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Selbstbestimmung und Vulnerabilität im Zusammenhang von Prostitution und Menschenhandel

Published onJun 21, 2022
Selbstbestimmung und Vulnerabilität im Zusammenhang von Prostitution und Menschenhandel
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Analysen zu einem sozialethisch verantworteten Diskurs in Diakonie und Kirche1

Das Thema Prostitution und Menschenhandel birgt Konfliktpotenzial. Dieses liegt darin begründet, dass im Zusammenhang mit Menschenhandel gravierende Menschenrechtsverletzungen auftreten und dass auch im Bereich der legalen Sexarbeit gesundheitliche Risiken und gesellschaftliche Stigmatisierungen festzustellen sind. Tiefgreifende sexualethische und kriminologische Implikationen erhöhen die soziale Bedeutung der Fragestellung und erklären die Vehemenz, mit der die Diskussion um den angemessenen gesellschaftlichen und gesetzgeberischen Weg geführt wird. Die Unauflösbarkeit der Dilemmata, der ethischen wie auch juristischen, die der Prostitution innewohnen, lassen keine einfachen Lösungen erwarten, sondern vielmehr nur annähernd gute Lösungen. Diese allerdings sind im wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Diskurs mit Nachdruck zu bearbeiten angesichts der Schwere des Leids, das vor allem Frauen, aber auch Männer und Kinder durch sexuelle Ausbeutung, Zwangsprostitution und durch Menschenhandel erfahren.

In diesem Beitrag wird dem Phänomen ‚Sexarbeit‘ in einer Zusammenstellung wissenschaftlicher Daten nachgegangen, dabei wird ein Augenmerk auf den Zusammenhang von Prostitution und Menschenhandel liegen. Auf der Basis von internationalen Vergleichsstudien wird nach wirksamen Lösungen zum Schutz von Menschen gefragt, die in der Sexarbeit ausgebeutet werden. Es wird gefragt, ob mit der Einführung des Prostitutionsgesetzes (ProstG) und des Prostituiertenschutzgesetzes (ProstSchG) ein Weg beschritten wurde, der diejenigen, die in der Prostitution arbeiten und diejenigen, die unter Bedingungen von Menschenhandel und Zwangsprostitution sexuelle Dienste anbieten, wirksam vor gesellschaftlichen Stigmatisierungen, sexueller Ausbeutung und Gewalt schützt. Diakoniewissenschaftliche und sexualethische Überlegungen werden in die Darstellung einfließen.

1. Vertiefte Betrachtung Ziele und Zielerreichung durch Legalisierung im ProstG und ProstSchG in Deutschland

1.1 Ziele und Zielerreichung in Deutschland

Mit der Einführung des Prostitutionsgesetzes (ProstG) 2002 in Deutschland war die Erwartung verbunden, für Frauen und Männer, die in der Prostitution arbeiten, verbesserte Lebens- und Arbeitsbedingungen zu schaffen. Dies sollte durch die Anerkennung der Prostitution als Dienstleistung und durch eine damit einhergehende Sozial- und Krankenversicherung ermöglicht werden. Intendiert wurde eine gesellschaftliche Entstigmatisierung der Prostitution. Mit der bis heute bestehenden Gesetzgebung soll Prostitution legal und selbstbestimmt als freiwillige Tätigkeit wahrgenommen werden können. Menschenhandel und Zwangsprostitution werden davon unterschieden und bleiben unter Strafe gestellt. Von Seiten der rot-grünen Bundesregierung wurden bei der Einführung kriminalitätsmindernde Effekte im Bereich des Menschenhandels und der Zwangsprostitution erwartet. Erleichterungen beim Ausstieg aus der Prostitution sollten ermöglicht werden. Ab Juli 2017 trat das ‚Gesetz zur Regulierung des Prostitutionsgewerbes sowie zum Schutz von in der Prostitution tätigen Personen‘,(ProstSchG) in Kraft. Menschen, die in der Prostitution arbeiten, müssen seither angemeldet sein, Bordellbetriebe erhalten Auflagen u.a. zum Schutz von Sexarbeiter:innen2 vor Gewalt. Sie unterliegen einer Anmeldepflicht und staatlicher Kontrolle. Darin wurde der Weg des Prostitutionsgesetzes weiter entwickelt.

Im Jahr der Einführung des ProstSchG (2017) wurden laut Statistik des BMFSFJ 6.959 Prostituierte in Deutschland erfasst.3 Für das Jahr 2019 zählt das Statistische Bundesamt rund 40.400 Prostituierte, die „nach dem Prostituiertenschutzgesetz (ProstSchG) gültig angemeldet“ sind.4 Nur 19% der angemeldeten Prostituierten „hatten die deutsche Staatsangehörigkeit“5, 81% hatten keine deutsche Staatsangehörigkeit, sie stammten ganz überwiegend aus Osteuropa. Die größte Kohorte der nicht deutschen Prostituierten kam aus Rumänien (35%), neben Bulgarien (11%) und Ungarn (8%)6. Nicht genehmigte Prostitutionsstätten sind in den öffentlichen Statistiken nicht erfasst. Die angenommenen Dunkelziffern und Schätzungen variieren ebenso wie die Auslegung vorhandener Statistiken.7 Das Bundeskriminalamt gibt für 2020 an, dass etwa jedes fünfte polizeilich festgestellte Opfer sexueller Ausbeutung „einer angemeldeten Tätigkeit nach (ging, A.N.) (77 Opfer / 19%)“8 Für 2019 gibt das Bundeskriminalamt an, dass nur etwa jedes zehnte polizeilich festgestellte Opfer sexueller Ausbeutung „einer angemeldeten Tätigkeit nach(ging, A.N.) (52 Opfer / 12,2%)“9 Neun von zehn Opfern sexueller Ausbeutung waren demnach nicht angemeldet und arbeiteten in der Illegalität.

Die Bundesregierung stellt in ihrer Antwort auf eine Anfrage von Abgeordneten der FDP Bundestagsfraktion im Jahr 2019 folgende Daten zur Verfügung10: Hinsichtlich der Anzahl unangemeldet in Deutschland tätigen Prostituierten weist die Bundesregierung darauf hin, dass keine Zahlen vorliegen. In Zusammenarbeit mit dem statistischen Bundesamt schätzt die Bundesregierung die Zahl der unangemeldeten Prostituierten auf 200.000 Personen:

„Für die Schätzung des Erfüllungsaufwands im Rahmen des Gesetzentwurfs zum Gesetz zur Regulierung des Prostitutionsgewerbes sowie zum Schutz von in der Prostitution tätigen Personen hat das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) in Zusammenarbeit mit dem Statistischen Bundesamt aus einer Gesamtschau verschiedener Quellen eine Zahl von 200 000 Prostituierten zugrunde gelegt; siehe hierzu ausführlich Bundestagsdrucksache 18/8556, Seite 38 f.. Gelegentlich werden auch deutlich höhere oder niedrigere Zahlen genannt. Alle Angaben sind jedoch mit erheblichen Unsicherheiten behaftet.“11

Die Frage nach der Sozialversicherung von Sexarbeiter:innen wird im Jahr 2019 von der Bundesregierung folgendermaßen beantwortet: Im Jahr 2018 waren „76 Personen als sozialversicherungspflichtige Beschäftigte unter der Berufsgattung ‚Berufe für personenbezogene Dienstleistungen – fachlich ausgerichtete Tätigkeiten‘, der Prostituierte zugeordnet sind, gemeldet“12. Die Bundesregierung weist darauf hin, dass Menschen, die in der Prostitution arbeiten vermutlich auch in anderen sozialversicherungspflichtigen Berufsgattungen angemeldet sind, um die tatsächliche Tätigkeit zu verschleiern. Das ist im Blick auf die Erwartungen an die soziale Absicherung von in der Prostitution tätigen Personen ernüchternd.

Im Juli 2022 wird die durch das ‚Bundesministerium für Familien, Senioren, Frauen, und Jugend‘ initiierte Evaluation des ProstSchG starten. Ergebnisse sollen spätestens 2023 vorgelegt werden.13 Hinsichtlich weiterer intendierter Ziele verweist die Bundesregierung auf die Evaluation von 2007, nach der die kriminalitätsmindernden Effekte des Gesetzes nur in sehr geringem Maße nachweisbar sind.

„Der von der Bundesregierung im Jahr 2007 vorgelegte Bericht zu den Auswirkungen des Prostitutionsgesetzes (Bundestagsdrucksache 16/4146) kam zu dem Ergebnis, dass die mit dem Prostitutionsgesetz intendierten Ziele der Zurückdrängung der Begleitkriminalität, der Verbesserung der Arbeitsbedingungen, der Erleichterung des Ausstiegs und einer größeren Transparenz des Rotlichtmilieus durch das Prostitutionsgesetz nur in sehr begrenztem Umfang erreicht werden konnten, und dass weitere gesetzliche Schritte zur Verbesserung der Situation von Prostituierten erforderlich sind.“14

1.2 Entkriminalisierung

Ein Hauptargument der Befürworter:innen des Prostitutionsgesetzes war insbesondere die Erwartung, durch Entkriminalisierung der Prostitution eine Verdrängung der Prostitution in illegale Bereiche des Sexhandels verhindern zu können und damit auch den Markt für Menschenhändler:innen unattraktiv zu machen. Die Substitution von illegaler Zwangsprostitution durch legale Prostitution sollte die Situation der sich prostituierenden Frauen und Männer verbessern. Die Evaluation nach fünf Jahren war ernüchternd. Der Bericht der Bundesregierung zu den Auswirkungen des Prostitutionsgesetzes aus dem Jahr 2007 kommt zu dem Ergebnis, dass das Prostitutionsgesetz die intendierten Ziele „nur zu einem begrenzten Teil (hat, A.N.) erreichen können.15 Eine bessere soziale Absicherung der Prostituierten und die Verbesserung der Arbeitsbedingungen konnten in einem „kaum messbaren“16 Umfang bzw. nur in „zaghafte(n) Ansätze(n)“17 festgestellt werden. Der Bericht hält fest: „Die Ausstiegsmöglichkeiten aus der Prostitution sind durch das Prostitutionsgesetz nicht erkennbar verbessert.“18 Auch kriminalitätsmindernde Effekte sind nach diesem Bericht nicht nachweisbar: „Für einen kriminalitätsmindernden Effekt des ProstG gibt es keine belastbaren Hinweise. Auch konnte das ProstG bislang nur in sehr begrenztem Umfang zu einer besseren Transparenz des ‚Rotlichtmilieus‘ beitragen.“19 Positiv wird vermerkt, dass Befürchtungen, die mit dem Gesetz verbunden waren, nicht eingetreten sind: „Eine Erschwernis der Verfolgung von Menschenhandel, Zwangsprostitution und anderen gewaltförmigen Auswüchsen der Prostitution ist durch das Prostitutionsgesetz nicht eingetreten.“20

Das Bundeskriminalamt gibt 2020 einen leichten Anstieg an Strafverfolgungen an, während die Zahl der ermittelten Opfer sexueller Ausbeutung um knapp 5% gesunken sind.21 Mit Verweis auf die Evaluation von 2007 weist auch die Bundesregierung 2019 darauf hin, dass ein „Erschwernis der Verfolgung von Menschenhandel, Zwangsprostitution und anderen gewaltförmigen Auswüchsen der Prostitution durch das Prostitutionsgesetz nicht eingetreten ist.“22 Allerdings wird nach Aussage der Bundesregierung aus Fachkreisen von neuen und problematischen Entwicklungen im „sogenannten Rotlichtmilieu“ berichtet, deren Auftreten mit der EUErweiterung und einer erhöhten Mobilität in der EU begründet wird, „denen mit den bis 2017 zur Verfügung stehenden Instrumenten nicht adäquat begegnet werden konnte.“23 Die Evaluation des ProstSchG wird zeigen, ob hier seit 2017 eine Verbesserung festzustellen ist.24

2. Psycho-soziale Aspekte der ‚Lebenssituation Prostitution‘: Selbstbestimmung, Vulnerabilität, sexuelle Ausbeutung und Sexmarkt

Während die Befürworter:innen des Gesetzes auf die Selbstbestimmung der ‚Sexarbeiter:innen‘ hinweisen und diese durch die deutsche Rechtsprechung gefördert sehen, wird von den Gegner:innen des Prostitutionsgesetzes angeführt, dass Beweggründe von Frauen und Männern für eine Arbeit in der Prostitution weniger auf Selbstbestimmung sondern vielmehr auf sexueller und sozialer Ausbeutung basieren.

Die biografischen und psycho-sozialen Voraussetzungen, die zu einer Ausübung der Prostitution führen, sind individuell und differieren.25 Sexarbeit wird in der Regel nicht zur Befriedigung sexueller Lust, in der Regel auch nicht aus Freude oder Interesse an dieser Tätigkeit ausgeübt. Ein solcher Zugang zur Prostitution ist für einen kleineren Teil der Sexarbeiter:innen zwar anzunehmen. Dass Prostitution in der Regel aber nicht aus Neigung, sondern aus krisenhaften Lebenssituationen, aus sozialen und ökonomischen Zwängen oder mangels anderer sozialer Alternativen aufgenommen wird, liegt darin begründet, dass Prostitution weit mehr ist als eine Dienstleistung. Sie ist vielmehr eine „Lebenssituation“26, die ihre spezifischen psycho-sozialen Bedingungen aufweist. Diese weisen häufig bis in die Kindheit zurück. Die Ausübung der Prostitution selbst stellt in der Regel eine vulnerable Lebenssituation dar, die die gesundheitliche und psychische Integrität der darin lebenden und arbeitenden Personen stark beeinträchtigt. Sie geht mit Erfahrungen sexueller, seelischer und körperlicher Gewalt einher sowie mit sozialen Stigmata und biografischen Krisenerfahrungen.

Frühere Missbrauchserfahrungen gelten als Türöffner zur Prostitution. Einer Befragung des BMFSFJ aus dem Jahr 2007 zufolge hatten 43% der sich prostituierenden Personen sexuellen Missbrauch in der Kindheit erfahren.27 Neben diesen vom BMFSFJ erhobenen Hintergrunderfahrungen erfolgt Einstieg in die Prostitution im Zusammenhang von Gewalterfahrungen in der Kindheit und Jugend, durch Täuschungen und falsche Versprechen durch anwerbende Zuhälter:innen. Angeworben wird mit der Loverboy-Methode28, die von Zuhältern gezielt zum Aufbau von psychischer Abhängigkeit unter Vorspiegelung einer Liebesbeziehung eingesetzt wird.

Es sind aber vor allem die prekären sozialen Verhältnisse in Deutschland, insbesondere in den Armutsregionen Europas und weltweit, die vor allem Frauen dazu bewegen, sich auf eine Tätigkeit als Prostituierte einzulassen.29 Bewusste Täuschung über die tatsächliche Tätigkeit und massive kriminelle Gewalt in einem globalen Sexmarkt zählen zu den Mitteln, um Frauen in die Prostitution zu bringen. Auch Beschaffungskriminalität von Drogensüchtigen gehört zu den Beweggründen, in der Prostitution tätig zu werden. Frauen aus den Armutsregionen Europas, die sich zunächst freiwillig auf Sexarbeit einlassen, weisen Traumata, Suchterkrankungen sowie Merkmale von Zwangsarbeit und moderner Sklaverei auf.30 Die in der Prostitution vorherrschenden Formen von Zwangsarbeit sind auch aus anderen Geschäftsfeldern bekannt. Sie gehen mit der Ausnutzung einer wirtschaftlichen Notlage und Täuschungen einher. Nach Auffassung von ‚Brot für die Welt‘ sind ausbeuterische Arbeitsverhältnisse in der Prostitution, die durch Täuschung, Zwang und Abhängigkeit zustande kamen, im Zusammenhang weiterer Formen moderner Sklaverei zu sehen:

„Menschenhandel ist eine extreme Form der Ausbeutung, die es auch in Deutschland gibt. Die Opfer werden oft in die Prostitution gezwungen oder müssen in Schlachthöfen arbeiten, in der Landwirtschaft, der Gastronomie oder auf dem Bau. Kennzeichnend ist, dass die Arbeitsverhältnisse durch Täuschung oder Zwang zustande kamen, die Betroffenen von anderen abhängig sind und ausgebeutet werden. Die Ausbeutungsverhältnisse reichen von Zwangsprostitution über Zwangsarbeit bis hin zu Formen der Leibeigenschaft und Sklaverei. In Europa leiden schätzungsweise 600.000 Menschen unter diesen Formen moderner Sklaverei, weltweit sollen es 21 Millionen sein. Die Gewinne der Täter betragen vermutlich 150 Milliarden US-Dollar pro Jahr.“31

Auch dort, wo Prostitution mit der Einwilligung der sich prostituierenden Person erfolgt, bestehen hohe gesundheitliche und seelische Risiken. Die Traumatherapeutin Ingeborg Kraus zitiert auf einem internationalen Kongress von ‚Wissenschaftler/innen gegen Prostitution‘ in Straßburg im Jahr 2016 Studien, die verdeutlichen, dass Frauen in der Prostitution seelischer und körperlicher Gewalt ausgesetzt sind und unter posttraumatischen Belastungsstörungen leiden.32 Bereits 2003 hat die amerikanische Psychologin Melissa Farley umfangreiche internationale Forschungen zu den psychischen und physischen Gewalterfahrungen von Prostituierten veröffentlicht, in denen die Lebenssituation und insbesondere die posttraumatischen Belastungsstörungen (PBS), die nach ihrer Aussage bei rd. 70% der Sexarbeiter:innen anzunehmen sind, aufgezeigt werden.33 Die Traumatherapeutin Kraus zitiert in diesem Zusammenhang den Bericht der Bundesregierung zu Genderdaten aus dem Jahr 2004. Darin sind Daten zu Gewalterfahrungen von Frauen und Männern enthalten. Innerhalb einer Befragung von verschiedenen Risikogruppen wurde auch eine Befragung von 110 Prostituierten durchgeführt. 82% der Befragten geben darin an, psychische Gewalt erfahren zu haben, 92% geben an, sexueller Belästigung ausgesetzt gewesen zu sein, 87% geben an, körperliche Gewalt erfahren zu haben und 59% sagen, dass sie sexuelle Gewalt erlitten haben.34 Medikamentenmissbrauch und Drogenmissbrauch ergänzen nach die Symptomatik.35 Kraus weist darauf hin, dass insbesondere traumatisierte Frauen die Gewalterlebnisse durch Dissoziation abspalten und deshalb Erinnerungen an Gewalterlebnisse im Alltagsbewusstsein bei einem Teil der Patient:innen nicht mehr präsent sind. Sie sind den Betroffenen selbst nicht bewusst und werden daher gegenüber Berater:innen und in Evaluationen nicht sichtbar. Es bedarf fachlich ausgebildeter Psycholog:innen um die PBS zu erkennen und fachlich angemessen mit den Klient:innen zu bearbeiten. Der Kongress der ‚Wissenschaftler/innen gegen Prostitution‘ in Dublin 2017 reformulierte diese Thesen.36 Auch Aussteigerinnen, die freiwillig im legalen Bereich gearbeitet haben, schildern Ekel und Abspaltungen. In einem Interview sagt die Aussteigerin Huschke Mau:

„ … Die Lage ist schon verschärft, die meisten Prostituierten haben eine posttraumatische Belastungsstörung. Dazu gibt es viele Studien, auch im Internet unter trauma-and-prostitution.eu. Prostituierte müssen unglaublich viel abspalten: Angst, Ekel, Widerwillen, Scham. Sie müssen immer alles unter den Teppich kehren, und der Berg wird größer. Sie müssen sich betäuben. Ich bin trockene Alkoholikerin: Ich musste mich immer betrinken, um Termine zu machen …Sie kennen Frauen, die sagen, es sei okay für sie, sich zu prostituieren. Das hätte ich in den ersten drei Jahren auch gesagt! Das muss man sich einreden, sonst hält man es nicht aus, von zehn Schwänzen am Tag penetriert zu werden. Ich konnte den Ekel nur mit Alkohol abspalten.“37

Auch die Aussteigerin Rahel Moran schildert Phänomene von Ekel, Verdrängung, Dissoziation und Drogenmissbrauch. Moran beschreibt darüber hinaus auch die zersetzende Wirkung von Prostitution auf die Psyche von Kunden, die in der gegenseitiger Verachtung und Verächtlichmachung von Prostituierten zum Ausdruck kommt. Sie geht mit verbaler, sexistischer und körperlicher Gewalt gegen Frauen einher – auch gegen Frauen, die die Arbeit in der Prostitution selbst gewählt haben oder sich freiwillig darauf eingelassen haben. Zum Thema Freiwilligkeit und Selbstbestimmung hält Moran fest: „Es ist nicht möglich, in eine Lebensweise einzuwilligen, von der man keine Vorstellung hat.“38 Die Auffassung, dass eine Entkriminalisierung und Legalisierung der Prostitution den Frauen in der Sexindustrie zugute komme, ist nach ihrer Auffassung „ein weiterer Prostitutionsmythos“39.

Die Lebenssituation von Frauen, Männern und Kindern in der Prostitution wird konstituiert durch einen legalen und illegalen Sexmarkt. Flat-Rate Angebote, Seniorenrabatte, öffentliche Werbung und Sextourismus gehören zum legalen Erscheinungsbild der deutschen Sexindustrie. Nicht nur die legalisierten Formen der Prostitution, sondern auch der illegale Menschenhandel generieren Gewinne in Milliardenhöhe und werden von kriminellen, internationalen Netzwerken betrieben. Frauen, Mädchen und auch Männer, in der Mehrzahl aus den Armutsregionen Osteuropas, werden in diesem globalisierten ‚Markt‘ sexuell ausgebeutet. Von Zwangsprostitution sind vorwiegend Frauen und Mädchen betroffen. Sie leben unter gewaltförmigen Bedingungen. Darüber hinaus sind sie durch Sprachbarrieren und durch die Illegalität ihres Aufenthaltes isoliert. Zu den vom Bundeskriminalamt erhobenen kriminellen Methoden zählen: Drohung, psychische und physische Gewalt, Ausnutzung einer Zwangslage, Passabnahme, Einsperren, Ausnutzung von Hilfslosigkeit, List und sonstige Methoden.40 Personen in Situationen von Zwangsprostitution müssen extreme Praktiken erdulden und werden illegal von Bordell zu Bordell verbracht. Der Gewinn des Geschäftes mit Sex wird in Deutschland auf mehrere Milliarden Euro (5,4 Milliarden) pro Jahr geschätzt.41 Der Gewinn, auch darauf verweisen Studien, verbleibt dabei nicht bei den im Sexgeschäft Arbeitenden, sondern überproportional bei den kriminellen, illegalen und legalen Betreibern dieses Geschäftes. Neben der sexuellen Ausbeutung von Frauen und Männern in der Prostitution wird daher auch die finanzielle Ausbeutung kritisiert.

3. Der Zusammenhang von Nachfrage, sexueller Ausbeutung und Menschenhandel

Befürworter:innen des Prostitutionsgesetzes plädieren dafür, Prostitution und Menschenhandel voneinander getrennt zu betrachten. Prostitution an sich ist legal und wird von Frauen und Männern in geschützten Räumen unter staatlicher Anmeldung selbstbestimmt ausgeübt. Menschenhandel und Zwangsprostitution dagegen sind illegal und werden strafrechtlich verfolgt. Die bisher geäußerte Zustimmung zum ProstG in Stellungnahmen basierte dabei nicht auf einer Zustimmung zum Sexkauf an sich, sondern auf der Annahme, dass durch das ProstG Frauen und Männer, die im Bereich der Prostitution arbeiten, besser abgesichert werden und der illegale Menschenhandel gemildert wird. Von den Gegener:innen des ProstSchG wird dagegen auf das schwedische Modell verwiesen, das durch ein Sexkaufverbot nach Aussagen der schwedischen Regierung auch zu einem Erliegen des Menschenhandels geführt habe.

3.1 Der schwedische Weg: Sexkaufverbot

Die Auswirkungen einer Legalisierung des Sexkaufes auf Menschenhandel und Zwangsprostitution wird kontrovers diskutiert. Als Vergleichsland wird von Kritiker:innen des ProstG auf Schweden verwiesen. In Schweden wird der Kauf von Sex seit einer Gesetzesänderung im Jahr 1999 bestraft. Das Ziel ist es, durch eine öffentliche Ächtung und Verbot des Sexkaufs die Nachfrage nach sexuellen Dienstleistungen zu senken und damit auch die Zahl von Frauen und Männern, die in der Prostitution sexuell und materiell ausgebeutet werden. Dabei wird der Sex kaufende Freier bestraft, wie auch in Frankreich und anderen europäischen Ländern. Prostitution anzubieten ist im schwedischen Modell straffrei. Die sich prostituierenden Personen werden nach diesem Konzept sozialpädagogisch und psychologisch unterstützt, ohne eine Kriminalisierung befürchten zu müssen. Sie werden als Opfer sexueller Ausbeutung gesehen. Die Beratung ist freiwillig und kann auch ausgeschlagen werden. Das Gesetz wurde begleitet von weiteren Gesetzen, die die Gleichberechtigung von Frauen stärken und Gewalt gegen Frauen und Mädchen härter bestrafen. Begleitet wurde das Gesetz auch durch breite Aufklärung und Präventionsarbeit im Bereich sexueller Gewalt und sexueller Ausbeutung.

Eine Studie des Europäischen Parlaments aus dem Jahr 2014 kommt auf der Basis von Evaluationen der schwedischen Regierung zu dem Ergebnis, dass Schweden für Menschenhändler:innen als unattraktives Zielland gilt und Menschenhandel deutlich gemindert werden konnte. Auch wurde die Nachfrage nach sexuellen Dienstleistungen im Bereich der Straßenprostitution nach dem schwedischen Regierungsbericht halbiert.42 Eine 2015 veröffentlichte Studie aus Schweden stellt fest, dass die Prostitution durch das Verbot des Sexkaufs nicht wesentlich gemindert wurde.43 Die schwedische Regierung selbst veröffentlicht auf der Homepage ihrer Botschaft weiterhin die Aussage, dass Straßenprostitution sich halbiert habe und gibt an, dass gleichzeitig Anzeigen im Internet zunahmen. Laut Angaben der schwedischen Polizei liegt die Zahl der Personen, die in der Prostitution tätig sind „zwischen 1000 und 1500 Personen“44. Seit der Einführung der Gesetzgebung 1999 gab es nach Auskunft der schwedischen Regierung keinen Mord an einer Prostituierten und es ging bei der Polizei auch „kein einziger Bericht über schwere Gewalt gegen Prostituierte“ ein.45. Auch Menschenhandel ist nach Auskunft der Botschaft weitgehend unterbunden, da Schweden für Menschhändler:innen nicht mehr attraktiv sei: „Interpol beschreibt Schweden als einen toten Markt.“46 Die Botschaft führt diese Entwicklung darauf zurück, dass die Nachfrage nach Prostitution gesunken ist. Seit dem Inkrafttreten des Gesetzes sei eine „Normverschiebung“47 feststellbar, die nicht nur zu einer Akzeptanz des Gesetzes von 70% der Bevölkerung nach sich zog, sondern auch eine gesunkene Nachfrage nach sexuellen Diensten zur Folge hat. Die Normverschiebung zielt insbesondere auf das Verhalten von Kunden, die in der Regel Männer sind.48 Die Bestrafung des Sexkaufes soll einen Bewusstseinswandel über sexuelle Ausbeutung und Genderstereotypen anstoßen. Prostitution wird als Ausdruck einer Haltung verstanden, die nicht auf Gleichberechtigung der Geschlechter basiert, sondern Frauen zu Objekten degradiert und sich dabei überholter Rollenklischees von Männlichkeit bedient. Eine vertiefte fachliche Auseinandersetzung mit den Erfahrungen und Gesetzgebungen derjenigen Länder, die kein generelles Verbot der Prostitution, sondern ein Verbot des Sexkaufs eingeführt haben, steht in Deutschland m.E. noch aus.

3.2 Der Zusammenhang von Menschenhandel und Prostitution in internationalen Querschnittstudien

Eine von der Europäischen Kommission geförderte Studie der Universität Göttingen verdeutlicht bereits im Jahr 2012, dass im Ländervergleich zwischen Schweden und Deutschland die Prostitution in Deutschland signifikant höher ist als in Schweden. Die Studie weist nicht nur darauf hin, dass Deutschland bereits im Jahr 2006 als der größte Prostitutionsmarkt Europas anzusehen ist. Bei einer Bevölkerung, die etwa 10mal größer ist als die Schwedens, ist die Zahl der Prostituierten in Deutschland mehr als 60mal so hoch. Mit den Zahlen von 2019 hat sich dieses Verhältnis nicht verändert. Den im Jahr 2020 in Schweden erfassten 1000-1500 Prostituierten stehen in Deutschland 2019 rd. 40.000 angemeldete Prostituierte gegenüber. Der Göttinger Ländervergleich aus dem Jahr 2012 kommt zu dem Ergebnis, dass in Deutschland auch die Zahl der Opfer von Menschenhandel etwa 62mal höher ist als in Schweden. Die Studie verweist auf Daten aus dem Jahr 2005, die für das Europäische Parlament erhoben wurden. Diese legt Zahlen zugrunde, die davon ausgehen, dass sich seit der Einführung des Prostitutionsgesetzes in Deutschland die Zahl der Opfer von Menschenhandel auch in absoluten Zahlen erhöht hat.49 Die Göttinger Studie aus dem Jahr 2012, die sich in einem Ländervergleich mit der Frage befasst, in welchem Zusammenhang die Legalisierung von Prostitution zum Menschenhandel steht, kommt zu dem Ergebnis, dass die empirische Querschnittsanalyse von 150 Ländern ergeben hat, dass im Durchschnitt die Legalisierung von Prostitution auch mit einer Erhöhung von Menschenhandel einhergeht.50

Der „Bericht über die Bekämpfung des Menschenhandels in den Außenbeziehungen der Europäischen Union“51 vom 13.6.2016 konstatiert ebenfalls eine enge Beziehung zwischen Prostitution und Menschenhandel. Dabei werden die Merkmale von Menschenhandel eindrücklich beschrieben:

„A. in der Erwägung, dass Menschenhandel, der Teil des organisierten Verbrechens ist, einen der schlimmsten Menschenrechtsverstöße darstellt, da dabei Menschen auf eine Ware reduziert werden, die Würde, die Unversehrtheit und die Rechte der Opfer zutiefst und dauerhaft verletzt werden und ganze Familien und Gemeinschaften betroffen sind, sowie dass dabei vorsätzlich Schwachstellen wie Armut oder Isolation ausgenutzt werden;

B. in der Erwägung, dass Menschenhandel nach der Definition der Vereinten Nationen (Protokoll von Palermo) die Anwerbung, Beförderung, Verbringung, Beherbergung oder Aufnahme von Personen durch die Androhung oder Anwendung von Gewalt oder anderen Formen der Nötigung, durch Entführung, Betrug, Täuschung, Missbrauch von Macht oder Ausnutzung besonderer Hilflosigkeit oder durch Gewährung oder Entgegennahme von Zahlungen oder Vorteilen zur Erlangung des Einverständnisses einer Person, die Gewalt über eine andere Person hat, zum Zweck der Ausbeutung ist…“

E. in der Erwägung, dass die Gefahr, dass Menschen ausgebeutet und missbraucht werden, aufgrund komplexer und miteinander verknüpfter Faktoren wie systematischer und struktureller Diskriminierung, Menschenrechtsverletzungen, Armut, Ungleichbehandlung, Korruption, gewaltsamen Konflikten, der Beschlagnahmung von Land, mangelnder Bildung, Arbeitslosigkeit und dysfunktionalen Arbeitsmigrationsregelungen ansteigt, da den betroffenen Menschen weniger Wahlmöglichkeiten und Ressourcen zur Verfügung stehen; in der Erwägung, dass in der EU-Strategie zur Beseitigung von Menschenhandel für den Zeitraum von 2012 bis 2016 Gewalt gegen Frauen als eine der grundlegenden Ursachen von Menschenhandel festgestellt wurde;

G. in der Erwägung, dass Menschenhandel zusammen mit dem Drogen- und Waffenhandel weltweit zu den gewinnträchtigsten kriminellen Tätigkeiten des organisierten Verbrechens gehört; in der Erwägung, dass die illegalen Gewinne aus Zwangsarbeit, einschließlich durch Geldwäsche, den neusten IAO-Schätzungen zufolge pro Jahr bei etwa 150 Milliarden USD liegen, wobei 90 Prozent der Opfer Schätzungen zufolge in der Privatwirtschaft ausgebeutet werden und zwei Drittel der Gewinne aus der kommerziellen sexuellen Ausbeutung stammen, was diese zur lukrativsten Form der Ausbeutung macht;

H. in der Erwägung, dass Menschenhandel sowohl unter dem Gesichtspunkt der Nachfrage als auch unter dem des Profits betrachtet werden muss, da der Ausbeutung von Frauen insbesondere für sexuelle Dienstleistungen durch die Nachfrage nach diesen Dienstleistungen und die damit erzielten Gewinne Vorschub geleistet wird52

Unter Nr. 23 vertritt derselbe Bericht des Ausschusses der EU die Auffassung, „dass nie davon ausgegangen werden kann, dass ein Drittstaatsangehöriger, der zu Zwecken der Prostitution, irgendeiner anderen Form der sexuellen Ausbeutung oder der Zwangsarbeit aus seinem Land in die EU verbracht wurde (oder ein EU-Bürger, der in einen anderen Mitgliedstaat verbracht wurde), dem zugestimmt hat“53. Unter Nr. 28 schließlich konstatiert der Bericht den Zusammenhang zwischen Nachfrage, Ausweitung der Prostitution und Ausweitung von Zwangsprostitution und Menschenhandel: „Nr. 28 weist (die EU, A.N.) mit Nachdruck darauf hin, dass der eindeutige Zusammenhang zwischen Menschenhandel zu sexuellen Zwecken und Prostitution Maßnahmen erfordert, um der Nachfrage nach Prostitution Einhalt zu gebieten.“54

Auch die bereits eingangs zitierte Studie, die 2021 im Auftrag des Ausschusses für die Rechte der Frauen und die Gleichstellung der Geschlechter (FEMM) des Europäischen Parlaments erstellt wurde, kommt zu dem Ergebnis, dass die grenzüberschreitende Kriminalität im Bereich Menschenhandel und Zwangsprostitution und die Gleichstellung von Männern und Frauen nur durch eine Harmonisierung der Gesetzgebung in den EU-Staaten reduziert werden kann. Als Lösung schlägt der Autor, Andrea Di Nicola zwei mögliche Varianten des Sexkaufverbots vor, einerseits durch eine a) „strafrechtliche Verfolgung von Prostitutionskunden, die unregulierte Prostitutionsdienste kaufen“55, das sogenannte neue Modell des Sexkaufverbots oder b) … „die Einführung eines verbotsbasierten Modells für die Prostitution …, das den Kauf sexueller Dienstleistungen generell unter Strafe stellt.“56 Insbesondere dieses zweite Modell des Sexkaufverbots wird in der Studie im Zusammenhang der Bewusstmachung der Prostitution als „eine Form der Gewalt, eine Verletzung der Menschenwürde und eine Ausnutzung geschlechtsspezifischer Ungleichheiten…“57 gesehen.

3.3 Fehlerhafte Zitationen und Fehlinterpretationen

Internationale Studien zum Sexkaufverbot werden in Fachkreisen wiederholt fehlerhaft zitiert. Dies geschieht im Zusammenhang von Aussagen, die eine negative Wirkung von Sexkaufverboten auf die Sicherheit von Prostituierten behaupten. Sie gehen einher mit dem Hinweis auf Einschränkungen in der Beratung und Sicherheit von Prostituierten durch ein Sexkaufverbot und die Bestrafung von Sexkäufern.58 Auch die Diakonie Deutschland spricht sich in auf dieser Grundlage gegen ein Sexkaufverbot aus.59 Festzuhalten ist dazu, dass sich die von der Diakonie Deutschland zitierte Studie von Lucy Platt u.a. mit ihren 40 quantitativen und 94 qualitativen Studien mehrheitlich auf generelle, also neben den Kunden auch die Sexarbeiter:innen selbst betreffende Verbotsformen der Prostitution beziehen. Die empirischen Daten stammen aus den unterschiedlichsten Ländern mit den unterschiedlichsten Gesetzgebungen weltweit.60 Von den 40 quantitativen Studien, die von Platt u.a. ausgewertet wurden, bezog sich keine einzige auf ein Sexkaufverbot nach nordischem Modell.61 Alle 40 quantitativen Erhebungen bezogen sich ausschließlich auf Verbotsformen von Prostitution, die auch die sich prostituierenden Personen betrafen. Von den 94 qualitativen Studien dieser Querschnittsstudie bezogen sich insgesamt nur 6 Studien auf ein Sexkaufverbot, das nach Vorbild des schwedischen Modells nur den Sexkäufer bestraft. Fünf dieser Studien stammten aus Canada und nur eine aus Schweden selbst. Das schwedische Modell unterschiedet sich von anderen Ländergesetzgebungen, wie z.B. Kanada, vor allem dadurch, dass das Sexkaufverbot mit einer breiten gesellschaftlichen Reflexion von patriarchalen Geschlechterstereotypen, mit der Kritik an sexueller Ausbeutung von Frauen und mit einer Orientierung an der Gleichstellung der Geschlechter einherging. Ob daher kanadische Studien zur Kritik am schwedischen Modell herangezogen werden können, bleibt zu prüfen. Insgesamt muss man festhalten, dass die Querschnittstudie von Platt u.a. nicht für eine wissenschaftliche Analyse des Sexkaufverbots und noch weniger für eine Kritik des schwedischen Modells in Anspruch genommen werden kann, da sich von den 134 quantitativen und qualitativen Studien, die Platt analysiert, nur eine auf das schwedische Modell bezieht.

Aussagekräftig ist die Querschnittstudie von Platt lediglich hinsichtlich der Gesetzgebungen im internationalen Vergleich, die ein generelles Verbot der Prostitution inklusive einer Bestrafung von Prostituierten zum Inhalt haben. Hier kommt die umfassende Studie zu dem Ergebnis, dass diese Verbotsregelungen mit Stigmatisierungen, gesundheitlichen Risiken, Gewalt und Verdrängung in die Illegalität einhergehen.62 Auf diese Gesetzgebungen mit generellem Verbot der Prostitution beziehen sich auch alle von Diakonie Deutschland ins Feld geführten Ergebnisse, wie z.B. die Abdrängung in den Untergrund und die Gefahren von HIV Erkrankungen betreffend. Für das schwedische Modell des Sexkaufverbots, das nur den Käufer von Sex bestraft, können diese Studien, mitsamt ihren negativen Auswirkungen auf Sexarbeiter:innen, jedoch nicht in Anspruch genommen werden.

Betrachtet man die Zitate aus der einen in Platts Studie dargestellten qualitative Befragung aus Schweden, so zeigt sich, dass entgegen der verschiedentlich wiederholten Behauptung, dass das schwedische Sexkaufverbot die Risiken von Sexarbeiter:innen gravierend erhöhe, in den von Platt u.a. zitierten Passagen keine Rede von einer solchen Gefährdung ist. In der einen qualitativen Befragung werden Hemmnisse bei der Aufsuchung von Beratungsstellen berichtet. Durch die Aufforderung zum Ausstieg fühlten sich nach Aussage der Evaluationsstudie aus Schweden Sexarbeiter:innen dazu gedrängt, die Prostitution zu verlassen und Opferdiskurse zu akzeptieren, auch wurde die öffentliche Verteilung von Kondomen eingeschränkt. Es wurden auch Schwierigkeiten beim Erwerb von Wohnungen zur Ausübung von Prostitution, bei Immigration, Steuerzahlungen und Kinderbetreuung berichtet:

„In Sweden the mandate to reduce sex work acted as Barrier to services as sex workers‘ access became conditional on leaving the sex trade and conforming to a victim discourse, and health services no longer distributed condoms through outreach.“63

Aus den fünf kanadischen Studien wird in Platts u.a. Querschnittsstudie zitiert, dass das Sicherheitsgefühl auf einem legalisierten Straßenstrich insgesamt höher von den Sexarbeiter:innen wahrgenommen wird als nach Einführung des Sexkaufverbots. In qualitativen Interviews wird berichtet, dass das Sicherheitsgefühl von Prostituierten auf dem Straßenstrich dadurch eingeschränkt wird, dass bei jeder Vereinbarungen zum Sexkauf die Kontrolle durch die Polizei befürchtet werden muss:

„Quote 4a: ‘Sometimes the guy will drive up and just sort of wave or point to go down the alley or something like that somewhere else where he can pick me up. [How does that affect your safety?] You never know who it is, right? And you can’t really see his face, can’t really see anything they could have a gun in their hand or. You know what I mean they could be a little drunk or something if you can’t really see them very clearly, you know. And you don’t you can’t say hi or whatever before you get in. You have to just hurry up before the cops come.’—cis woman, street, age unspecified, Canada [114]“64

Ob die Situation in Kanada und Schweden vergleichbar ist, müsste geprüft werden, da die Einführung des Sexkaufverbots in verschiedenen Ländern von unterschiedlichen Gesetzgebungen zur Verfolgung von Gewalt gegen Frauen und öffentlicher Aufklärung begleitet war. Eine generelle höhere Gefährdung von Prostituierten durch die Einführung des Sexkaufverbots kann aus der Studie von Platt u.a. nicht abgeleitet werden. Laut den Berichten aus Schweden gibt es keine Hinweise auf ein höheres Gewaltpotenzial gegen Prostituierte. Die von kanadischen Sexarbeiter:innen geschilderten Erschwernisse im Bereich des Straßenstrichs stehen im Zusammenhang einer generellen Verlagerung von Angeboten ins Internet in Ländern mit Sexkaufverbot. Sie sind in Abwägung zu einer insgesamt signifikanten Reduktion des Sexmarktes, einer damit einhergehenden Reduktion von Zwangsprostitution und dem Erliegen von Menschenhandel in Schweden zu lesen.65

Gegen ein Sexkaufverbot nach schwedischem Modell wird auch eine Studie der Queens Universität Belfast angeführt66, als deren Quelle in Publikationen fälschlicherweise die Studie von Platt angegeben wird. Als Ergebnisse dieser Belfaster Studie zählt z.B. Diakonie Deutschland folgendes Ergebnis auf: „Auch schwere Gewalttaten gegen Prostituierte kommen häufiger vor“67 Diese Feststellung, die sich kritisch auf Einführung eines Sexkaufverbot in Nordirland bezieht, findet sich in ähnlicher Weise auch in einer Publikation des Deutschen Instituts für Menschenrechte (DIMR).68 Das DIMR zitiert die Belfaster Studie allerdings mit den Worten: „Schwere Gewalttaten gegen Prostituierte haben seit dem Verbot nur sehr begrenzt zugenommen.“69 Vergleicht man beide Zitate mit der Originalquelle so zeigt sich, dass hier sinnentstellend zitiert wurde. Im Originaltext der Belfaster Studie heißt es wörtlich: „Contrary to expectation and some of the extant literature we did not find the increases in serious violence and abuse directed towards sex workers in Northern Ireland that we were expecting which remained comparatively low, but in line with other UK based studies of Internet-based sex workers ...“70 Eine Zunahme an schwerer Gewalt konnte durch das Verbot von Sexkauf nicht festgestellt werden. Schwere Gewalt und Missbrauch gegen Sexarbeiter:innen blieben vergleichsweise niedrig und im Niveau vergleichbar mit anderen Studien zu internetbasierter Sexarbeit. Die Belfaster Studie erhebt zudem, dass Phänomene von sexueller Belästigung und leichteren Übergriffen auf Prostituierte statistisch betrachtet leicht zugenommen haben.71 Von schweren Gewalttaten ist nicht die Rede. Die fehlerhafte Zitation ist insofern kritikwürdig, da sie dazu angeführt wird, das Sexkaufverbot nach nordischem Modell zu diskreditieren. Damit wird ein gesellschaftlicher Diskurs über die Gleichstellung der Geschlechter und sexuelle Ausbeutung ebenso verhindert wie eine wirkungsvolle Eindämmung von Zwangsprostitution und Menschenhandel in Deutschland und Europa. Einschlägige Studien, die zeigen, dass das Sexkaufverbot wirkungsvoll zum Schutz vor Zwangsprostitution und Menschenhandel eingesetzt werden kann, werden folglich ignoriert oder fehlerhaft zitiert.72

Ignoriert wird ebenfalls, dass auch die immer wieder angeführte Solidarität von Freiern mit Opfern des Menschenhandels nur marginal vorhanden ist. Wissenschaftliche Studien73 zeigen, dass die Käufer von Sex mehrheitlich nicht bei der Aufklärung von Zwangsprostitution und Menschenhandel mitwirken, obwohl bei rd. 50% der Kunden Problembewusstsein vorhanden ist. Freier wirken bei der Aufklärung lediglich auf direkte Aufforderung durch die Sexarbeiter:innen oder als Reaktion auf körperliche Spuren von Gewalt an der Aufklärung mit. Auch Studie des FEMM Ausschusses des Europäischen Parlaments konstatiert, dass Kunden von Sexarbeiter:innen mit Migrationshintergrund davon ausgehen müssen, dass diese nicht freiwillig bzw. unter Zwang arbeiten. Der Autor schlägt daher eine regelmäßige Durchführung von standardisierten „Selbsteinschätzungsfragen von Prostitutionskunden“ vor, um auch dort bewusstseinsbildend zu wirken.74

4. Innerdiakonische und innerkirchliche Diskurse: sozial- und sexualethische Aspekte

In Kirche und Diakonie besteht ein Konsens in der Verurteilung von Menschenrechtsverletzungen sowie von sexueller Ausbeutung von Menschen, die in der Prostitution arbeiten. Ein Konsens besteht auch in der Unterstützung, Beratung und Entstigmatisierung von Sexarbeiter:innen. Beratungsstellen für Sexarbeiter:innen und Zwangsprostituierte gehören zum Regelangebot von Diakonie und Kirche. Dabei hat sich die Auffassung von der Lebenssituation in der Prostitution über die Jahrhunderte hinweg in den Kirchen gewandelt75, die genderbedingten Bilder von Sexarbeiter:innen wurden kritisch gesichtet und auch die Beratungsangebote haben sich fachlich weiter entwickelt, mit dem Ziel im Rahmen der staatlichen Gesetzgebung Unterstützungsangebote bereit zu halten. Allen Ansätzen ist gemeinsam, dass sie eine bessere und sicherere Arbeits- und Lebenssituation für Menschen in der Prostitution beabsichtigen, sie beim Ausstieg aus der Prostitution unterstützen und in Zwangs- und Gewaltsituationen beraten und schützen wollen.

Der Weg allerdings, der dazu beschritten werden soll, ist strittig. Während ein Teil der Berater:innen, Beratungsstellen und kirchlich-diakonischen Werke die Auffassung vertreten, dass die Legalisierung durch das ProstG und PostSchG der beste Weg in der Beratung darstellt, ist ein anderer Teil der Auffassung, dass die sexuelle Ausbeutung in der Prostitution nur durch ein Sexkaufverbot nach schwedischem Modell unterbunden werden kann.76 Die öffentlichen Stellungnahmen von Diakonie und Kirche differieren. Während die Diakonie Deutschland seit der Einführung des ProstG konsequent die Legalisierung und Entstigmatisierung der Sexarbeit durch das ProstG begrüßt und fachlich begleitet, haben sich regionale Kirchen wie z.B. die Württembergische Landeskirche oder Diakonie und Kirche in Mannheim für ein Sexkaufverbot ausgesprochen.77

4.1 Biblische Ethik, Sexualethik und Sexarbeit

Die moralische Wertung der Kirchen zur Prostitution war lange Jahrhunderte wechselweise durch Ablehnung oder pragmatische Duldung gekennzeichnet. Sie ging mit einer Stigmatisierung von Prostituierten als Sünder:innen einher.78 In der Bibel wird Prostitution als gegeben vorausgesetzt und in unterschiedlichen Erzählungen eingebunden, wobei die feministische Exegese darauf hinweist, dass auch allein lebende, psychisch erkrankte oder als ‚Sünderin‘ bezeichnete Frauen von einer patriarchalen Exegese unreflektiert als Prostituierte bezeichnet wurden.79 Im Matthäusevangelium werden Prostituierte zusammen mit Zöllnern den sozial stigmatisierten Gruppen zugerechnet und von Jesus als Glaubensvorbild vorgestellt: „Jesus sprach zu ihnen: Wahrlich, ich sage euch: Die Zöllner und Huren kommen eher ins Reich Gottes als ihr“ (Mt 21,31). Seele und Körper sind nach biblischer Auffassung nicht voneinander zu trennen, sondern stehen in einem engen, wechselseitigen Zusammenhang80. Die Reinheit von Leib und Seele ist den Gläubigen aufgetragen, der Leib wird als „Tempel Gottes“ bezeichnet und Prostitution als Sünde angesehen (1. Kor 6, 12-20).

Sexualethisch betrachtet macht Sexarbeit den menschlichen Körper zum käuflichen Objekt. Der Geschlechtsakt findet außerhalb der Ehe und außerhalb einer personalen, verantwortlichen Beziehung statt.81 In den Kirchen und in der evangelischen Sozialethik galt Sexualität lange Jahrhunderte nur in der Ehe als ethisch legitim. Sexualität wird in der evangelischen Sozialethik als Verantwortung von Männern und Frauen für die von Gott in der Schöpfung geschenkte Sexualität reflektiert. Sexualität ist nach einer theologisch verantworteten Auffassung nicht im Bereich der Käuflichkeit anzusiedeln, sie ist keine Ware, sondern hat ihren Ort in der verantworteten personalen Beziehung, in der Ehe und Lebenspartnerschaft. Sie basiert auf dem Respekt und der Würde der Sexualpartner:innen voreinander.82

Prostitution geht für Sexarbeiter:innen und Sexkäufer:innen mit seelischen und körperlichen Risiken einher. Insofern ist nicht nur die physische und psychische Vulnerabilität von Prosituierten in den Blick zu nehmen, sondern auch die physischen und psychischen Folgen der Prostitution für Sexkunden.83 Renate Kirchhoff weist darauf hin, dass neben einer individualethischen Reflexion, die sich auf „die Freier als Konsumenten sexueller Dienstleistungen konzentriert, auch eine sozialethische Betrachtung erforderlich sei…“, welche die Bedingungen des Sexkonsums und die Bedingungen zur Ausübung von Prostitution im weltweiten Sexmarkt in den Blick nimmt.84 Prostitution, auch als selbstbestimmte Sexarbeit, ist sozialethisch mit einem hohen Risiko der Verletzung der Menschenwürde verbunden, die durch Abwertung, Stigmatisierung und Darstellung als Sexobjekte zum Ausdruck kommt. Physische und psychische Gewalt, insbesondere sexuelle Ausbeutung und entwürdigende Darstellungen widersprechen dem Gebot der Nächstenliebe und der Würde, die jedem und jeder in der von Gott geschenkten Ebenbildlichkeit zukommt (vgl. Gen 1, 26f.). Gewalterfahrungen und Menschenrechtsverletzungen begegnen in der legalen wie auch in der illegalen Prostitution. Sie begegnen als Formen sexueller Ausbeutung und als Menschenhandel in einem international organisierten, kriminellen Milieu.

Menschen, die in der Prostitution arbeiten sind als sozial stigmatisierte und von sexueller Ausbeutung gefährdete Personen der Diakonie in besonderer Weise aufgetragen. „Wir verstehen unseren Auftrag als gelebte Nächstenliebe und setzen uns für Menschen ein, die am Rande der Gesellschaft stehen, die auf Hilfe angewiesen oder benachteiligt sind. Neben dieser Hilfe verstehen wir uns als Anwältin der Schwachen und benennen öffentlich die Ursachen von sozialer Not gegenüber Politik und Gesellschaft“, schreibt die Diakonie Deutschland auf ihrer Homepage.85 Insbesondere Menschenhandel und Zwangsprostitution, aber auch die seelischen und körperlichen Gefährdungen und Fragen der Gendergerechtigkeit im Kontext von sozialethisch verantworteten sexuellen Beziehungen sind dabei in den Blick zu nehmen – und zwar sowohl hinsichtlich der illegalen als auch der legalen Formen von Prostitution.

Insgesamt kann man festhalten, dass eine Befürwortung des legalisierten Sexkaufs nach dem ProstG und ProstSchG gewichtiger Gründe bedarf, die durch Evaluation nachweisbar sein müssen. Dazu zählen; eine verbesserte Lebens- und Arbeitssituation in der Prostitution, Entstigmatisierung der Sexarbeiter:innen und insbesondere die Minderung von Menschenhandel und sexueller Ausbeutung. Lässt sich eine Verbesserung der Lebens- und Arbeitssituation einer Mehrzahl von Sexarbeiter:innen und die Minderung von sexueller Ausbeutung und Menschenhandel im Rahmen der Liberalisierung des Sexmarktes nicht nachweisen, ist nach alternativen Lösungen zu suchen. In diesem Zusammenhang ist die Frage eines Sexkaufverbotes m.E erneut zu prüfen.

5. Thesenartige Zusammenstellung von Ergebnissen aus empirischen, datenbasierten Studien

Die zentralen Thesen dieses Artikels werden hier thesenartig zusammengefasst:

  1. Im Juli 2022 wird die durch das ‚Bundesministerium für Familien, Senioren, Frauen, und Jugend‘ initiierte Evaluation des ProstSchG starten. Ergebnisse sollen spätestens 2023 vorgelegt werden.86 Betrachtet man die bisher zur Verfügung stehenden statistischen Daten zur Prostitution in Deutschland und zum ProstG bzw. ProstSchG, kann man festhalten, dass zentrale Ziele der bundesdeutschen Gesetzgebung bisher nicht erreicht wurden. Entgegen den Erwartungen konnten kriminalitätsmindernde Effekte des ProstG und des ProstSchG kaum nachgewiesen werden. Die soziale Absicherung durch Sozialversicherung wurde nur in marginalem Umfang erreicht. Im Bereich der Bekämpfung von sexueller Ausbeutung und Menschenhandel zeigt das Gesetz bisher keine nachhaltigen Erfolge.

  2. Die These, dass durch die Legalisierung von Sexarbeit kriminelle Erscheinungsformen in der Prostitution, der Menschenhandel und die Zwangsprostitution gemindert werden, konnte nicht verifiziert werden. Vielmehr spiegeln wissenschaftliche Studien im internationalen Vergleich das Gegenteil. Sie zeigen, dass mit einer Legalisierung von Sexarbeit die Nachfrage nach Prostitution steigt und gleichermaßen eine signifikante Zunahme an Menschenhandel und Zwangsprostitution zu verzeichnen sind. Beide, Prostitution und Menschenhandel nehmen dort, wo der Sexkauf legalisiert ist, signifikant zu. Deutschland gilt laut einem Bericht des Europäischen Parlaments aus dem Jahr 2014 als ein Zielland für Menschenhändler:innen und einer der größten Märkte im globalen Sexgeschäft.87 Für diesen gesteigerten Sexmarkt wird in wissenschaftlichen Studien europäischer Institutionen eine gesteigerte Nachfrage verantwortlich gemacht. Eine isolierte Betrachtung der legalen Prostitution, die die Entwicklungen im Bereich der illegalen Zwangsprostitution und des Menschenhandels nicht zueinander in Beziehung setzt, wird dem engen Zusammenhang von legalen und illegalen Erscheinungsformen der Prostitution nicht gerecht. Die Nachfrage nach Sexkauf steht in einem statistisch nachweisbaren Zusammenhang zu sexueller Gewalt und Ausbeutung, zu Zwangsprostitution und Menschenhandel. Eine auf Ersuchen des FEMM-Ausschusses des Europäischen Parlaments88 in Auftrag gegebenen Studie nimmt in einem Vergleich der Gesetzgebung zur Prostitution aller EU-Mitgliedsstaaten darüber hinaus auch die Risiken grenzüberschreitender organisierter Kriminalität im Zusammenhang von Menschenhandel und Sexkauf in den Blick. Diese Kriminalität kann nach Aussage der Studie nur durch (eine von verschiedenen vorgeschlagenen Varianten der) Bestrafung von (illegalem) Sexkauf und eine damit einhergehende Harmonisierung der Gesetzgebungen in der EU reduziert werden.89

  3. Zwangsprostitution und sexuelle Ausbeutung finden in Deutschland und Europa auch im Bereich legaler Sexarbeit statt. Wo wirtschaftliche Zwänge oder psychische Abhängigkeit in die Prostitution führen, liegen Formen von Zwangsarbeit und sexueller Ausbeutung vor. Die formale Unterscheidung von ‚selbstbestimmter, legaler Sexarbeit‘ von krimineller Zwangsprostitution und ausbeuterischem Menschenhandel gehört zu den Unschärfen in der Diskussion um Sexarbeit. Dabei wird in der Regel Freiwilligkeit mit Selbstbestimmung in eins gesetzt. Die freiwillige Einwilligung in eine finanziell und sexuell ausbeutende Arbeitssituation und die Unfähigkeit, diese wieder zu beenden, kann aber nicht als Selbstbestimmung gedeutet werden, wenn wirtschaftliche, psychische und auch physische Zwänge zur Ausübung der Sexarbeit nötigen.

  4. Selbstbestimmung, Entstigmatisierung und Vulnerabilität sind im Diskurs um Sexarbeit zueinander ins Verhältnis zu setzen. Die Arbeit im legalen und im illegalen Bereich von Prostitution geht für eine Mehrheit der darin Arbeitenden mit hohen psychischen und physischen Risiken einher. Sexuelle Belästigung, Vergewaltigungen, körperliche und seelische Gewalt sowie soziale Stigmata wurden in Evaluationen über Sexarbeit – auch im legalen Bereich - erhoben. Traumatisierungen, Dissoziationen, Scham, Ekel und Verdrängung gehören wie auch Drogen- Medikamentenmissbrauch und Alkoholerkrankungen zu den Begleiterscheinungen der legalen und illegalen Sexarbeit.

  5. Fachlich umstritten ist das sogenannte Sexkaufverbot, das – zuerst in Schweden eingeführt und als Schwedisches bzw. Nordisches Modell bekannt geworden – mittlerweile weltweit in verschiedenen Ländern eingeführt wurde (z.B. Frankreich, Kanada u.a.). Die Behauptung, dass durch ein Sexkaufverbot die Gewalt gegen Prostituierte gravierend zunimmt, erweist sich bei Prüfung der Quellen als falsche Zitation empirischer Studien. Eine Zunahme gravierender Gewalt durch ein Sexkaufverbot ist empirisch nicht nachweisbar. Vielmehr zeigen internationale Querschnittstudien90, dass ein generelles Verbot der Prostitution, das sich auch auf die, die Prostitution ausübende Person bezieht, zu einer gravierenden Zunahme an Gewalt gegen Sexarbeiter:innen führt. Wo dagegen Sexkäufer, in der Regel Männer / Freier, bestraft werden, nicht aber die Prostituierte selbst, ist eine gravierende Zunahme von Gewalt nicht zu verzeichnen. Allerdings wird von erschwerten Rahmenbedingungen, von leichteren Übergriffen, erhöhten Unsicherheiten bei der Anbahnung von Kundenkontakten im Straßenstrich und unter bestimmten Voraussetzungen von einem erschwerten Zugang zu Beratungsstellen berichtet. Es liegen aber auch Aussagen von Prostituierten aus Schweden vor, die von unterstützenden Beratungsstellen und größerem Sicherheitsgefühl berichten. Die Befragungen von Prostituierten in Schweden sind im Kontext der Gesamtsituation zu lesen, die ein signifikantes Sinken der Nachfrage nach Sexkauf, ein signifikantes Sinken von Sexarbeit insgesamt, eine signifikante Abnahme der Gewalt gegen Prostituierte insgesamt, durch eine signifikante Reduktion des Sexmarktes, ein Erliegen des Menschenhandels und eine gesellschaftliche Ablehnung des Sexkaufs als sexuelle Ausbeutung und patriarchales Rollenverhalten dokumentieren.

  6. Umstritten ist die sozialethische Deutung von Sexarbeit als selbstbestimmte Dienstleistung. Betrachtet man die in diesem Artikel dargestellten Forschungen zur Sexarbeit, ist lediglich von einem kleinen Prozentsatz der Sexarbeiter:innen auszugehen, die diese Lebens- und Arbeitssituation als selbstbestimmte Dienstleistung zeitweise freiwillig ausführen. Legalisierung des Sexkaufs trägt – das wird aus Polizeiberichten erkennbar - zu einer öffentlichen Entstigmatisierung des Sexkaufs bei und zu seiner Legitimation als selbstbestimmter Arbeit. Sie geht in Deutschland mit einer erhöhten Nachfrage und einer statistisch erfassbaren Zunahme an Angeboten zum Sexkauf einher. Aus dem ‚Bundeslagebild Menschenhandel und Ausbeutung‘ des Bundeskriminalamtes von 201991 wird erkennbar, dass dies zu einem selbstbewussteren öffentlichen Auftreten von Sexarbeiter:innen beiträgt. Aussteiger:innen wiederum berichten davon, dass sie sich durch das öffentlichen Bild der selbstbestimmten Sexarbeiter:in von Politik und auch Berater:innen im Stich gelassen fühlten, weil diese, Selbstbestimmung voraussetzend, die psychische und seelische Not der Betroffenen nicht erkannten. In Publikationen von Aussteiger:innen wird die Selbstbestimmung als ein Konstrukt kritisiert, das den realen Lebensbedingungen, Dissoziationen und Gewalterfahrungen in der Prostitution nicht gerecht wird, sondern hilft, diese zu verschleiern.92

  7. Prostitution, Sexarbeit, Zwangsprostitution und Menschenhandel stehen in einem unauflöslichen Zusammenhang. Lösungen müssen daher den gesamten gesellschaftlichen Kontext in den Blick nehmen und dabei auch sozialethische Aspekte, Genderkonstrukte, kriminelle Formen und psychische und soziale Zwänge berücksichtigen. Anhand der hier aufbereiteten Studien ist mit der vom Europäischen Parlament in Auftrag gegebenen Studie ein Weg gewiesen durch ein Sexkaufverbot die Nachfrage nach Sexarbeit zu senken und Sexarbeiter:innen zu unterstützen. Zwei Varianten stehen zur Auswahl: ein generelles Sexkaufverbot oder das Verbot und die strafrechtliche Verfolgung des Sexkaufes von staatlich nicht erfassten, illegalen Sexangeboten.93

6. Schluss: Lösungswege

Das ProstG intendiert einen Paradigmenwechsel in der Wahrnehmung der in der Prostitution arbeitenden Personen, indem es Prostitution als selbstbestimmte Dienstleistung verstehen will. Das Paradigma der Selbstbestimmung hat seinen fachlichen Ort in der professionellen Beziehungsarbeit mit Menschen, die in der Prostitution arbeiten. Um die psychische Gesundheit in belastenden Situationen aufrecht zu erhalten, müssen Klient:innen von Sozialarbeiter:innen und Psycholog:innen in ihrer Selbstachtung und Selbstbestimmung gestärkt und gefördert werden. Das ist anzuerkennen und als Methode der Beratung auch weiterhin aufrecht zu erhalten. Auch ist von einem Anteil von Frauen und Männern auszugehen, die Prostitution zeitweise freiwillig und selbstbestimmt ausüben.

Als politisches und sozialethisch verantwortetes Konzept für eine wirksame Gesetzgebung kann das Paradigma der selbstbestimmten Prostitution m.E. als alleiniges Interpretament von Prostitution und Sexarbeit nicht überzeugen. Die kriminellen und gewaltförmigen Formen eines innereuropäischen Sexmarktes und insbesondere die Zunahme von Zwangsprostitution und Menschenhandel durch eine gesteigerte Nachfrage, sollten dazu führen, den Schutz einer Mehrzahl, in der Regel aus den Armutsregionen Europas kommenden Sexarbeiter:innen in den Blick zu nehmen. Für Frauen, die aufgrund von Täuschungen, unter Ausnutzung von psychischen oder sozialen Krisen oder aufgrund sozialer Notlagen in die Prostitution gebracht werden, kann von Selbstbestimmung nicht ausgegangen werden. In der Unterscheidung eines freiwilligen, selbstbestimmten Typus von einem nicht freiwilligen Typus in der Prostitution kommt Julia Wege auf der Grundlage von biografischen Interviews mit Sexarbeiter:innen zu dem Ergebnis, dass dort, wo Frauen in sozialen oder psychischen Krisen in die Prostitution einwilligen, nicht von Freiwilligkeit ausgegangen werden kann: „Aufgrund dieser prekären Ausgangslage kann die Ausübung der Prostitutionstätigkeit nicht wie beim ersten Typus als freiwillig gelten, sondern muss als fremdbestimmt und unfreiwillig eingestuft werden.“94 In der Realität ist einer Vielzahl im Dunkelfeld ausgebeuteter Opfer des Sexmarktes in Deutschland zu verzeichnen, deren Anzahl mit dem ProstG nicht minimiert werden konnte. Dass eine gesteigerte Nachfrage auch zu einer Steigerung von Zwangsprostitution, sexueller Ausbeutung und Menschenhandel führt, sollte von einer verantwortlichen Politik und Gesetzgebung stärker in den Blick genommen werden. Die von Julia Wege als nicht freiwillig analysierte Form der Prostitution findet im Bereich der Migration statt: „So ist es kein Zufall, dass in dem Sample der vorliegenden Studie überwiegend Migrantinnen dem zweiten Typus zuzuordnen sind, da sie in der Regel kaum ausreichende Sprachkenntnisse haben und nur unzureichende Kenntnisse über das deutsche Sozialsystem aufweisen.“95 Auch die vom FEMM-Ausschuss des Europäischen Parlaments in Auftrag gegebene Studie geht davon aus, dass „ … immer mehr Opfer (von Menschenhandel, A.N.) handeln im Rahmen vermeintlich freiwilliger Geschäftsvereinbarungen. Für die Kunden gilt: … (Kunden, A.N.), die häufig bei ausländischen Prostituierten (die die große Mehrheit stellen) sexuelle Dienstleistungen kaufen, kaufen diese mit großer Wahrscheinlichkeit bei Opfern von Menschenhandel.“96 Die seelischen und körperlichen Verletzungen einer Mehrzahl von sexuell ausgebeuteten Frauen und Männern müssen ins Verhältnis gesetzt werden zur Sexarbeit einer Minderheit von Frauen und Männern, die sich als selbstbestimmt verstehen und im Sexmarkt verhalten können. Dieser als Typus eins von Julia Wege analysierte Variante der Sexarbeit weist folgende kulturellen und ökonomischen Merkmale auf: „Hier ist von Bedeutung, dass es sich bei ihnen überwiegend um Frauen handelt, die der Mehrheitsgesellschaft angehören, ausreichend deutsche Sprachkenntnisse aufweisen und über soziales und kulturelles Kapital verfügen. Sie haben sprachliche und sozial codierte Kompetenzen, die es ihnen erlauben, sich im Rotlichtmilieu entsprechend durchzusetzen und mit den Freiern zu kommunizieren bzw. zu verhandeln. Sie kennen ihre Grenzen und sind in der Lage, sich bei gewaltsamen Übergriffen zur Wehr zu setzen, was z.B. illegal tätigen Frauen in ihrer abhängigen Lage in der Regel verwehrt bleibt.“97 Julia Wege weist darauf hin, dass es für die unterschiedlichen Typen der Prostitution auch unterschiedliche auf die jeweiligen Unterstützungsbedarfe der Sexarbeiter:innen hin ausgelegte Beratungsangebote bedarf.

Angesichts der vulnerablen Situation, insbesondere der 70-80%, die mit Migrationshintergrund im Sexmarkt arbeiten und ausgebeutet werden, sollte der Schutz vor sexueller Ausbeutung und die Minimierung der Nachfrage nach sexuellen Dienstleistungen im Vordergrund der Betrachtung von Prostitution stehen. Eine Normverschiebung nach schwedischem Modell, das Sexkauf als sexuelle Ausbeutung thematisiert, die Frage der Gleichstellung der Geschlechter und der männlichen Rollenklischees sind in inem breiten gesellschaftlichen Diskurs zu thematisieren. Das Paradigma der Selbstbestimmung, das für einen kleineren Teil der Sexarbeiter:innen zutreffend sein mag, kann und sollte m.E. nicht handlungsleitend in der Gesetzgebung und in der öffentlichen Aufklärung über Prostitution sein. Vielmehr sollten Vulnerabilität, psychische und physische Risiken in der Prostitution und die sexuelle Ausbeutung in einem globalisierten Sexmarkt im Vordergrund stehen. Die Rolle der Kund:innen sollte dabei kritisch im Blick sein, da die Nachfrage nach käuflichem Sex und stereotype Männlichkeitskonstrukte wesentliche Voraussetzungen eines Wachstums des legalen und illegalen Sexmarktes sind.

In Kirche und Diakonie ist m.E. ein Diskurs aufzunehmen, der die Nachfrage nach Sexkauf kritisiert und wirksame Schritte gegen eine Ausbreitung des Sexmarktes in Deutschland fordert. Das ProstG sollte m.E. durch eine Gesetzgebung weiterentwickelt werden, die einen Bewusstseinswandel der Käufer bewirkt und die Nachfrage nach käuflichem Sex deutlich mindert. Die Bekämpfung von psychischer und physischer Gewalt gegen erwachsene und auch minderjährigen Personen, die in der Prostitution tätig sind bzw. sein müssen, sollte bei allen Überlegungen im Vordergrund stehen. Das Gesetz sollte diejenigen, die in der Prostitution arbeiten, nachhaltig unterstützen und Formen der Zwangsprostitution und des Menschenhandels wirksam unterbinden. Dazu gehört eine deutlich normierende Aussage darüber, dass Sexkauf grundsätzlich ethisch problematisch ist, da Sexkauf einen Sexmarkt fördert, der auf sexueller Ausbeutung der darin Arbeitenden besteht. In der ethischen Güterabwägung zwischen einer Mehrheit, die von sexueller Gewalt und Ausbeutung in der legalen und illegalen Prostitution betroffen ist und der Selbstbestimmung einer kleineren Anzahl selbstbestimmt aus Neigung arbeitenden Frauen und Männern, steht die Fürsorge für die vulnerablen Personen im Vordergrund. Das anwaltschaftliche Mandat für Menschen, die sexuell und materiell ausgebeutet werden, auf das sich Kirche und Diakonie unter Berufung auf das Evangelium beziehen, muss auch für Frauen in Prostitution und Menschenhandel Vorrang haben. Sollte die fachliche und juristische Weiterentwicklung eine Lösung bieten, nach der Frauen und Männer unter staatlicher und gesundheitlicher Kontrolle an geschützten Orten zumindest biografisch zeitweise einer tatsächlich selbst gewählten und mit Neigung ausgeführten Form der Prostitution nachgehen können, wäre dies sexualethisch aus kirchlicher Sicht nicht wünschenswert, aber ethisch tolerierbar im Blick darauf, dass sich Prostitution – ähnlich wie Glücksspiel – als gesellschaftliches Phänomen nicht vollständig wird verdrängen lassen. Der zweite Vorschlag der vom Europäischen Parlament in Auftrag gegebenen Studie zur Regulierung länderübergreifender organisierter Kriminalität im Bereich des Menschenhandels könnte hier als Kompromissmodell zwischen der in Deutschland eingeführten regulativen Gesetzgebung im liberalisierten Sexmarkt und einem Sexkaufverbot mit strafrechtlicher Verfolgung der Sexkäufer nach schwedischem Modell darstellen. Der Kriminologe Andrea di Nicola schlägt darin vor, den Übergang zwischen einem illegalen, auf Zwang und Menschenhandel basierenden Markt in einen staatlich regulierten Bereich dadurch zu schließen, dass der Sexkauf von Dienstleistungen, die nicht der staatlichen Regulierung unterliegen, strafrechtlich verfolgt wird.98

Annette Noller 2017 / 2021 / 7.1.2022; 27.03.2022

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