»Ein methodisches Grundproblem der neueren deutschsprachigen Konfessionalisierungsforschung besteht darin, dass hier Luthertum, Reformiertentum und tridentinischer Katholizismus, nicht jedoch Katholizismus, Protestantismus und östliche Orthodoxie miteinander verglichen werden. Das bedeutet, dass die sich auf engem Raum auswirkenden Mechanismen konfessioneller Konkurrenz die Ergebnisse des Vergleichs beeinflussen bzw. vorbestimmen.«
Das Orthodoxe Christentum wird kaum in seiner großräumigen Verflochtenheit, ja in seiner inhärenten Zusammengehörigkeit und geschichtlichen Konkomitanz mit dem konfessionalisierten Christentum der Latinitas untersucht.
Das liegt meines Erachtens auch daran, dass sowohl orthodoxe als auch nicht-orthodoxe Forschungen zu wenig den Bezug des Orthodoxen Christentums zur Geschichte problematisiert haben. Im Folgenden möchte ich dies anhand der Auseinandersetzung mit dem Orthodoxen Christentum bei deutschen lutherischen und bei russisch- oder rumänisch-orthodoxen Autoren vergleichend veranschaulichen. Im ersten Schritt skizziere ich im Kontext der historischen Entwicklung des Fachs »Symbolik« bzw. »Konfessionskunde« verschiedene Zugriffe auf die »orthodoxe« oder »griechische« oder »anatolische Kirche« (ἀνατολική ὀρθόδοξη ἐκκλησία). Im zweiten Schritt zeige ich anhand orthodoxer Autoren, wie die Orthodoxie als übergeschichtliches, zeitloses, authentisches Fortbestehen der Urkirche verstanden wird und damit ein anderes Verhältnis zur Geschichte des Christentums artikuliert. Der Vergleich stellt wegen Platzgründen keinen Forschungsstand dar. Er orientiert sich an Meilensteinen der Fachliteratur aus dem lutherischen und orthodoxen Bereich des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts, die im Grunde ein gesamtes akademisches Fach etablieren und somit paradigmatischen Wert besitzen. Der Beitrag endet mit dem methodischen Vorschlag eines goldenen Mittelweges einer historisch bestimmten Religionsgeschichte in der Erforschung des Orthodoxen Christentums, die fähig wäre, aufgrund einer kontextuell gebundenen Heuristik des Konfessionellen dieses in die verflochtene Geschichte des gesamteuropäischen Christentums zu integrieren.
Symbolik, Konfessionskunde und das Orthodoxe Christentuma)
Der Kirchenhistoriker Ferdinand Kattenbusch (1851–1935) schrieb in seinem Lehrbuch der vergleichenden Confessionskunde: »Es ist kein Ungedanke, sondern die wahrscheinlichste Betrachtung, dass die jüngste Bewegung, die sich durchzusetzen gewusst, die reifste Frucht ist«. Mit »jüngster Bewegung« und »reifste Frucht« meinte er den Protestantismus. Diesen betrachtete Kattenbusch im Vergleich zu den anderen Konfessionen als die am weitesten fortgeschrittene Form des christlichen Glaubens; die dritte, fast vollkommene Stufe nach dem orthodoxen (erste rudimentäre Stufe) und dem römisch-katholischen Glauben (Mittelstufe). »Die Kirche schlechthin ist diejenige Religionsgemeinschaft, die ihren Glauben an das Evangelium als solches hat […] und ihr religiöses Leben nach diesem Maßstab führt.« Gemessen am »Maßstab des Evangeliums« erscheinen die Kirchen als Stufen der Nähe zur zentralen Norm der Heiligen Schrift. An der Spitze steht der Protestantismus mit seinem sola-scriptura-Prinzip.
Die Konfessionskunde ist eine lutherische Disziplin par excellence. Sie entwickelte sich aus der Symbolik, die sich im 18. und frühen 19. Jahrhundert mit der Erläuterung von dogmatischen Lehrsätzen beschäftigte, die in Symbolen und Glaubensbekenntnissen enthalten sind. Sie wurzelte in Bernhard von Sandens Traktat Theologia Symbolica Lutherana von 1688. Johann Georg Walch (1693–1775) behandelte in seiner Bibliotheca theologica aus dem Jahr 1757 neben den symbolischen Büchern der Lutheraner auch jene der Katholischen, der Reformierten, der Orthodoxen usw. – erste Versuche also einer vergleichenden Symbolik, noch vor den Symboliken der römisch-katholischen Theologen Johann Adam Möhler (1796–1838) von 1832 und Bernhard Joseph Hilgers (1803–1874) von 1841. Friedrich Loofs (1858–1928) aber unterstrich: »Diese Disziplin ist auf römisch-katholischem Boden nicht heimisch geworden«. Recht früh beschäftigten sich lutherische Gelehrte auch gezielt mit dem Orthodoxen Christentum, beispielsweise die Oratio de statu ecclesiae in Graecia, Asia, Africa, Bohemia des David Chyträus (1530–1600) aus dem Jahr 1575. Gezielt mit orthodoxer symbolischer Theologie beschäftigten sich Johann Leonhard Frisch (1666–1743) in seinem Liber symbolicus Russorum von 1727 oder Ernst Julius Kimmel (1812–1846) in den Libri symbolici ecclesiae orientalis von 1843.
Die Trennlinie zwischen Symbolik und Konfessionskunde ist fein, wenn es überhaupt eine gibt. Die Symbolik befasst sich (nicht ausschließlich) mit Dogmen und »abstrakten Ideen«, die in den Glaubensformeln (d.h. in Symbola, Bekenntnisschriften) der christlichen Kirchen symbolisch aufgenommen wurden. Das bedeutet, dass die symbolische Theologie a) weniger historisch, sondern vielmehr systematisch, apologetisch und polemisch erscheint, und dass sie sich b) auf alle Kirchen bezieht, solange diese Dogmen besitzen, während sich die klassische Konfessionskunde nur mit den Konfessionskirchen befasst. Die Konfessionskunde hingegen ist a) vergleichend, historisch-deskriptiv und auf die lehrmäßige und historische Entwicklung bedacht und betrifft b) nur die konfessionell verfassten Kirchen. Deshalb wäre z. B. das Nicaeno-Constantinopolitanum als allgemeines christliches Symbolon Gegenstand der Symbolik, da es von allen Kirchen anerkannt wird, und weniger Gegenstand der Konfessionskunde, die sich auf konfessionelle Glaubensformeln und deren konfessionsbildende Kraft konzentriert (z. B. das Synodikon der Orthodoxie von 843, die Confessio Augustana von 1530, die Professio fidei Tridentina von 1564, die Confessio Gallicana von 1559 oder die Thirty-Nine Articles der Kirche von England von 1571). Als christliche Konfessionskirchen werden also von den älteren (und auch m.E. wichtigsten) Abhandlungen der Konfessionskunde aus dem 19. Jahrhundert die Orthodoxe Ostkirche, die lutherische Kirche, die reformierte Kirche, die Kirche von England und die römisch-katholische Kirche berücksichtigt, die Friedrich Loofs als »christliche Hauptparteien« bezeichnete.
»Die symbolische Theologie und die Polemik der Lutheraner behandelten in ihrer Gegenüberstellung alle Formen des Christentums, die den Theologen der damaligen Zeit in den Blick kamen, vom Standpunkt einer intellektualistischen [lutherischen] Orthodoxie aus, die ihre Lehre als das wahre Christentum betrachtete«,
zeigt Friedrich Loofs. Ein Beispiel: Johann Michael Heineccius (1674–1722) veröffentlichte 1711 eine Abbildung der alten und neuen Griechischen Kirche nach ihrer Historie, Glaubens-Lehren und Kirchen-Gebräuchen. Dort hieß es im Anschluss an Patriarch Jeremias II. (1572–1579, 1580–1584, 1587–1595),
»die heilige Kirche Gottes in Griechenland sey das Vaterland [aller] Kirchen und habe durch Gottes Gnade einen großen Vorzug an der Erkenntnis […], sie rühme sich ihrer Lauterkeit in der Liebe der Apostolischen und väterlichen Satzungen...«
Von diesem erhabenen Zustand sei die »Kirche in Griechenland« allerdings abgefallen. Sie habe in späterer Zeit die Rechtfertigung nicht mehr ausschließlich im von Gott geschenkten Glauben gesucht, sondern in menschlicher Werkgerechtigkeit, wie sie sich z.B. in Mönchtum oder Heiligen- bzw. Ikonenverehrung zeigte. Heineccius sah also das Orthodoxe Christentum in einer Geschichte der Dekadenz begriffen, von der ursprünglichen Gerechtigkeit durch Glauben hin zur verwerflichen Werkgerechtigkeit.
Wilhelm Gaß (1813–1889), Autor einer Symbolik der griechischen Kirche (1872), hat sich auf eine Debatte mit Ferdinand Kattenbusch hinsichtlich der Orthodoxie in ihrem Verhältnis zur Geschichte eingelassen. Kattenbusch stellte das Orthodoxe Christentum als Konfession dar, deren hauptsächliche Bekenntnisschrift das Nicaeno-Constantinopolitanum des 4. Jahrhunderts sei. Er implizierte somit, dass sich die Orthodoxie historisch nicht sehr viel weiterentwickelt habe. Gaß betonte dagegen, dass die Orthodoxie als Konfessionskirche durch die Umwälzungen existiere, welche die europäische Reformation und Gegenreformation des 16. und 17. Jahrhunderts verursacht hätten. Diese Prozesse hätten die Orthodoxe Kirche, die sowohl von Protestanten als auch von den Römisch-Katholischen unter Druck gesetzt worden sei, genötigt, ihre Glaubensidentität, ja ihre konfessionelle Identität in den orthodoxen Glaubensbekenntnissen des 17. Jahrhunderts darzulegen (z.B. die Confessio fidei des Kiever Metropoliten Peter Mogila [1633–1647] aus dem Jahr 1643 oder das Glaubensbekenntnis des Patriarchen Dositheos von Jerusalem [1669–1707] von 1672). Deswegen müsse man sich, wenn man Konfessionskunde der Orthodoxie betreibe, auf diese Bekenntnisse konzentrieren, denn sie bildeten die konfessionellen Dokumente einer konfessionalisierten Orthodoxie. Diese frühmoderne und moderne Orthodoxie unterscheide sich, so Gaß, von der Orthodoxie des Oströmischen Reichs oder der späteren byzantinischen Reichskirche. So unterliegt für Gaß das Orthodoxe Christentum einer historischen Entwicklung, die es in dynamischer Auseinandersetzung mit den Konfessionen der Latinitas nach dem 16. Jahrhundert dazu führte, ebenfalls konfessionelle Charakteristika zu entwickeln.
Festzuhalten ist, dass lutherische Kirchenhistoriker und Konfessionskundler das Orthodoxe Christentum als eine dem zeitlichen Werden unterworfene Konfession betrachteten, sei es als Subjekt einer Geschichte der Dekadenz (wie u.a. bei Heineccius), der Stagnation (wie bei Kattenbusch) oder der Entwicklung (wie bei Gaß).
Das Orthodoxe Christentum in der Selbstwahrnehmung
Aufgrund des Anspruchs, allein im Besitz der »Wahrheit« zu sein (ἡ ἀλήθεια, wie in Joh 14,6 gemeint), bekennt sich die orthodoxe Kirchenlehre zu dem einen wahren Glauben und stellt die anderen Kirchen als von der Wahrheit abweichend infrage. Denn die Orthodoxe Kirche versteht sich als Bewahrerin der Wahrheit in der ekklesialen Erweiterung der Inkarnation Jesu Christi durch das Wirken des Heiligen Geistes im sakramentalen Geheimnis, μυστήριον (mysterion), der Eucharistie. Diese alleinige Wahrheit wird in der sogenannten »Heiligen Tradition« (ἱερά παράδοσις) bewahrt, die die Orthodoxie untrennbar mit der Zeit der Apostel und dem Goldenen Zeitalter dogmatischer Reinheit in der christlichen Ökumene des Römischen Reiches verbindet. Athanasius von Alexandrien (300–373) spricht in seinem ersten Brief an Serapion von dieser Tradition: »Lasst uns gleichwohl auch auf die Überlieferung von alters her schauen sowie auf die Lehre und den Glauben der Gesamtkirche, die von Christus gegeben, von den Aposteln gepredigt und von den Vätern bewahrt wurden. Darin hat die Kirche ihr Fundament«. Im Synodikon der Orthodoxie aus dem 9. Jahrhundert heißt es: »Anathema auf Alles, was neu ist und Alles, was gegen die kirchliche Tradition, gegen die Lehre und gegen die Normativität der heiligen und verehrten Väter praktiziert wird oder werden sollte«. Die Heilige Tradition bezieht sich im Orthodoxen Christentum auf das Zeitalter der sieben ökumenischen Konzilien zwischen 325 und 787. Sie betont ihre einzigartige und privilegierte Verwurzelung in der Christus-nahen, apostolischen und universalen rechtgläubigen Kirche. Begriffe wie »ὀρθοδοξέω«, »ὀρθοδοξία« oder »ὀρθόδοξος« wurden von griechischen Autoren wie Eusebios von Caesarea oder Methodios von Olymp im 4. Jahrhundert im direkten Bezug zum »rechten« offiziellen Glauben der Kirche im Gegensatz zu Häresien verwendet.
Zur Bezeichnung einer spezifischen Kirchlichkeit wurde der Begriff »orthodox« erst ab dem 9. Jahrhundert, wie Peter Hauptmann (1928–2016) zeigte:
»Entscheidend für [die] kirchliche Ausprägung [des Orthodoxiebegriffs] wurde 843 die Stiftung des Festes der Orthodoxie als Abschluss des Bilderstreits. Es fällt auf den 1. Fastensonntag und ist mit der Verlesung des sog. Synodikons der Orthodoxie verbunden, in dem alle bisherigen Lehrverurteilungen wiederholt und ggf. durch neue Anathematismen ergänzt werden. Dadurch erfuhr der Orthodoxiebegriff […] seine vorrangige Verbindung mit den Ostkirchen; denn die abendländische Christenheit hat dieses Fest der byzantinischen Reichskirche nicht mit übernommen.«
Diese Kirchen bezeichnen sich selbst auch als »Orthodoxe Kirchen der sieben ökumenischen Konzilien« und unterscheiden sich somit von anderen Ostkirchen oder (Alt-)Orientalischen vor- und nicht-chalkedonischen Kirchen.
Im Sinne des bisher Gesagten ist nachvollziehbar, dass die Quellen der vergleichsweise wenigen orthodoxen Symboliken in den dogmatischen Entscheidungen der frühen Kirche und in den frühneuzeitlichen Glaubensbekenntnissen bestehen, wie jene der orthodoxen Synoden in der Moldau 1643 oder Jerusalem 1672. Orthodoxe Abhandlungen der Symbolik, wie jene des Georgios Karydes und des Ioannis Mesoloras, sind Kompilationen alten dogmatischen Materials. Ihr methodischer Ansatz besteht im Wiedergeben und Erläutern von Dogmen. Sie gehen kaum auf die Prozesse ein, die solche dogmatischen Formeln hervorgerufen haben. Nicht zufällig trägt die orthodoxe Symbolik des rumänischen Bischofs Irineu Mihălcescu (1874–1948) aus dem Jahr 1904 den Titel Θησαυρός τῆς Ὀρθοδοξίας, d.h. »Schatzkammer der Orthodoxie«, ein Speicher, in dem wertvolle alte Sachen aufbewahrt und vor Verfälschung bewahrt werden.
Der rumänische Theologe Nicolae Chițescu (1904–1991) sprach von einem »orthodoxen Geist, gestern, heute und für immer, immer aktuell, immer lebendig, der sich sub specie aeternitatis spiegelt und der gegen jede heterodoxe Konfession oder Sekte steht, jenseits von Zeit und Raum.« Wenn man das Wesen einer christlichen Kirche kennen möchte, müsste man sich den ahistorischen dogmatischen Wahrheiten zuwenden, und nicht dem historisch kontingenten Leben der Religionsgemeinschaften. Der vielleicht einflussreichste russische Theologe, Georges Florovsky (1893–1979), schrieb:
»Indeed, the Orthodox are bound to claim that the only ›specifics‹ or ›distinctive‹ feature about their own position in ›divided Christendom‹ is the fact that the Orthodox Church is essentially identical with the Church of all ages, and indeed with the ›Early Church‹, die Urkirche. In other words, she is not a Church but the Church«.
Es gibt orthodoxe Theologen, die die akademische Disziplin der Symbolik als Zeichen der »Verwestlichung« ablehnen (u.a. der erwähnte Florovsky, der gerne den Begriff westernization in seinen Schriften verwendet). In ihr sehen sie eine Bestrebung, unterschwellig die Idee des konfessionell-pluralisierten Christentums auszubreiten und somit glaubhaft zu machen, dass es parallele und gleichberechtigte Modi der Annäherung an die christliche Wahrheit gebe. Beim russischen Theologen Nicholas Glubokovsky (1863–1937) heißt es:
»Die Orthodoxie hat keine ›symbolischen Bücher‹ im technischen Sinn des Wortes. Das ganze Gerede über sie ist äußerst bedingt und entspricht nur den westlichen konfessionellen Schemata, im Gegensatz zum Wesen und zur Geschichte der Orthodoxie. Sie hält sich für die richtige oder authentische Lehre Christi in ihrer ganzen Ursprünglichkeit und Unverfälschtheit.«
Indem solche Autoren die Bindung der Orthodoxie an jedwede Autorität »symbolischer Bücher« ablehnen – sie erkennen ja nur die Heilige Schrift und die Väter als autoritativ an –, entziehen sie die Orthodoxie implizit dem Zugriff der Symbolik bzw. Konfessionskunde, einer westlichen Entwicklung, die durch die konfessionelle Spaltung des Glaubens hervorgerufen wurde.
Um zusammenzufassen: Wenn die Idee einer Konfessionskunde überhaupt akzeptiert wird, unterscheidet sich die Konzeption einer orthodoxen symbolischen Theologie von der Methodik der Konfessionskunde, die sich allen Aspekten der Konfessionen (dogmatisch, praktisch, existentiell, kulturell usw.) zuwendet. Die orthodoxe symbolische Theologie impliziert, dass sich Dogma und Lehre der Kirche im Laufe der Zeit nicht ändern. Daher unterliegen sie auch nicht dem zeitlichen Werden und den verschiedenen historischen Konstellationen.
Ausblick
Die Konfession, verstanden als kirchliche Körperschaft, stellt die Ordnung einer christlichen Religionsgemeinschaft dar. Diese Ordnung wird sichtbar in dem Repräsentationsanspruch der spezifischen Heilsgeschichte, die diese Gemeinschaft mit Gott zu haben meint. Konfession macht in der eigenen Wahrnehmung sichtbar, wie man sich vorstellt, zu Gott, der Welt und den Menschen zu stehen. Alle christlichen Konfessionen glauben, dass sie in der »wahren« Geschichte Gottes mit den Christen wurzeln. Sie stellen ferner den Anspruch, diese Geschichte in ihrem eigenen Glaubensleben aufrecht zu erhalten. Alle christlichen Konfessionen verstehen sich als im wahren und reinen Glauben der ersten christlichen Jahrhunderte verwurzelt, den sie sich der eigenen Heilsgeschichte entsprechend konstruieren. Sie sind Subjekte des objektiven Postulats eines ursprünglichen sogenannten »Goldenen Zeitalters« der christlichen »Einheit«. Somit kann man hier vom universellen Moment der Konfessionen sprechen. Dem universellen Moment folgt das zeitliche Moment zwischen den imaginierten Wurzeln im Goldenen Zeitalter und der Realisierung von unlösbarer Differenz zu anderen christlichen Konfessionen. Anders gesagt, man bedarf einer kürzeren oder längeren Zeitspanne, um sich seiner Eigenartigkeit und seines Andersseins im Vergleich zu anderen gewahr zu werden und diese dann in unterschiedlichen Formaten aufzuarbeiten und festzuhalten. In dieser dazwischen liegenden Zeit findet die eigene geglaubte Heilsgeschichte Konkretisierung, beispielsweise in doktrinärer Untermauerung, Schriftproduktion, Polemik gegen die Anderen und in der kultischen Praxis.
Die spezifisch eigene Heilsgeschichte (nach den obigen subjektiven Parametern) wird durch Institutionen wie Dogma, Ämter, Recht, Kultus stabilisiert, eventuell in konfessionellen Konflikten verteidigt und mit der Veröffentlichung einer schriftlichen confessio fidei abgeschlossen. Die confessio fidei bildet somit das konfessionelle Moment. So stellen auch die Confessio Augustana (1530) oder die Professio fidei Tridentina (1564) – von außen betrachtet und nicht in der Eigenwahrnehmung! – Abschlüsse konfessioneller Etablierung dar. Das konfessionelle Moment bedeutet somit nicht den Beginn der konfessionellen Ausdifferenzierung, sondern die Intensivierung, Etablierung und Institutionalisierung eines konfessionellen Selbstbewusstseins, sozusagen die »Scheidungsurkunde«. Sie macht die konfessionelle Spaltung unumkehrbar.
In diesem Sinne ist die Konfession ein abgeschlossenes synodal (oder gemeinschaftlich) sanktioniertes, konsensual internalisiertes und praxisgestaltendes Lehrgerüst mit religiöser und gesellschaftlicher Verbindlichkeit und Wirksamkeit. Dieses Verständnis ist dezidiert der Auffassung einer im ewigen Wandel der Kultur verhafteten Bildung und einer historisch kontingenten Ambiguität von Konfessionen als kulturhistorischen Konstruktionen entgegen zu halten. Es sollte allerdings nicht bedeuten, dass Konfession außerhalb ihrer historischen Entstehung ausgeleuchtet werden kann: Denn die Glaubensspaltung, also das historische Ereignis, ist der fundamentale Vorgang, der Prozesse von Konfessionsbildung und Konfessionalisierung in Gang setzt, wie Ernst Walter Zeeden (1916–2011) in seinen Arbeiten zur Konfessionsbildung feststellte. In dieser Hinsicht muss die Forschung noch erarbeiten, inwiefern die größte Glaubensspaltung des Mittelalters, das Schisma von 1054, zwischen der byzantinischen Reichskirche und der lateinischen Papstkirche möglicherweise doch konfessionell-analoge Folgen hatte, wie manche Forschungen nahelegen. Dabei soll nicht behauptet werden, dass jede Glaubensspaltung in der Geschichte der Christenheit (etwa die Spaltung der Miaphysiten von der Reichskirche im 5. und 6. Jahrhundert) durch die Heuristik des Konfessionellen beleuchtet werden kann.
All diese Momente (universell, zeitlich, konfessionell) trugen historisch dazu bei, dass eine (nach ihren eigenen Kriterien imaginierte) Heilsgemeinschaft, eine communio sanctorum, zur Konfession wurde. Konfessionsbildung ist ein abgeschlossener Prozess, im Gegensatz zum kulturellen Leben der Konfessionen. Jede Konfession ist ein kirchlicher Körper, eine Kirche. Weil es nur einen Gott und implizit eine einzige Wahrheit gibt, hat man in umkämpften Legitimationsansprüchen andere parallele Heilsgeschichten oder Heilsgemeinschaften aus Sicht der einzelnen Konfessionen logischerweise nicht (oder nur bedingt) als wahr akzeptiert. Aus der subjektiven Sicht der jeweiligen Heilsgemeinschaft (z.B. in unserem Fall, der Orthodoxen) waren sie Häretiker oder Schismatiker und müssten zu der einen Wahrheit gebracht werden. Das machte jede Konfession politisch relevant, insbesondere in Prozessen der Staatsbildung. Staatliche Strukturen gestalteten Konfessionen, um ihre Macht zu stabilisieren, und Konfessionen gestalteten Staaten, um den politischen Unterbau für ihre eigene Heilsgeschichte zu gewinnen. Ich schlage also vor, die Konfession wie die Historiker Wolfgang Reinhard und Heinz Schilling in ihrer staatsbildenden Relevanz zu denken, ein sozialgeschichtlicher Ansatz, der nicht neu ist, sondern bereits in Zeedens Konzept der »Konfessionsbildung« in nuce steckte. Ich würde diesen historiographischen approach im Blick auf die staatsbildende und -stabilisierende Kraft des institutionalisierten Glaubens auf den Begriff der »Konfession« anwenden, um seiner sonstigen Verflüssigung in einem zu breiten Konfessionsbegriff entgegenzusteuern.
Ich habe im Laufe dieses Beitrags zwei Auffassungen zum Verhältnis der Orthodoxie zur Zeitlichkeit, zur Geschichte skizziert: einerseits anhand der akademischen Beschäftigung mit dem Orthodoxen Christentum im deutsch-lutherischen Bereich, andererseits in der Selbstwahrnehmung orthodoxer Theologen. Es wird daher wenig überraschen, dass ich mich für eine via media als Zukunft der Ostkirchenkunde in ökumenischer Perspektive ausspreche.
Die Orthodoxie hat Recht. Ihr Dogma – gemeint ist das trinitarische oder christologische Dogma – hat sich seit der Frühkirche nicht geändert. Es hat sich übrigens auch im Luthertum oder im Katholizismus nicht geändert, die sich ebenfalls zum selben Dogma bekennen. Das Orthodoxe Christentum hat aber im Laufe der Geschichte unter dem Einfluss verschiedener historischer Konstellationen einen spezifischen Bezug zu diesem dogmatischen »Schatz« entwickelt, der die Orthodoxie von anderen christlichen Konfessionen unterscheidet. Ich denke, dass die Anwendung der in der deutschen Historiographie entwickelten Heuristik des Konfessionellen (mit Semantikfeldern wie Konfession, Konfessionsbildung, Konfessionskultur, Konfessionalisierung usw.) auch im Blick auf das Orthodoxe Christentum Potential hat. Solche Ansätze stehen noch am Anfang. Erste Studien zur Konfessionalisierung Polen-Litauens oder der Rus im 16. und 17. Jahrhundert wurden, allerdings von Historiker_innen, bereits geschrieben. Man erinnert sich an die Studien von Alfons Brüning, Stefan Plaggenborg und Klaus Buchenau im deutschsprachigen Raum bzw. Serhii Plokhy oder Barbara Skinner im angloamerikanischen. Diese verstehen die Orthodoxie als eine unter anderen Konfessionen des europäischen Christentums; jene religiös, gesellschaftlich, politisch und kulturell relevanten kirchlichen Körperschaften, die in ihrer konfessionellen Konfiguration als autoritäts-, macht- und staatsbestimmende Instanzen wirkten.
Um zum anfänglichen Zitat zurückzukehren: Eine konfessionelle Geschichte des europäischen Christentums ohne die orthodoxe Konfession ist unzureichend. Die Einsetzung der Heuristik des Konfessionellen bei der Annäherung an christlich-binnenreligiöse Differenzierungsprozesse, von denen die Orthodoxie ein Teil ist, kann meines Erachtens die beiden skizzierten Ansätze fruchtbar verbinden. Weil wir vom »europäischen Christentum« sprechen, müssen folglich die orthodoxen Traditionen Europas in die Betrachtung dieser Dynamik einbezogen werden und sie müssen sich einbeziehen lassen. Es bleibt die wichtige Aufgabe weiterer Studien zu zeigen, inwiefern das Orthodoxe Christentum eine Konfession ist, welche Bekenntnisschriften es hat, welche Horizonte der Konfessionskultur es artikulierte oder ob es vielleicht gar eine Konfessionalisierung durchlebt hat.
Unter redaktioneller Mitarbeit von Marion Bechtold-Mayer
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