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Gastfreundschaft eröffnet – was oder wen?

Published onJun 21, 2022
Gastfreundschaft eröffnet – was oder wen?
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Überlegungen im Gespräch mit Martin Buber und Emmanuel Levinas1

»If there is a more desolate, inhospitable habitation anywhere on the planet, I hope never to see it.«2

Sowohl der Jubilar als auch der Verfasser dieser Zeilen sind passionierte Bergsteiger. Das zitierte Urteil werden sie aber wohl kaum nachprüfen können, handelt es doch vom Südsattel des Mt. Everest, 7950 m. hoch gelegen und berüchtigt für seine dauerhaft starken Stürme, arktischen Temperaturen und den binnen kurzer Frist lebensgefährlichen Sauerstoffmangel. Dort muss ein Lager beziehen, wer den höchsten Berg der Welt über den nepalesischen Normalweg besteigen möchte. Dass dies Lager »inhospitable«, ungastlich, sein dürfte, lässt sich denken, auch wenn man (leider oder gottseidank?) nicht dort war.

Was aber trägt sich eigentlich zu, wenn man nicht in der Todeszone bei -30 °C auf einem wackligen Gaskocher Expeditionsnahrung zubereiten muss? Das Phänomen Gastfreundschaft, offenkundiges Gegenstück dieses Daseinszustands, ist einen konzentrierten Blick wert. Das gilt zumal, weil sich zeigen lassen dürfte, dass die diakoniewissenschaftliche und die systematisch-theologische Sicht auf das Phänomen vielleicht unterschiedlich, aber darin gewiss nicht berührungslos sind. Ich beginne mit einer Phänomenbeschreibung, die sich einer idealtypischen Gegenüberstellung bedient, suche im Gespräch mit Martin Buber und Emmanuel Levinas sodann die Prämissen dieser Gegenüberstellung auf und erwäge zum Schluss, wie eine Theologie der Gestbereitschaft aussehen könnte, die diese Gesprächsimpulse aufnimmt: Gute Gründe sprechen dafür, die Frage nach den Effekten von Gastfreundschaft, nach sozialdiakonischen Konsequenzen und anderem erst einmal fahren zu lassen, und das Phänomen Gastlichkeit an sich zu betrachten und theologisch verstehen zu lernen.3

1. Gastfreundschaft

Einfach scheint die Frage, was Gastfreundschaft eigentlich ist: Wer gastbereit ist, öffnet sein Haus und seine Speisekammer für den Gast. Wer Gastfreundschaft gewährt, hat überdies Zeit, die er dem Gast zur Verfügung stellen kann und nicht z.B. für Erwerbsarbeit oder eigene Zerstreuung nutzt. Der Gastgeber, die Gastgeberin hat und gibt: Platz bei sich, Güter und – vielleicht am wertvollsten – Zeit. Umgekehrt ist es so, dass der Gast sich bedankt: »für den Platz an eurem Tisch, für jedes Glas das ich trank, für den Teller, den ihr mir zu den euren stellt, als sei selbstverständlicher nichts auf der Welt«, wie Reinhard Mey es besang. Und nicht nur für dies Sichtbare, sondern dafür, »dass man von draußen meint, dass in euren Fenstern das Licht heller scheint«.4 Gastfreundschaft scheint also der Logik von Fülle und Freigiebigkeit auf der einen und von einer wie auch immer gearteten Bedürftigkeit und jedenfalls Dankbarkeit auf der anderen Seite zu gehorchen. Und daran wird schon etwas sein. Auch lässt sich diese Vorstellung von Gastfreundschaft ja mühelos in diakonische Erwägungen übertragen: Diejenigen, denen Gastfreundschaft gewährt wird, sind nachgerade dadurch ausgezeichnet, dass sie den einen oder anderen Mangel erleben, der sie bedrohen würde, gewährte man Gastfreundschaft nicht. Diese ist schließlich nicht aufs gemeinsame abendliche Essen und Trinken beschränkt, sondern kann vieles umfassen, von der medizinischen Notversorgung bis hin zu dauerhafter Unterbringung in den verschiedensten Formen behüteten und betreuten Wohnens.

So weit also, so klar. Es muss nichts, überhaupt nichts schlecht sein an dieser Vorstellung von Gastfreundschaft. Und doch ist es ein einseitiges Bild. Denn es arbeitet wie selbstverständlich mit der Annahme, dass Gastgeber zu sein ein Akt der Souveränität ist. Der so verstandene Gastgeber muss nicht nur etwas besitzen, das er teilen kann. Er ist der Souverän, weil er sich dazu entscheiden kann und weil aus der ihm zur Verfügung stehenden Fülle dem Mangel, den der Gast leidet, Abhilfe geschehen kann. Sieht man die Einseitigkeit dieser sehr weit verbreiteten Vorstellung, dann wird der Weg frei für ein anderes Bild: Der Gastgeber ist vielmehr der Empfangende. Er öffnet seine Tür und seine Zeit, weil er des Gastes bedarf. Ohne ihn – den Gast – wäre sein Leben ärmer. Und vielleicht weiß er noch gar nicht, was der Gast durch sein Kommen mitbringt. Gastbereitschaft, so verstanden, ist das Empfangen des Unbekannten, des Fremden. Der Gastgeber ist dabei der Empfangende, derjenige, der beschenkt wird. Und das geht damit einher, dass der Souveränitätsdiskurs – ›mein Haus, mein gedeckter Tisch, meine Kenntnis dessen, was mein Gast wohl benötigt oder aber gern hat‹ – ausgehebelt wird. Es ist genau dieses Verhältnis von Gast und Gastgeberin, das unvertraut ist, und gerade als solches aber überraschende Einsichten bereithält. Um hier weiterzukommen, ist ein Blick in die theoretischen Grundlagen hinter der Phänomenbeschreibung nötig.

2. Was aber ist Begegnung? Martin Buber und Emmanuel Levinas

Buber und Levinas stehen wie niemand sonst für die Traditionen dialogischen Philosophierens. Und ist Gastfreundschaft mindestens auch ein dialogisches Phänomen, sollte man davon Aufschluss erwarten dürfen. Im Umriss sieht es so aus:

Martin Buber legte in seinem bekanntesten Werk, das gut und gern als philosophische Meditation bezeichnet werden kann, eine wohlbekannte Unterscheidung vor: »Es gibt kein Ich an sich«, so die Grundeinsicht, »sondern nur das Ich des Grundworts Ich-Du und das Ich des Grundworts Ich-Es«.5 Die Ich-Es-Relation ist die Beziehung eines souveränen Subjekts zu einem Ding. Es kann dies Ding beschreiben und/oder gebrauchen. Indem das Ich aber beschreibend oder gebrauchend tätig ist, ist es in Distanz zu dem, was es beschreibt oder gebraucht. Das Ich hat ein Objekt. Dies gilt für alle möglichen Dinge und Dingzusammenhänge, es gilt freilich auch für Ich-Es-Relationen zu Menschen. Wer im Supermarkt Waren einkauft, geht eine solche Relation auch zur Verkäuferin an der Kasse ein, und es ist nicht einzusehen, was daran schlecht sein soll, sofern dies nicht die einzige Relation ist, in der die Verkäuferin sich vorfindet. Freilich, es handelt sich um die Ding-Relation: Gegenstände benennen, Dinge gebrauchen, ihnen gegenüber sowohl souverän als auch distant sein. Fumndamental anders ist es mit dem Grundwort Ich-Du: »Stehe ich einem Menschen als meinem Du gegenüber, spreche ich das Grundwort Ich-Du zu ihm, ist er kein Ding unter Dingen und nicht aus Dingen bestehend.«6 Es ereignet sich vielmehr das Grundphänomen der Begegnung. Diese ist von der distanzierenden Kenntnis der Dingwelt fundamental unterschieden: »Was erfährt man also vom Du? – Eben nichts. denn man erfährt es nicht. – Was weiß man also vom Du? – Nur alles. Denn man weiß von ihm nichts Einzelnes mehr.«7 Dies ist keine Begriffsbeziehung – welche in sich gar keine Beziehung sondern lediglich mehr oder weniger subtiler Besitz ist –, es handelt sich vielmer um eine Dialogbeziehung. Und wer dies nicht erführe, sich diesem Grundwort und der mit ihr stattfindenden riskanten Beziehung nicht aussetzte, würde vielleicht zum zynisch Distanzierten, gewiss aber nicht zu Mensch und Mitmensch. Die berühmte Formulierung lautet: »Das Grundwort Ich-Du kann nur mit dem ganzen Wesen gesprochen werden. Die Einsammlung und Verschmelzung zum ganzen Wesen kann nie durch mich, kann nie ohne mich geschehen; Ich werde am Du; Ich werdend spreche ich Du.«8

Dieser Grundgedanke ist enorm populär geworden und hat nicht zuletzt auch außerhalb von Philosophie und religiösem Denken Anerkennung und Adaption erfahren.9 Dies macht freilich fast vergessen, dass Bubers Gedanke eine theologische und nachgerade mystische Pointe hat. Zunächst klingt es allgemein: »Der Mensch wird am Du zum Ich.«10 Aber Buber bestimmt dies mit einer theologischen Pointe: »Der Zweck der Beziehung ist ihr eigenes Wesen, das ist: die Berührung des Du. Denn durch die Berührung jedes Du rührt ein Hauch des ewigen Lebens uns an.«11 Was aber ist das? Bubers Sprachgestus ist durchgängig vorsichtig. Das Ereignis Ich-Du lässt etwas aufscheinen von dem, was Menschen allererst zu Menschen macht und das sie doch nicht von sich aus herstellen können. Es ist in ursprünglicher Weise kreativ und es befreit und erlöst aus den Sachzwängen der Ich-Es-Welt. Es begegnet in der Eswelt, aber es sprengt sie auf und bestreitet ihre Alleinwirksamkeit.12 Das ist, was Menschen empfangen, obwohl sie keinen Inhalt, kein Ding empfangen, »sondern eine Gegenwart, eine Gegenwart als Kraft«.13 Das ewige Du – Bubers an Ex 3,14 gebildetes Wort für Gott – begegnet inmitten der Zerrüttungen der Eswelt, mit denen es doch nie eins wird. Und es ruft in eine Beziehung, die kein Haben, auch kein ›Gott-haben‹ ist – denn wer hier meint, er ›habe Gott‹ hat sich ja ohnehin bereits wieder an die Eswelt verloren.

Aus diesem Grund ist es richtig von Bubers Dialogmystik zu sprechen.14 Für die Metaphorik der Gastfreundschaft hat sie mindestens zwei große Vorteile: Zum einen erlaubt sie, die zweite oben angerissene Form der Gastfreundschaft ganz entschieden zu unterstreichen. Der erste Fall hat nicht zufällig deutliche Anklänge an die Ich-Es-Beziehung: Wer – angeblich – die Bedürfnisse des Gegenüber kennt und sich in allen Belangen um ihn kümmern kann, hat offensichtlich ein sehr weitgehendes Bild, eine Vorstellung von ihm: Was er aber kennt, ist ein Es in seiner Vorstellung und damit nimmermehr Du, an dem er selbst zum Ich würde. Wer jeden Wunsch des Anderen weiß, macht ihn zum Empfänger von Wohltaten, aber nicht zum Gegenüber. Das geht erst mit dem Grundwort Ich-Du, welches aber zugleich die Aufgabe des Souveränitätsdiskurses mitsetzt. Und zum anderen zeigt die genannte theologische, ja: mystische Pointe, dass die theologische Behauptung, diakonisches Handeln begründe sich nicht selbst, sondern geschehe in Gottes Auftrag, erstaunlich erfahrungsnah plausibilisiert werden kann. Billiger jedenfalls ist der Anspruch theologisch verstandener Gastfreundschaft nicht zu haben.

Sind wir bereits am Ziel? Die Anwendbarkeit von Bubers Grundunterscheidung Ich-Du und Ich-Es samt ihrer theologischen Pointe könnte dies nahezu glauben machen. Die Dinge verkomplizieren sich freilich, wenn einer der anderen Großen des dialogischen Denkens aufgerufen wird, Emmanuel Levinas. Auch er beginnt phänomenologisch, sieht aber zugleich hinter dem, was Martin Buber als beglückend zu empfinden scheint, Schwierigkeiten und etlichen Differenzierungsbedarf. Ich zeichne eine – der Begriff wird selber wichtig – Spur anhand eines programmatischen Aufsatzes und beziehe einige Verweise auf Schlüsselwerke anderer ein. Die Spur besteht aus fünf Elementen:

Man muss, erstens, grundsätzlich beginnen: Was tut eigentlich, wer philosophiert? Antwort: Er oder sie identifiziert etwas, was nicht er oder sie selbst ist. Und die große Antwort abendländischer Philosophie auf diese Frage war und ist: Das Andere manifestiert sich als Sein. Was nicht Ich ist, gehört in den großen Korpus des Seins. Es ist Seiendes unter anderem Seienden. Als solches kann es verstanden werden. Dieser Akt des Verstehens – und das wird Levinasʼ Pointe werden – ändert jedoch an der Souveränität des Ichs nichts. Was verstanden wurde, das trübt die Autonomie des Bewusstseins nicht, welches versteht.15 Es klingt hier nach Ich-Es in der Terminologie Martin Bubers, und so ist es wohl auch gedacht. Wie aber weiter?

Wer Seiendes als Seiendes erkennt, praktiziert, zweitens, eine Form der Rückkehr: Ein Etwas, das ich noch nicht kenne, wird bekannt dadurch, dass es ins bekannte Inventar des Seins eingeordnet wird. Das ist »die Verwandlung des Anderen in das Selbe«.16 Ausdrücklich im Gestus der Frage aber heißt es: »Gibt es ein Bedeuten von Bedeutung, das nicht auf die Verwandlung des Anderen in das Selbe hinausläuft? Kann es so etwas Befremdliches geben wie die Erfahrung eines absolut Äußeren, etwas in den Termini so Widersprüchliches wie eine heteronome Erfahrung?«17 Falls das so wäre, würde zur enorm großen Geschichte der Philosophie als Lehre vom Sein eine Gegengeschichte aufgemacht. Levinas illustriert die beiden selbst an Geschichten: Die »Verwandlung des Anderen in das Selbe« wird prototypisch von Odysseus abgebildet: Er nimmt an allem Teil und lernt noch das Fremdeste kennen; am Schluss aber kehrt er zurück nach Ithaka und integriert all diese Fremdheit in seine vertraute Welt, die er überdies aus der Fremherrschaft zurückgewinnt. Audiatur et altera pars: »Dem Mythos von Odysseus, der nach Ithaka zurückkehrt, möchten wir die Geschichte Abrahams entgegensetzen, der für immer sein Vaterland verläßt, um nach einem noch unbekannten Land aufzubrechen, und der seinem Knecht gebietet, selbst seinen Sohn nicht zu diesem Ausgangspunkt zurückzuführen.«18 Gibt es das – und noch wird gänzlich im Konjunktiv gesprochen –, so hat es eine theologische Qualität. Gott soll offenbar nicht als Inbegriff des Seins gedacht werden, wie es die griechische Philosophie samt ihrer (christlich-)theologischen Adaptionen unternahm. Aber wie dann? Das ist der nächste Gedankenschritt:

So, sagt Levinas, dass man Bedürfnis und Begehren voneinander unterscheidet.19 Bedürfnis ist das Bedürfnis eines Ichs. Es kehrt zu ihm zurück und es ist Sorge um sich.20 In irgendeiner Weise geht ihm die Erfahrung eines Mangels voraus. Das Bedürfnis artikuliert also eine wie auch immer geartete Schieflage des Subjekts und es wird verschwinden, wenn diese Schieflage – von Hunger und Durst über das sexuelle Verlangen bis hin zu allen anderen Formen des irgendwie empfundenen Wissens- und Erfahrungsdefizits – befriedigt wurde. Was wäre das Gegenstück? Levinas nennt es in einer Anspielung auf Paul Valéry Begehren. Begehren verlangt nichts für sich selbst, sondern ist gänzlich auf den Anderen gerichtet. Der Andere ist nicht die Bedrohung des Ich, so als würde es ihm Lebensmöglichkeiten rauben. Es ist auch nicht nur seine Ergänzung, deren das Ich sich für die eigenen Strebensziele auf die eine oder andere Weise bedient. Vielmehr: »Das Begehren des Anderen entsteht in einem Wesen, dem nichts fehlt, oder genauer, es entsteht jenseits all dessen, was ihm fehlt oder was es befriedigen kann.« Es ist nichts weniger als »unser soziales Sein selbst«.21 Gibt es das, so ist es kategorial von der Bedürfnisbeziehung unterschieden. Gibt es das, so muss selbst die Bestimmung ›es gibt‹ in Anführungszeichen gesetzt werden, weil es sich nicht um eine Vorhandenheit handelt, die mit ontologischen Kategorien beschreibbar wäre. Es ereignet sich, und damit sprengt es die Logik des Bedürfnisses. der Andere kommt als Anderer in den Blick, und das ist eine grundsätzlich neue Qualität: »Die Beziehung zum anderen stellt mich in Frage, sie leert mich von mir selbst; sie leert mich unaufhörlich, indem sie mir so unaufhörlich neue Quellen entdeckt. […] Das Begehrenswerte sättigt nicht das Begehren, sondern vertieft es, es nährt mich in gewisser Weise mit neuem Hunger.«22 Zwei Kernbegriffe gehen damit einher: Die Begegnung mit dem Anderen ist nichts weniger als »die Epiphanie des Anderen« und sie manifestiert sich in seinem »Antlitz«.23 Sehe ich in ein Antlitz, so sehe ich nicht einen Gegenstand, es ereignet sich vielmehr Begegnung. – Auch das ›klingt noch einmal nach Buber‹, und man könnte versucht sein, Begehren nach Levinas und das Grundwort Ich-Du nach Buber zu identifizieren. Spätestens hier aber treten die nicht unerheblichen Unterschiede zutage.

Denn wie und als was zeigt sich das Antlitz? Antwort: »Seiner Form nach ist das Antlitz durch und durch Nacktheit. Das Antlitz ist Not. Die Nacktheit des Antlitzes ist Not, und in der Direktheit, die auf mich zielt, ist es schon inständiges Flehen. Aber dieses Flehen fordert. […] Und dadurch kündigt sich die ethische Dimension der Heimsuchung an.«24 Blicke ich dem Gegenüber ins Angesicht, so ist dies ein unmittelbares Ereignis. Es ist als solches Präsenz und es verunmöglicht die Distanznahme des Bewusstseins in Akten des Erkennens und des Einordnens. Die Unmittelbarkeit des Antlitzes ist dasselbe wie die Forderung: ›Ich bin ungeschützt. Bewahre mich‹. Das Antlitz des Anderen bleibt eben anders. Von gelingender Gemeinschaft und sorgloser Kommunikation ist eben nicht die Rede. Die Forderung, das Flehen des Antlitzes folgt der Logik bleibender Alterität. Diese phänomenologische Beobachtung – und um mehr handelt es sich in der Kürze eines programmatischen Aufsatzes nicht – zeigt den entscheidenden Unterschied zur Dialogmystik bei Martin Buber.

In den Tagen der Niederschrift dieses Aufsatzes begann die Invasion der Russischen Föderation in der Ukraine. Es gab Fernsehbilder, nach denen sich einzelne Menschen unbewaffnet und völlig schutzlos vor einrückende russische Panzer stellten, offenkundig bereit, unmittelbar den Tod zu erleiden, und eben nackten Antlitzes vor der Panzerbesatzung. Das ist in der Dramatik des militärischen Überfalls die Funktion des Antlitzes nach Levinas: Die Präsenz der Forderung namens ›töte mich nicht!‹. Wo sie gehört wurde – und manche der Medienberichte dürfen glauben machen, dass es mindestens vereinzelt geschah –, fand nichts weniger als das statt, was Emmanuel Levinas die Epiphanie des Antlitzes genannt hätte.

Levinas kann auch davon sprechen, dass »die Awesenheit des Antlitzes eine nicht abzulehnende Anordnung, ein Gebot, das die Verfügungsgewalt des Bewußtseins einschränkt«, ist.25 Die »Verfügungsgewalt des Bewußtseins« ist seine Fähigkeit, jederzeit zu sich zu kommen und ihm begegnendes Seiendes in den Rahmen des Seins einordnen zu können. Was mit dem Anderen als Anderem, was mit dem Momentum des Antlitzes passiert, gehört also präzise nicht in den Zusammenhang alles Seienden. Wissen um Seiendes und Verantwortung für den Anderen sind stricte zweierlei. Das führt im letzten Schritt zur explizit theologischen Pointe, die mit den beiden Namen Odysseus und Abraham bislang allenfalls angeklungen ist:

»Die personale Ordnung, zu der uns das Antlitz nötigt, ist jenseits des Seins.«26 Das ist ein wuchtiger Satz und zugleich eine komplexe Anspielung, denn sie zitiert nicht nur den Titel von Levinasʼ erstem Hauptwerk,27 sondern darin den Bezug auf eine berühmte und umrätselte Stelle aus der Deutung des Sonnengleichnisses in Platons Politeia: Die Sonne wird hier als Bild für diejenige Größe eingeführt, die nicht nur die Erkennbarkeit aller anderen Größen ermöglicht – nichts, was nicht durch Sonnenlicht hell würde, kann durch den Gesichtssinn, ὄψις, erkannt werden –, sondern das sie zuvörderst hervorbringt und ermöglicht, τὸ εἶναι τε καὶ τὴν οὐσίαν gibt.28 Und weil diese Größe beides ermöglicht, das Erkennen wie das Sein dessen, was erkannt wird, so muss sie ἐπέκεινα τῆς οὐσίας, »jenseits des Seins« ihr Wesen haben. Oder noch knapper: οὐκ οὐσίας ὄντος τοῦ ἀγαθοῦ, »nicht vom Sein ist das Gute«. Emmanuel Levinas bezieht das nun auf den Grundunterschied von vorstellendem Denken des Seienden einerseits und der unverfügbaren und gebietenden Präsenz des Anderen andererseits. Ist letzteres ἐπέκεινα τῆς οὐσίας, jenseits des Seins, dann muss es in irgendeiner Weise theologisch qualifiziert werden. Und in der Tat: Das Antlitz kommt aus dem Jenseits des Seins. Das ist nichts anderes als die Transzendenz: »Als Ille [Levinasʼ Terminus für jenes, das aber kein Ding ist, M.H.] ist die Transzendenz gewissermaßen außerhalb der Unterscheidung von Sein und Seiendem. Nur ein Wesen, das die Welt transzendiert, kann eine Spur hinterlassen. Die Spur ist die Gegenwart dessen, was eigentlich niemals da war […].«29 Es ist/war da, aber es bleibt anders, ungreifbar. Die bleibende Alterität macht die Göttlichkeit hinter dem Moment des Antlitzes aus. Oder abschließend: »Der geoffenbarte Gott unserer jüdisch-christlichen Spiritualität bewahrt die ganze Unendlichkeit seiner Abwesenheit, die in der personalen Ordnung selbst ist.«30

3. Ein imaginäres Gespräch

Das in vivo nicht stattgefundene Gespräch zwischen Martin Buber und Emmanuel Levinas ist in der Forschungsliteratur gelegentlich, wenn auch nicht sonderlich intensiv, nachgeholt worden.31 Für unsere Zwecke, bei denen die dialogischen Voraussetzungen eines möglichen Verstnändnisses von Gastfreundschaft erhellt werden sollen, sind vor allem drei Aspekte wichtig: zum einen die große Gemeinsamkeit im Aufweis des ontologischen Sonderstatusʼ der dialogischen Situation, sodann um die Frage von Symmetrie oder Asymmetrie der dialogischen Situation und schließlich um das Verhältnis von Vertrautheit und Fremdheit, das sich in ihr zeigt.

Es sollte deutlich geworden sein: Sowohl Martin Buber als auch Emmanuel Levinas tragen Gründe vor, die zwei Verhaltensweisen in der Welt mit guten Gründen voneinander unterscheiden: Die »Grundworte« Bubers Ich-Du und Ich-Es sind direkt parallel zu lesen zu Levinasʼ Unterscheidung der Sprache des Seins von der Begegnung des Antlitzes und der Spur des Anderen, die sich darin zeigt. Soweit herrscht Einigkeit. Bubers Abwendung von einer Mystik, die Dialog wohl im Verhältnis des Mystikers zu Gott, nicht aber dessen Abschattung im dialogalen Verhältnis unter Menschen kennt ist dann in etwa parallel zu sehen zu Levinasʼ Abwendung von der letztlich cartesisch strukturierten Philosophie seiner Lehrer Edmund Husserl und Martin Heidegger.32

Der erste große Unterschied betrifft freilich die Dialogsituation selbst. Buber liest sie egalitär, symmetrisch und auf Augenhöhe: Wer in das Ich-Du-Verhältnis eintritt, findet sich in einem partnerschaftlichen Verhältnis: »Beziehung ist Gegenseitigkeit.«33 Das gilt für Buber selbst im Fall nichtmenschlicher Gegenüber: So ist ein Baum in den allermeisten Fällen Gegenstand für den Menschen und damit Teil der Eswelt. »Es kann aber auch geschehen, aus Willen und Gnade in einem, daß ich, den Baum betrachtend, in die Beziehung zu ihm eingefaßt werde, und nun ist er kein Es mehr. […] Mir begegnet keine Seele des Baums und keine Dryade, sondern er selber.«34 Gegenseitigkeit und Augenhöhe des Beziehungsereignisses ist eine Prämisse im dialogischen Denken Martin Bubers. – Ganz anders ist es bei Levinas. Teilt er noch uneingeschränkt die Disktinktion zwischen Ich-Es und Ich-Du, so ist die Ich-Du-Situation nach seiner phänomenologischen Analyse durch eine deutliche Asymmetrie geprägt: Das Antlitz des Anderen ist nackt, und es gebietet: ›verschone mich!‹ Gerade in seiner Schutzlosigkeit ist es das Gebietende und damit ist von Gegenseitigtkeit im Sinne der Gleichrangigkeit sicher nicht die Rede. Sie gilt, wenn überhaupt, dann in einem anderen Sinn: Denn der Befehl ›verschone mich!‹ geht nicht in seinem Befehlscharakter auf. d.h. er verlangt keine mechanische Reaktion. Er ruft den Befehlsempfänger vielmehr dazu, Ich zu sein und nicht nur anderes und andere einordnendes Bewusstsein. Der Befehl ruft zur »Wachheit ohne Intentionalität, vielmehr Wachheit, die aus eben ihrem Zustand der Wachheit erst unablässig erweckt wird und dabei von ihrer Identität zur Nüchternheit für das Tiefer-als-sie-selbst gelangt. Subjektivität als Empfangen des Unendlichen, Unterwerfung unter einen sowohl innerlichen als auch transzendenten Gott. In sich Befreiung von sich. Freiheit des Erwachens: freier als die Freiheit des Anfangs, die sich als Prinzip festlegt.«35 Das Bestehen auf dem Rangunterschied durch den Befehl ist also gekoppelt mit dem soteriologischen Versprechen, von der Intentionalität – der bei Husserl entlehnte Begriff für das vorstellende Bewusstsein – befreit zu werden.36 Asymmetrie des Verhältnisses und soteriologisches Versprechen sind nur miteinander richtig verstanden.

Deutlich stärker als Buber, und das ist die zweite merkliche Differenz, besteht Levinas auf der bleibenden Transzendenz Gottes. Durch »die Berührung jedes Du rührt ein Hauch des ewigen Lebens uns an«, schreibt Buber.37 Oder: »Die verlängerten Linien der Beziehung schneiden sich im ewigen Du. Jedes geeinzelte Du ist ein Durchblick zu ihm.«38 Die dialogische Situation realisiert ein Apriori, einschließlich dessen, dass die dialogische Situation die in ihr Beteiligten der Existenz und Güte Gottes versichert. Demgegenüber beharrt Levinas auf der Alterität und Unverrechenbarkeit Gottes. Der Forderungs- und Befehlssituation des ›verschone mich!‹ entsprechend liegt der Ton nicht auf der Einigung und der Vergewisserung der Präsenz, sondern auf Gottes bleibender Entzogenheit: »Affektion durch das, was nicht in Strukturen eingeht, was mit dem, was es affiziert, kein Zusammen bildet, so wie das ›intentionale Objekt‹ in ein solches Zusammen einginge, indem es sich zu Ko-präsenz mit der Intution versammelte, mit der es gesehen oder gemeint wird – Affektion durch das absolut Andere.«39 Andere Beispiele ließen sich durchaus geben, deren Sprachgestus vielleicht nicht zufällig an den des frühen Karl Barth in der Phase seines Römerbriefkommentars erinnert.

Einig in der dialogischen Grundannahme sind die beiden Denker also sehr wohl, teils deutliche Differenzen zeigen sich in der Analyse der dialogischen Situation und in den Annahmen über die sie tragenden theologischen Hintergründe. Man wird sagen können: Buber hat das Terrain eröffnet – und dabei zugleich die Tür zu weit aufgemacht und zu sorglos vom Gelingen des dialogischen Unternehmens gesprochen. Für Buber wird die gelingende Begegnung zum Moment des Glücks und zu einem Ereignis, das auf die schlechthinnige Begegnung mit Gott verweist bzw. diese augenblickshaft realisiert. Anders Levinas: Wohl ist Begegnung das nötige Gegenstück zum verfügenden Haben und Beschreiben. Der Andere bleibt aber in der Begegnung – eben der Andere. Von ihm geht der Imperativ aus, ihn wahrzunehmen und zugleich zu verschonen. Bubers Rede vom Glück der Begegnung, das durchaus Dialog-Mystik ist, wird bei Levinas zur bleibenden Forderung, die die Andersheit des Anderen betont. Theologisch ist doch wohl die Rede von der bleibenden Entzogenheit Gottes auch in der Begegnung, wie die hebräische Bibel sie lehrt, weit deutlicher bei Levinas gewahrt als bei Buber. Nicht ohne Schalk wird das Verhältnis der beiden vom Judaisten Karl-Erich Grözinger so skizziert: Es »lässt sich gut und gerne mit dem von Mischna und Gemara vergleichen, das eine ist der relativ kurze und einfache Grundtext und das andere der durchaus vielseits verflochtene, ausführliche und tiefer greifen wollende Kommentar.«40

4. Folgen für eine Theologie der Gastfreundschaft

Grözingers kurze Charakteristik ist hilfreich. Entsprechend versuche ich auf der Basis Levinas’scher Annahmen einige Grundsätze für eine Theologie der Gastfreundschaft zu skizzieren. Dies geschieht im vollen Bewusstsein dessen, dass Gedanken aus Philosophie und jüdischer Tradition dankbar aufgenommen werden, dies aber mit einer stillschweigenden interpretatio christiana genau nicht identisch ist: Der gedankliche Import ist sichtbar zu machen und dann explizit im Rahmen christlich-theologischer Prämissen neu zu interpretieren. Das geschieht in Form knapp kommentierter Thesen:

  1. Umkehrung der Gastlichkeit. Die kleine Phänomenologie der Gastlichkeit, mit der zu beginnen war, hat ein deutliches Achtergewicht. Gastbereitschaft entsteht dann, wenn es zur Begegnung – und also zur Situation von Alterität – kommen kann. Der rundum versorgte Gast, der für die Gastgeberin nichts Neues, nichts Fremdes mitbringt, unterliegt der Form der Rückkehr. Mit ihm geschieht »die Verwandlung des Anderen in das Selbe«.41 Es mag, notabene, Situationen geben, in denen dies richtig und nötig ist. In bedrohlicher medizinischer Not etwa wird wohl jede und jeder hoffen, für das Rettungspersonal kein Fremder, sondern in den beschädigten und wieder herzustellenden Körperfunktionen gut bekannt zu sein. Erstreckte sich dies jedoch auf alle Belange des zu-Gast-Seins, so würde der Patient ausschließlich zum Fall. Wiederum: Man hofft, dass er dies auch sei – aber eben nicht nur.42 Gastgeberin im Vollsinn aber ist gewiss die, die im Anderen das Nichtverrechenbare, Andere, Fremde sieht, das ihr womöglich Ungeahntes zuspielt und sie selbst in anderem Lichte dastehen lässt.

  2. Soteriologische Kompenente der Gastbereitschaft I: Motiv der Externalität. Eng damit verbunden ist das Motiv, dass das, was gut für die Gastgeberin, den Gastgeber ist, nicht bei ihr, ihm aufzufinden ist, sondern zugespielt wird. Wohl vertraut als Element der Rechtfertigungslehre finden sich seine biblischen Grundlagen vor allem in der Erzählung von Abrahams Gastfreundschaft im Hain Mamre (Gen 18) und in der Rede vom Weltgericht, in der Christus ankündigt, gerade im Geringsten und seinen Bedürfnissen der – offenbar auch lästige – Gast derjenigen zu sein, deren Lebensentwurf zum Gerichthalten ansteht (Mt 25,43).43 Ohne die Denkfiguren der Externalität und Passivität, also dessen, dass das für es Entscheidende gerade nicht im Subjekt vorhanden ist, ihm jedoch zugespielt wird, ist die Sache offenbar nicht zu haben. Freilich bedarf sie der näheren Konkretion:

  3. Soteriologische Komponente der Gastbereitschaft II: Rechtfertigung. Es ist schon angeklungen, dass die zweite Form der Gastbereitschaft ›etwas mit dem Gastgeber macht‹. Nochmal mit der m.E. besten Formulierung von Emmanuel Levinas gesagt: »Wachheit ohne Intentionalität […]. Subjektivität als Empfangen des Unendlichen, Unterwerfung unter einen sowohl innerlichen als auch transzendenten Gott. In sich Befreiung von sich. Freiheit des Erwachens: freier als die Freiheit des Anfangs, die sich als Prinzip festlegt.«44 Hier ist die soteriologische Komponente mit Händen zu greifen: Wenn ›Heil‹ irgend heißt, nicht so bleiben und nicht dauerhaft so gesehen werden zu müssen, wie man momentan ist, dann birgt die Möglichkeit der Begegnung mit dem Anderen exakt dies: Wo eine Begegnung zur Verwandlung des Anderen in das Selbe führt, bleibt das Subjekt, dem dies geschieht, augustinisch gesprochen, incurvatus in seipsum. Das Versprechen, dass dem nicht so sein und bleiben müsse, ist also ein soteriologisches, weil es das Urteil des Selbst über sich durchbricht und verändert. Es heißt, dem Urteil Gottes über sich mehr zuzutrauen als dem Selbsturteil. Nichts anderes ist die Rede von der Rechtfertigung.

  4. Das messianische Momentum: Heilsame Unterbrechung. Ist, was in der Begegnung mit dem Anderen geschieht, soteriologisch zu qualifizieren, dann muss das Subjekt, von dem die Bewegung ausgeht, als Heilsbringer qualifizert sein. Falls nicht, hätten wir es mit Götzendienst zu tun. Hier werden die textlichen Signale bei Levinas schwach. Sie müssen es sein, weil er stets damit zu spielen hat, das Unsagbare zu sagen und das Unausdrückbare irgendwie in Worte zu fassen, die sich nach dem Aussprechen freilich selbst durchstreichen müssen. Die Nähe des Sprachgestus zu dem des frühen Karl Barth, der an genau derselben Sachstelle laborierte ist, wie oben angedeutet, gewiss kein Zufall. In den zitierten Sätzen klingt es nach einer Setzung: »Nur ein Wesen, das die Welt transzendiert, kann eine Spur hinterlassen. Die Spur ist die Gegenwart dessen, was eigentlich niemals da war […].«45 Die Logik dahinter hat zwei Komponenten: Zum einen findet die für uns unumgängliche Ontologie des ›es gibt‹ auf es keine Anwendung. Spreche ich recht, dann muss ich, weil es eben nicht anders geht, Objektsprache verwenden und sie zugleich durchstreichen. ›Es gibt das Wesen, das die Welt transzendiert, ἐπέκεινα τῆς οὐσίας und nicht anders‹,46 ist dann korrekt gesprochen. Zum anderen: Das kann nichts/niemand anderes sein als der eine Gott, den Juden und Christen bekennen. Dieser zweite Schritt, ist unbeweisbar, er hat vielmehr die Form des Bekenntnisses. Bei Levinas zeigt sich das darin, dass er für explizit religiöse Rede in die Form der Talmud-Auslegung wechselt und diese erklärtermaßen nicht als Teil seiner Philosophie begreift.47 Allgemein-jüdisch wird man wohl von der messianischen Unterbrechung sprechen dürfen:48 Der Messias würdigt uns dessen, dass die Welt- und Selbstverhältnisse nicht so bleiben müssen, wie sie sind. Wann und wie dies aber geschieht, ist unserer Planbarkeit gänzlich entzogen. Im Babylonischen Talmud steht es so: »Drei kommen unversehens: Der Messias, ein Fund und ein Skorpion.«49

  5. Die christologische Dimension: Eingelöste und uneingelöste Rede von der Versöhnung. Christen und Christen behaupten, dass das messianische Versprechen in Jesus Christus eingelöst ist. Der Zimmermannssohn aus Nazareth ist der Messias, mindestens der Messias für alle Menschen aus den Völkern.50 Die Erklärungsaufgabe besteht also darin, auf der einen Seite die Rede von der eingelösten Versöhnung zu behaupten: In Christus hat Gott sich definitiv gezeigt und festgelegt und ist für das Heil aller Menschen das Entscheidende geschehen. Zum anderen ist dies zu kombinieren mit den Aussagen, dass die völlige Selbstdurchsetzung Gottes, der sich in Christus definitiv zeigte, noch nicht abgeschlossen ist. Dass Christus der Herr ist und zur Rechten Gottes, des Vaters sitzt, ist unter Weltbedingungen einstweilen umstritten und harrt der vollständigen eschatologischen Durchsetzung, die nur ein Akt Gottes selber sein kann. Auch die christlich ganz unverzichtbare Rede von der eingelösten Versöhnung heißt nicht, dass es nun nichts mehr zu hoffen gebe. Insofern partizipiert die Kirche an der jüdischen Hoffnung, der Messias komme (christlich: komme wieder), überraschend wie ein Fund und ein Skorpion.

  6. Die ekklesiologische Dimension: Gastbereit, weil zu Gast.51 In Sachen Gastfreundschaft zeigt sich bei der Frage, wie dies auf die Kirche anzuwenden sei, eine interessante Doppelstruktur: In ihrem Kern ist die Kirche selbst Eingeladene. Sie ist nicht in sich selbst begründet und also wesentlich verdanke Gemeinschaft. »Die zentrale Dimension, in der das Eingeladensein sich realisiert, ist das Abendmahl. Hier ist […] protestantischerseits immer wieder darauf hingewiesen worden, dass zum Abendmahl nicht die Kirche, sondern der Herr selbst einlädt«, so dass »sich in der Feier des Abendmahls die Gastlichkeit der Kirche als eingeladene Gemeinschaft realisiert und Gestalt gewinnt.«52 Was immer an diakonischer und sonstiger Gastlichkeit von der Kirche ausgehen mag und soll, wird erst dann Substanz haben, wenn die Kirche als eingeladene dabei sichtbar ist und bleibt. Übrigens wird auch dies Bild noch einmal komplizierter, wenn man die Logik von These (2) einspielt und feststellt, dass der einladende Herr der Kirche in ihr selbst zu Gast sein möchte.53 Nicht nur, aber auch die Schutzbefohlenen diakonischen Handelns erhalten daher ihre Würde. Nicht zuletzt die Regeln christlicher Orden, nach denen Gastfreundschaft keine Nettigkeit ist, sondern Ausdruck dessen, dass der Gast Christusträger, Christusträgerin ist, sprechen hier eine angemessen deutliche Sprache.

  7. Eschatologische Dimension: Endgültig zu Gast. Die phänomenologischen Analysen zur Gastfreundschaft und der Versuch, sie christlich-theologisch zu verstehen, gehören in das, was die Tradition theologia viatorum nannte, die Theologie des in der Zeit wandernden Gottesvolkes, das Wanderungs-entsprechend über begrenzte Einsichtsfähigkeit verfügt.54 Die Hoffnung, die es nicht fahren lassen wird, ist, dereinst in Gottes Ewigkeit bei ihm zu Gast zu sein. Die exterior begründete Existenz, von der die jüdisch-christliche Tradition spricht, wird dort an ihr Ziel kommen (Jes 25,6-8):55

Bereiten wir Er, der Umscharte

allen Völkern auf diesem Berg

ein Gelage von fetten Speisen

ein Gelage von firnen Weinen

fetten Speisen, markreichen

firnen Weinen, klargeseihten

Er vernichtet auf diesem Beg

den Antlitzflor

der alle Völker umflort,

das Gewebe,

das alle Stämme umwebt,

er vernichtet den Tod in die Dauer.

Abwischen wird mein Herr, Er,

von alljedem Antlitz die Träne,

und die Schmach seines Volkes abtun

von allem Erdland.

Ja, geredet hat Er.

Mit einiger Absicht war von diakonischen Momenten der Gastfreundschaft hier so gut wie nicht die Rede. Wenn die vorstehenden Erwägungen sinnvoll sein sollten, dann darin, in diesen Dingen absichtsvoll ἐποχή, Urteilsenthalt, zu üben: Nur wer die theonome Dimension kirchlich-diakonischer Gastfreundschaft in den Blick bekommt, wird sich an die Handlungsoptionen machen können, ohne sich und andere moralistisch zu überfrachten.


Prof. Dr. theol. habil. Martin Hailer, * 1965, Professor für Evangelische Theologie und ihre Didaktik mit Schwerpunkt Systematische Theologie an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg, Evang.-Luth. Pfarrer. Arbeitsschwerpunkte: Systematische Theologie für das Lehramt, Ökumenische Theologie, Religionsphilosophie, die Theologie Karl Barths. Buchveröffentlichungen u.a. Theologie als Weisheit (1997), Gott und die Götzen (2006), Grundkurs Christliche Theologie (Mitautor von D. Ritschl, 42015), Gift Exchange. Issues in Ecumenical Theology (2019). Weiteres unter www.bgmh.de.

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