abends Gottesdienste in einer großen evangelischen Kirche im Stadtteil angeboten wurden. Inzwischen finden zwei Gottesdienste hintereinander statt, die identisch ablaufen. Der erste Gottesdienst wird ins Internet übertragen und könnte nach Bedarf in einen weiteren Raum des Gemeindezentrums übertragen werden. Im Anschluss an den übertragenen Gottesdienst gibt es noch einen Teil, in dem neue Gäste begrüßt werden. Es gibt Hinweise, die Kollektenankündigung, Fürbitten und ein Livemusikstück zum Abschluss. Immer wieder kommen Gäste, die vorher einige Male die Gottesdienste auf Youtube verfolgt haben.
Als Einblendung in den Gottesdienst werden Lesungen oder persönliche Berichte aus den Wohnzimmern von Gemeindemitgliedern, unter Umständen auch aus Malaysia oder den USA eingeblendet. Ein Künstler erklärte in seinem Atelier ein Bild, das zum Thema des Sonntags passte, eine zur Gemeinde gehörende Friedensforscherin nahm während der Predigt per Einblendung Stellung zum „Frieden schaffen ohne Waffen“. Die Einblendungen können im Gottesdienstraum mit verfolgt werden. Um allen Zuschauern bewusst zu machen, dass die Kirche im Hof ein Treffpunkt von Menschen aus vielen Kulturen ist, werden die Lesetexte des Gottesdienstes immer auch in einer gängigen anderen Sprache eingeblendet, in Arabisch, Farsi, Englisch, Rumänisch und gelegentlich Chinesisch. Der Aufwand für die technische Umsetzung beträgt zwischen 6 und 10 Stunden ehrenamtliche Arbeit, die von drei Mitarbeitern im Wechsel geleistet werden, unterstützt von 5 Produktionshelfern für die Kameraführung. Da in der Kirche im Hof nicht gesungen werden darf, haben musikalisch begabte Gemeindemitglieder inzwischen etwa 90 Lieder aufgenommen, auf die in der Liturgie zurückgegriffen werden kann.
Im Anschluss an die Liveübertragung gab es eine Zoom-Konferenz „Kirchenkaffee per Zoom“, bei der sich 20 bis 40 Gottesdienstbesucher austauschten. Das Gespräch dauerte etwa 40 Minuten und wurde nicht moderiert. Am Kirchenkaffee in gewöhnlichen Zeiten nahmen regelmäßig 50 bis 70 Personen teil, darunter besonders viele mit Migrationshintergrund.
Um die Gemeinde unter Corona-Bedingungen beieinander zuhalten, wurden zwei verschiedene Telegram-Gruppen eingerichtet: Kirche im Hof Info als offiziellem Kanal, der nur von vier Administratoren bespielt wird. Zur Gruppe gehören 150 Personen. Mit Familienangehörigen beträgt die Reichweite also etwa 200 Gemeindemitglieder und Freunde. Von März an wurden jeden Tag zwei Beiträge gesendet: Morgens ein Morgenimpuls, der einen geistlichen Gedankenanstoß weitergab und von etwa 25 Personen gestaltet wurden. Es gab sowohl Text, wie Audio- und Videobeiträge. Der Morgenimpuls wurde über Weihnachten hinaus weitergeführt. Abends ein Abendsegen, der ebenfalls von ehren- und hauptamtlichen Mitarbeitern gestaltet wurde und oft mit einem Segens- oder Abendlied verbunden war. Der Abendsegen wurde mit Beginn der Sommerferien eingestellt. Die zweite Telegram-Gruppe hat nur 45 Teilnehmer und heißt „Kirche im Hof – Kirchenkaffee“. Hier kann jeder teilen, was er an erfreulichem oder bedrückenden erlebt. Fotos vom Sonnenaufgang, ein Lied, eine lustige Begebenheit. Alles wird von anderen kommentiert. Genutzt wird die Gruppe vor allem von Senioren. Jeden Tag gibt es etwa 3 bis 6 Beiträge.
Eine der Maßgaben war, soviel wie möglich vom präsentischen Gemeindeleben ins Internet zu verlegen. Dazu wurde eine Bibellesegruppe gegründet, die an den Wochentagen ein schriftliches Gespräch ermöglichte. Daran haben bis zu 20 Personen passiv und 10 aktiv teilgenommen. Eine Gruppe von vier Mitarbeitern hat jeweils in das Gespräch über die Texte der Ökumenischen Bibellese eingeführt. Die Jugendgruppe, deren Leiter sich bei Ausbruch der Coronapandemie bei seiner Familie in North Carolina befand, traf sich wöchentlich zu einer Zoom-Konferenz. Der Jugendreferent begleitete auch von den USA aus den englischsprachigen Bibelgesprächskreis, dessen Zoomkonferenzen auch von Teilnehmern in Alaska und Texas besucht wurden. Da unser Jugendreferent in einer zweiten Teilzeitstelle zwei kleine Gemeinden in Nordhessen begleitete, gestaltete er einige Gottesdienste einschließlich der Musik ebenfalls über das Internet. Auch die Hausaufgabenbetreuung im Familienzentrum und der Einzelunterricht einer Erstklässlerin im Kirchenasyl wurde online gestaltet. Nachdem der Lockdown vorüber war, wurden einige Veranstaltungen wieder als Präsenzversanstaltungen, teils mit zugeschalteten Teilnehmern statt. Der arabische Bibelkreis findet ebenfalls online statt, auch wenn die technische Ausstattung von Geflüchteten nicht optimal war. Der Internationale Gospelchor probte per Zoom-Konferenz in den Wohnzimmern der Sängerinnen und Sänger. Alle Mitarbeiterkreise und auch die Gemeindeleitung tagen per Zoom-Konferenz. Der Deutschunterricht wird für einige der Gruppen per Zoom erteilt.
Eine besondere Herausforderung schien die Begleitung von Alten und Einsamen zu sein. Dafür wurde aus dem Besuchsdienst ein Telefonsicher Besuchsdienst. Fast hundert Menschen, von denen man vermutetet, dass sie während des Lockdowns auf Hilfe angewiesen sein könnten, wurden von 40 Freiwilligen zuerst wöchentlich, dann gelegentlich per Telefon kontaktiert. Praktische Hilfe brauchte fast niemand, weil die Nachbarschaften oder Familien das übernahmen. Personen, die Mühe hatten, sich mit ihrem Smartphone oder dem neu erworbenen Tablett in die Gottesdienste der Gemeinde einzuwählen, wurden von einigen jüngeren Mitarbeitern besucht und in die Technik eingewiesen. Trotzdem blieben Menschen übrig, die nicht auf die Technik zugreifen konnten, entweder weil sie zu alt waren oder zum Beispiel im Gefängnis nicht über einen Internetzugang verfügen. Sie wurden wöchentlich mit einem Ausdruck des Gottesdienstes und der Predigt beliefert.
Drei Bereiche waren nicht so leicht ins Internet zu verlegen. Die Seniorengruppe lebt davon, zusammen zu sein. Kaffeetrinken geht im Internet nicht, aber gleich nach Lockerung der Cornoabestimmungen fanden Ausflüge in die Biergärten der Umgebung statt. Der Kindergottesdienst lässt sich ebenfalls nur schwer ohne physische Präsenz durchführen. Hier wurde erst nach einigen Monaten erfolgreich mit Sendungen aus den Räumen der Kinderkirche begonnen, die aufwendig produziert werden. Und schließlich sind Mitgliederversammlungen im Zoom-Format wenig kommunikativ. Hier konnten zwar z.B. Kassenbericht oder ähnliches präsentiert werden. Eine eigentliche Diskussion kam aber nicht zustande, so dass im Rahmen eines Gottesdienstes in der großen Kirche in der Nachbarschaft eine Mitgliederversammlung alle Beschlüsse der vergangenen Monate ratifizierte.
Im Dezember 2020 fand ein Zoom-Treffen Studierenden vor allem der Sozialen Arbeit statt. Alle nehmen regelmäßig an Gemeindeveranstaltungen teil, egal ob persönlich oder per Zoom. Die 10 Teilnehmerinnen und Teilnehmer, die alle zu diesem Zeitpunkt allein online studierten, diskutierten mit dem Gemeindepastor über die künftige Entwicklung kirchlicher Arbeit. Die zentrale These: Die Kirche ist im Digitalen Zeitalter angekommen, wenn sie als Hybride Kirche handelt. Und die zentrale Frage: Wie wird die Erfahrung hybrider Gemeindearbeit in Coronazeiten die weitere Entwicklung der Kirche prägen? Dabei wird unter Kirche vor allem die Ortsgemeinde verstanden.
Hybride Kirche hat einen wachsenden Einzugsraum: Die Hybride Kirche bezieht Menschen mit ein, die nicht am präsentischen Gemeindeleben teilnehmen können, weil sie räumlich zu weit weg leben, beruflich andere Lebensrhythmen haben, physische oder psychische Einschränkungen haben. Im Gegensatz zur Hybriden Kirche sind von präsentische Veranstaltungen viele ausgeschlossen, die nun digital verbunden sein können.
Hybride Kirche kann ihre Versammlungsorte beliebig erweitern. Die präsentischen Aktivitäten an verschiedenen Orten können miteinander vernetzt werden. Damit können sich an weiteren Standorten, oft auch weit entfernt Teilnehmer vor Ort miteinander vernetzen und Angebote online nutzen. Das eröffnet eine Chance neue Gemeindestandorte zu etablieren oder Gemeinden aufrecht zu erhalten, die sonst geschlossen werden müssten.
Hybride Kirche schafft Gleichberechtigung der Nahen und der Fernen: Hybride Gemeindearbeit bezieht alle Seiten mit ein. Während im klassischen Modell entweder nur die präsente Gemeinde als eigentliche oder vollwertige Gemeinde gesehen wurde, kamen zunächst zusätzliche Dienstleistungen hinzu, bei denen z.B. der Gemeindebrief an jene verschickt wurde, die nicht an den Präsenzveranstaltungen teilnehmen konnten. In der Hybriden Gemeindearbeit ist das Kommunikationsgefälle aufgehoben. Auch die Menschen, die nicht präsent sein können, haben die Gelegenheit, aktiv zum Gemeindeleben beitragen zu können. Das war zwar schon in neutestamentlichen Zeiten durch das Medium des Briefes möglich, aber es kann heute ohne zeitliche Verzögerung geschehen.
Hybride Kirche definiert ihre Reichweite nicht mehr räumlich. Ursprünglich begrenzte die Entfernung und die zur Verfügung stehenden Verkehrsmittel den Radius der Gemeinde. Die entscheidende Frage war, ob man in einer überschaubaren Zeit die Strecke von der Wohnung zur Kirche zurücklegen konnte. War die Entfernung zu groß oder der Transport zu kostspielig, nahm man seltener präsentisch teil, gründete eine Filialgemeinde oder besuchte die Gottesdienste einer näherliegenden Kirche einer anderen Konfession. In größeren Städten mit einer guten Verkehrsinfrastruktur bildeten sich im 19. und 20. Jahrhundert Gemeinden nicht nur nach dem Lokalprinzip, sondern auch nach bestimmten Profilen, sozialen Kriterien oder missionarischen Zielen, zum Beispiel als Personalgemeinde oder Stadtmission.
Hybride Kirche ist nur noch durch die Sprache begrenzt, während nationale Grenzen und Entfernungen nur noch eine untergeordnete Bedeutung haben. Die Bedeutung bestimmter theologischer und kultureller Profile nimmt zu, weil der Wechsel von einem Gemeindetyp zum nächsten nur einen Klick auf der Tastatur erfordert. Bisher wichtige Faktoren der Zugehörigkeit, wie die (Familien-)Tradition, konfessionelle Prägung oder gewachsene Beziehungen nehmen in ihrer Bedeutung ab. Der Verlust der historischen Dimension führt zu einer Verflachung der Zugehörigkeit. Gemeinde besteht aus allen jenen, die sich ihr zugehörig fühlen und ihre Angebote nutzen, nicht mehr aus jenen, die einer Parochie zugeordnet werden oder in einem Vereinsregister verzeichnet sind.
Hybride Kirche überwindet Grenzen, richtet aber auch neue auf. Während sich Menschen mit dem notwendigen technischen Knowhow auch über die räumliche Distanz einbringen können, sind technisch nicht begabte oder nicht mit der entsprechenden Hardware ausgestattete in ihrer Kommunikation begrenzt oder ausgeschlossen. Das Versprechen völliger Gleichheit ist illusorisch, wenn nicht die potentiellen Nutzer geschult und mit der nötigen technischen Hardware ausgestattet werden.
Hybride Kirche wird immer auch missionarische Gemeinde sein, die ihre Grenzen aktiv überschreitet. Dabei sind nicht mehr unerreichte Stämme in der Südsee gemeint, wie im 19. Jahrhundert, sondern Menschen ohne Kontakt zum Evangelium. Sie in den Weiten des Internets zu finden, ist eine eigenständige Aufgabe der Kirche. Dabei spielt die aktive Mitwirkung an „Sozialen Medien“ eine wichtige Rolle.
Hybride Kirche steht im Wettbewerb: Sie kann aktiv Mitgliedergewinnung auf Distanz betreiben und so Gemeindegründung im virtuellen Raum betreiben. Sie steht dabei mit zahlreichen anderen Anbietern im Wettbewerb. Neben klassischen Möglichkeiten, Zugehörigkeit auszudrücken, wie durch Überweisung einer Spende, werden die kommunikativen Möglichkeiten in ihrer Qualität über den Unterschied entscheiden. Ein Beispiel: Man neben einem Angebot, Gebetsanliegen schriftlich zu teilen, auch eine Hotline einrichten in der Beter zu einem persönlichen Gespräch zu bestimmten Zeiten oder rund um die Uhr zur Verfügung stehen. Gemeinden mit einem breiteren Angebot haben eine Vorsprung gegenüber Gemeinden mit begrenzten Möglichkeiten.
Hybride Kirche will mehr als Zuschauerkirche sein. Die reine Zuschauerrolle im Hybriden Gemeindeleben ist nicht mit der reinen Gottesdienstbesucherrolle zu vergleichen. Der Gottesdienstbesucher im präsentischen Gemeindeleben trägt allein durch seine Anwesenheit im Raum zum Gemeinschaftserlebnis aller anderen teil. Darum muss in einer Hybriden Gemeindeform versucht werden, dialogisch zu arbeiten.
Hybride Kirche und die ethnische Diversität: Die Zugehörigkeit zu verschiedenen Ethnien lässt sich im präsentischen Gemeindeleben auch über Sprachgrenzen hinweg überwinden, indem Gesten, Berührungen, gemeinsame Mahlzeiten die Verständigungsprobleme mindern. In der digitalen Welt ist das ungleich schwieriger. Hybride Gemeinden neigen möglicherweise dazu, eine sprachliche und kulturelle Homogenität vorauszusetzen. Eine der Voraussetzungen einer Grenzen überwindenden Hybriden Kirche ist die Verwendung einfacher Sprache.
Hybride Kirche verlangt nach einer abgestuften Öffentlichkeit: Hybride Gemeindearbeit findet in geschlossenen, halböffentlichen und öffentlichen Kommunikationsräumen statt. Während z.B. eine Zoom-Konferenz mit angemeldeten Teilnehmern nur eine begrenzte Zielgruppe zusammenbringt, ist z.B. eine Telegram-Gruppe entweder ganz öffentlich oder kann von den Teilnehmern leicht durch Weiterleiten einer Nachricht veröffentlicht werden. Meldungen auf sozialen Netzwerken sind in der Regel völlig öffentlich. Gleiches gilt für die Homepage der Gemeinde.
Hybride Kirche lässt die Bedeutung von Hierarchien geringer werden: Die zentrale Rolle der Leitung verändert sich. Während Pastorinnen, Pastoren und leitende Mitarbeiter im präsentischen Gemeindeleben durch ihre Anwesenheit ein Machtzentrum darstellten, ist die digitale Kommunikation innerhalb der Gemeinde nur bedingt kontrollierbar. Ausnahmen sind die Administrationsrechte in Kommunikationsräumen, die an Stelle des Hausrechts mit Schlüsselgewalt treten und die inhaltlichen Beiträge der Nutzer beschränken oder kontrollieren könne.
Hybride Kirche und die Finanzen: Die finanzielle Mitverantwortung, die klassischerweise neben Kirchensteuer oder Mitgliedsbeitrag durch die Kollekte im Gottesdienst oder (früher) auch in anderen Gemeindeveranstaltungen bewusst gemacht wurde, wird nicht mehr selbstverständlich betont. Hier sind neue Erinnerungsformen nötig, wie eine Spendenkampagne mit einer bestimmten Zielmarke und dem Angebot der Online-Spende.
Hybride Kirche mindert die identitätsstiftende Rolle des Kirchengebäudes. Dies wird eher zur Kulisse oder zum Studio mit Publikumspräsenz. Das wird sich in der Raumgestaltung auswirken (Studioscheinwerfer, Kameras, Kommunikation allein über Audiosysteme). Das Raumangebot muss nicht mehr der Besucherzahl angepasst werden.
Hybride Kirche benötigt Mitarbeiter mit technischem Knowhow. Die Bedeutung der technischen Mitarbeiter nimmt zu. Mediale Kommunikationskompetenz wird zu einer Schlüsselqualifikation. War in präsentischen Zeiten der Hausmeister entweder ein Ermöglicher vielfältiger Veranstaltungen oder ein Verhinderer, der seine Räume sauber halten wollte, sind heute die technischen Mitarbeiter entweder Türsteher oder Ermöglicher.
Hybride Kirche benötigt geschulte Leiter von Präsenzveranstaltungen. Die für die inhaltliche Gestaltung von Angeboten (Verkündigung) Verantwortlichen müssen ihre Veranstaltung so gestalten, dass sie auch im virtuellen Raum miterlebbar sind. Hatte man in den letzten Jahrzehnten zu lernen, dass alle öffentliche Kommunikation im Kirchenraum über die Verstärkeranlage läuft, so dass Audiomitschnitte möglich und Schwerhörige nicht ausgeschlossen sind, ist das nun auf die hybride Situation anzuwenden.
Hybride Kirche kann ihre digitale Kommunikation kann stärker an individuellen Bedürfnissen ausrichten. Ein Beispiel: Fand in präsentischen Zeiten zweimal im Jahr ein Taufkurs statt, der Voraussetzung zur Taufe und Aufnahme in die Gemeinde war, stehen die einzelnen 6 Einheiten nun als 10-minütige Filme zur Verfügung und können unabhängig von zeitlichen und räumlichen Ressourcen genutzt werden. Ein Gespräch über unklare Fragen kann per Video-Konferenz stattfinden und ist nicht mehr an ein persönliches Treffen gebunden.
Hybride Kirche ist immer auch tatsächliches Gemeinschaftsleben. Dazu gehört die physische Präsenz, die sich in Anwesenheit und der gemeinsamen Feier (Abendmahl, Liebesmahl in Form des Kirchenkaffee) und der körperlich erlebten Taufe oder Segnung unter Handauflegung manifestiert. Hier ist die Achillesferse der Digitalen Kirche. Zinzendorfs Spruch „Ich konzertiere kein Christentum ohne Gemeinschaft“ verlangt die Ausbildung neuer physischer und/haptischer Gemeinschaftserlebnisse. Alle Angebote müssen auf eine mögliche präsentische Teilnahme am Gemeindeleben ausgerichtet sein. So wie alles, was vor Ort in der Kirche stattfindet auch digital zur Verfügung steht, soll auch alles, was virtuell geschieht eine persönliche Präsenz ermöglichen. Beispiele könnten sein:
Der Versand von Brot und Kelch per Lieferdiensten. In präsentischen Zeiten wurde z.B. das Abendmahl zu den Kranken gebracht, so dass sie trotz räumlicher Distanz an der Mahlfeier teilnehmen konnten. Die Verbundenheit kann durch Symbole im Wohnraum ausgedrückt werden: Ein Foto des Kirchengebäudes, ein gemeinsam verwandtes Kreuz, das in allen Wohnungen von Zugehörigen hängt und nicht nur an Christus sondern auch an die versammelte Gemeinde erinnert. Hier sind auch kleine Formen zu nutzen, wie das Angebot eines Bildschirmschoners, der Bilder aus dem präsentischen Gemeindeleben bietet. Das Nähen von Mund-/Nasen-Bedeckungen zu Beginn der Corona-Pandemie war eine notwendige Solidaritätsaktion, die sowohl den nähenden Helfern, wie auch Empfängern ein Gefühl von Zugehörigkeit vermittelt hat.
Hybride Kirche schafft Begegnungsräume: Die leibliche Anwesenheit eines Menschen kann heilsam sein (so zum Beispiel im Gedicht von Wilhelm Willms, Wussten sie schon…?) Das weiß man aus den Zusammenhängen von Gesundheit und Spiritualität. Einer rein virtuellen Gemeinde fehlt damit wesentliches. Die Hybride Kirche wird darum immer auf die punktuelle präsentische Begegnung hinwirken. Das muss nicht unbedingt der Sonntagsgottesdienst sein, sondern kann auch eine Klosterzeit sein, eine Gemeindefreizeit, eine Pilgerwanderung oder ein besonderer Gottesdienst.
Hybride Kirche muss auch Kinder einen Raum geben. Ein Kindergottesdienst ohne präsentische Gruppenerfahrung ist noch eine offene Baustelle. Hier könnte von Fernunterrichtsmodellen gelernt werden. Die Familie (vor dem Bildschirm) wird wieder zu einem zentralen Ort religiöser Bildung.
Hybride Kirche und ihre Seelsorge leben zu einem großen Teil von der Begegnung. Derjenige der offen ist, anderen seelsorgerlich zur Seite zu stehen, braucht ein offenes Ohr. Mit der nötigen Empathie ausgestattet kann man dem Seelsorgesuchenden das Angebot konkreten Gesprächs („Wie geht es dir? Willst du darüber reden?“) oder des symbolischen Handelns (spontanes Handhalten, Zuspruch eines Segens) anbieten. Hybride Gemeinde wird entdecken müssen, wie Empathie auch im virtuellen Raum gelingen kann.
Hybride Kirche ist auch in der Bildungsarbeit präsent. In der Bildungsarbeit wie auch in der Arbeit kreativer Teams waren in den letzten Jahren Arbeitsformen üblich, die eine kreative Zusammenarbeit in Kleingruppen mit Hilfe z.B. von Moderationsmaterialien üblich. Die Anwendung entsprechender Programme im hybriden Raum muss geübt werden. Besonders das Zusammenspiel von präsenten und zugeschalteten Teilnehmern muss trainiert werden. Hier könnte zum Beispiel ein „Anwalt der virtuellen Teilnehmer“ deren Interessen in der Präsenzveranstaltung wahren.
Hybride Kirche stellt für die Datenschutzregeln ein neues bedeutendes Aufgabenfeld dar. Ob für die Hybride Gemeinde die geltenden Datenschutzregeln ausreichen oder praktikabel sind, müsste geprüft werden. Erfahrungen in der aktuellen Phase der Corona-Pandemie wie sie mit CCLI für die Lizenzen der Liedübertragungen im Internet gegeben waren, müssen fortgeführt bzw. weiterentwickelt werden.
Hybride Kirche ist ein Raum für eine freie Kommunikation: Damit eine dialogische Kommunikation stattfinden kann, die persönliche Begegnungen ersetzen kann, müssen Foren angeregt und am Leben erhalten werden. Denkbar wären auch „Offene Abende“ oder „Offene Geburtstage“, bei denen für einen begrenzten Zeitraum ein „Gastgeber“ im Vordergrund steht. Das kann als Video oder auch als Textchat ablaufen.
Hybride Kirche benötigt Inhalte: Content entsteht nicht von allein. Damit nicht nur jene, die gerne ihre Ideen etc. präsentieren, die Inhalte bestimmen, ist journalistische Arbeit notwendig. Dafür müssen Inhalte aus dem Gemeindeleben oder dem Leben der Mitglieder aufbereitet und sendefähig gemacht werden.
Hybride Kirche bietet neue Geschäftsfelder: Der digitale Teil der Hybriden Kirche ist in seinen Strukturen beliebig reproduzierbar. Hier haben sich neue Geschäftsfelder für Nonprofit- und Profitorganisationen aufgetan, die Internetseiten etc. zur Verfügung stellen und dabei auch Contentbausteine anbieten. Es entwickelt sich an Markt für „Gemeindearbeit von der Stange“: Während in der rein präsentischen Gemeinde vieles grundsätzlich selbstgemacht wird, treten in der Hybriden Kirche die Chancen „zugekaufter“ Gemeindearbeit in den Vordergrund. Was in der präsentisch gelebten Gemeinde z.B. durch das Catering für das gemeinsame Essen ist, oder die Nutzung von Folien für die PowerPoint Präsentation, ist im digitalen Bereich die Software.
Hybride Kirche führt zum Bekenntnis: In der Hybriden Kirche ist die Bereitschaft, die eigene virtuelle Identität preiszugeben, z.B. in der Einwahl in eine Telegram-Gruppe, ein Akt der Zugehörigkeit signalisiert. Er hat Bekenntnischarakter.
Hybride Kirche lebt von einem sicheren Gesellschaftlichen und politischen Umfeld. Nur so kann man es sich leisten, als öffentliche Person virtuelle Gemeinschaft zu leben. Wer in einer Umgebung lebt, die durch Überwachung und Kontrolle geprägt ist, wie in China, der muss entweder den virtuellen Raum meiden oder ein sehr hohes Risiko auf sich nehmen, für seinen Glauben belangt zu werden. Hier wird die präsentische Gemeindearbeit in kleinen Gruppen einen wesentlich höheren Sicherheitsstandard bieten.
Kassel, 9. Dezember 2020
Pastor Frank Fornaçon, Pastor der Evangelisch-Freikirchlichen Gemeinde Kassel-West, Kommunikationswirt für kirchliche Öffentlichkeitsarbeit und Verleger (u. a. Zeitschrift ChrisCare, Magazin für Spiritualität und Gesundheit)