Einleitung
Angesichts digitaler Dynamiken im Bereich kirchlich-pastoraler Praxis und des kirchlichen Gemeinschaftslebens stellt sich je länger desto mehr die Grundfrage: Verflüssigt sich die zentrale Stabilisierungs- und Steuerungsfunktion des kirchlichen Amtes angesichts digitaler Kommunikationspraktiken und fluider, netzwerkartiger Gemeinschaftsbildungen? Zeigen sich – nicht schon längst vor Corona, aber nun unhintergehbar verstärkt – sowohl pastoraltheologisch wie kybernetisch neue Anforderungen an das pastorale Selbstverständnis wie an das Bild kirchlicher Gemeinschaft? Stellt die virale Praxis in viralen Zeiten eine Art Katalysator für neue Formen kirchlichen Lebens überhaupt dar – und dies sowohl im Blick auf das kirchliche Amt wie auch auf die Gemeinschaft der Gläubigen in der Vielfalt von Hauptamtlichen und Ehrenamtlichen, Kerngemeinde und Distanzierten?
Dabei sei schon an dieser Stelle – durchaus mit gewissen kritischen Anfragen an die gegenwärtigen kirchlichen Digitalisierungs-„Strategien“ verbunden – weiterreichend gefragt, welche sich digital manifestierenden neuen Gemeinschaftsbildungen überhaupt als relevanter Teil kirchlicher Gemeinschaft verstanden werden wollen. Damit eng verbunden ist zu bedenken, ob die Logik digitaler Gemeinschaftsformen und deren mögliche Auswirkungen auf das Amt in ihrer „Reichweite“ überhaupt schon begriffen sind.
Nachdem wir bereits zu einem früheren Zeitpunkt im Rahmen einer epd-Dokumentation1 über die Frage nachgedacht hatten, ob aufgrund der sich neu manifestierenden digitalen Praktiken der Gottesdienst ins Zentrum zurückkehrt, werden die aktuelle Krisensituation und die damit verbundenen digitalen Erfahrungen im Folgenden für die Dimensionen von Kirche und Amt durchbuchstabiert. Wir gehen dabei erneut von der seinerzeit entfalteten kriteriologischen Dimension der Raum-Resonanz aus, erweitern diese nun allerdings für die Frage von Amt und Gemeinschaft um den Kern einer individuellen und sich gemeinschaftlich ereignenden Identitätsstiftungs- und Vergewisserungspraxis. Dieser Kern soll als theologische Grundkategorie für die Aufgabe kommunikativer Resonanzerzeugung im Wechselspiel von Amt und Gemeinde näher bedacht werden. Dabei gehen wir im Sinn der empirischen Grundlage von den bisherigen Einsichten der von uns durchgeführten CONTOC-Studie aus und verbinden diese in einem zweiten Teil mit Überlegungen zum Verhältnis von Amt, Gemeinde und Gemeinschaft, bevor abschließend daraus in praktisch-theologischer Absicht postdigitale ekklesiologische Zukunftsperspektiven und Konsequenzen für die zukünftige kirchlich-strategische Ausrichtung in Richtung auf eine „digitale Kirche“ thesenhaft benannt werden.
Zur Studie
An dieser Stelle soll nur kurz auf die Entstehung und Zielsetzung der während der ersten Pandemie im Frühsommer 2020 durchgeführten CONTOC („Churches Online in Times of Corona“)-Studie eingegangen werden, da wir dazu bereits im oben genannten Beitrag ausführlicher referiert haben. Diese ökumenisch ausgerichtete Studie wurde von Forscherinnen und Forschern an den praktisch-theologischen Lehrstühlen in Zürich, Würzburg und St. Georgen sowie den Forschungsinstituten Zentrum für Kirchenentwicklung (ZKE), Schweizerisches Pastoraltheologisches Institut St. Gallen (SPI) sowie Sozialwissenschaftliches Institut der EKD (SI) initiiert und gemeinsam mit akademischen und kirchlichen Kolleg*innen in insgesamt 22 Ländern durchgeführt.2
An der Online-Umfrage mit rund 50 quantitativen und sechs offenen Fragen nahmen im Befragungszeitraum von Ende Mai bis Mitte Juli 2020 insgesamt knapp 6500 Pfarrerinnen und Pfarrer teil, davon rund 5000 aus dem Bereich der evangelischen und katholischen Kirchen in Deutschland, der Schweiz und Österreich. Im Rückblick auf die Zeit von Ostern bis Pfingsten 2020 gaben die Teilnehmenden Auskunft über ihre Erfahrungen und Einsichten im Blick auf die Handlungsfelder Gottesdienst, Seelsorge, Bildung, Diakonie, kirchliche Kommunikation und Kooperation (nach innen und außen) sowie zu Einschätzungen digitaler Netzwerkbildung. Zudem hatten die Befragten die Möglichkeit, Einschätzungen in Hinsicht auf die eigene pastorale Rolle sowie die möglichen längerfristigen Folgewirkungen digitaler kirchlicher Praxis vorzunehmen.
Eines der Hauptziele der CONTOC-Studie bestand und besteht darin, auf der Grundlage der erhobenen Ergebnisse danach zu fragen, ob und wenn ja, in welchem Sinn diese auch längerfristig sowohl die digitale Ausgestaltung kirchlicher Praxis wie auch das pastorale Selbstverständnis in der Zielrichtung einer „digitalen Kirche“ beeinflussen könnten. Damit verbindet sich für uns die praktisch-theologische Frageperspektive, welche möglichen Auswirkungen sich aus diesen Erfahrungen für die kirchlichen Angebotsstrukturen sowohl im Bereich gemeindlicher Arbeit wie für kirchliche Aus- und Weiterbildungsmaßnahmen, die die Herausforderungen digitaler Transformation systematisch integrieren, ergeben.
Amt, Gemeinde und Gemeinschaft in viralen Zeiten
Deutlich wird in den Antworten der beteiligten Pfarrpersonen – und wir beziehen uns hier und im Folgenden auf die quantitativen Ergebnisse für den evangelischen Bereich in Deutschland und der Schweiz – dass der überwiegende Teil mit den akuten Herausforderungen der ersten Welle der Pandemie produktiv und innovativ umgegangen ist: Mit dem Versammlungsverbot seit der Osterzeit 2020 haben fast 95% der an der Studie Teilnehmenden erstmals digitale Gottesdienstformate angeboten. Die Mehrheit gibt an, in dieser Zeit neue Routinen entwickelt zu haben und ebenfalls für die Mehrheit hat dabei der eigene Glaube bzw. die eigene Spiritualität für den Umgang mit den neuen Herausforderungen eine wesentliche Ressource dargestellt. Für die Zukunft sieht die Mehrheit in kirchlicher Online-Kommunikation mehr Chancen als Risiken und will auch nach der Krise Online-Formen weiter anbieten.
Mit anderen Worten: Der überwiegende Anteil der Pfarrpersonen scheint sich spätestens mit diesen Pandemieerfahrungen der Bedeutung von Digitalkompetenz für die Ausgestaltung und Akzeptanz ihres Berufs und des Pfarramts bewusst geworden zu sein. Dass sich viele Pfarrpersonen in Deutschland und der Schweiz für ihr gottesdienstliches Handeln erstmals auf diese technischen Möglichkeiten eingelassen hat, ist somit für die Frage der pastoralen und gemeinschaftlichen Identitätsbildungs- und Vergewisserungspraxis höchst relevant.
Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass Befragte in ihren ausführlicheren offenen Antworten oftmals äußern, nun endlich mehr Zeit dafür gehabt zu haben, das zu tun, was sie als ihr Kerngeschäft ansehen. Die Identitätsbildungs- und Vergewisserungsdimension zeigt sich folglich schon in pastoraler Hinsicht darin, dass viele sich offenbar inmitten der Krise ihres Auftrags und Amtes neu bewusst geworden sind.
Grundsätzlich kann im Blick auf die quantitativen Ergebnisse gesagt werden, dass aus Sicht der Befragten unter den Krisenbedingungen eine gewisse Rollenstabilität empfunden wurde: eine identitätsbildende und vergewisserungsorientierte Praxis fand offensichtlich auf einigen unterschiedlichen Handlungsfeldern so gut wie möglich statt. Dies lässt sich nicht zuletzt auch an der vervielfältigten Praxis digitaler gottesdienstlicher Angebote ablesen. Aber auch das Engagement in den Bereichen insbesondere digitaler Seelsorgeangebote spricht hierfür. Umso deutlicher tritt hervor, dass der Bereich kirchlicher Bildung nicht die gleiche Aufmerksamkeit des pastoralen Personals erhalten hat.
Auffallend ist allerdings, dass rund 75% der Befragten also mit den erfahrenen Digitalisierungsprozessen keine Änderung ihrer Rolle einhergehen sehen, z.B. als LiturgIn, sondern diese lediglich als veränderte Form bisheriger Präsenz verstehen. Die verschiedentlich geäußerte Vermutung, wonach in der Krise sozusagen die bisherige Amtsausübung grundsätzlich in Frage gestellt wurde, wird demzufolge von den Ergebnissen unserer Studie nicht bestätigt. Ganz im Gegenteil hat vermutlich die Krise eher zur Stabilisierung (oder gar Konservierung?) des amtsbezogenen Verantwortlichkeitsensembles beigetragen. Jedenfalls hat es den Anschein, als ob die digital induzierten Präsenzmöglichkeiten sogenannte bewährte pfarramtliche Zuständigkeiten eher bestärkt als in Frage gestellt haben. Immerhin markiert ein Großteil der Befragten einen hohen Bedarf an theologischer Reflexion und Kriterienbildung sowie eigener Weiterbildung in Sachen digitaler Kompetenz.
Wechseln wir die Perspektive weg von den Erfahrungen der befragten Hauptamtlichen zu ihren Aktivitäten, Einstellungen und Rollenverständnissen hin zur Bedeutung von Kirche als Gemeinschaft der Gläubigen und wie diese innerhalb digitaler Formen durch die Befragten in den Fokus kam. Es geht mit anderen Worten darum, gemeinschaftsbezogenen Identitätsbildungs- und Vergewisserungspraxen näher nachzugehen. Hier treten durch die Fragen und Einsichten der CONTOC-Studie unterschiedliche Aspekte von Gemeinschaft – mit je unterschiedlicher Reichweite – hervor, die im Folgenden exemplarisch aufgezeigt werden sollen.
Zum einen ist auffallend, dass Gottesdienste häufig in Teams vorbereitet und durchgeführt wurden und überhaupt die Partizipation im Bereich gottesdienstlichen Handelns erhöht wurde – jedenfalls dort, wo wir durch nähere empirische Sondierung eine höhere Aktivität und, wie wir es nennen, „digitale Affinität“3 von Pfarrpersonen feststellen konnten. Ob und inwiefern sich aber gerade in der Krise die bisherige Verantwortlichkeitskonstellation zwischen Hauptamtlichen und Ehrenamtlichen verändert hat, bleibt jedenfalls aus Sicht vieler Pfarrpersonen eher unklar. Die Kooperation mit Ehrenamtlichen bzw. Freiwilligen in dieser Zeit bejaht nur jeder Fünfte der Befragten. Aufschlussreich dürfte hier sein, dass die Anstellung von weiteren professionellen MitarbeiterInnen insbesondere für den Bereich der Online-Angebote insgesamt als eher weniger wichtig angesehen wird.
In einem weitere Sinn haben wir auch danach gefragt, ob Pfarrpersonen sich zukünftig eine Förderung von digitalen kirchlichen Gemeinschaftsformen wünschen, ob sie überhaupt solche Formen kennen und ob sie sich von „digitalen christlichen Gemeinschaftsformen ganz neue Erfahrungen gelebter Gemeinschaft“ erwarten. Hier zeigt sich, dass nur rund die Hälfte der Befragten überhaupt solche Formen kennen, und dementsprechend ist man auch hinsichtlich der möglichen Förderung und Erwartungen an solche Formen im wahrsten Sinn des Wortes geteilter Meinung.
In Hinsicht auf die Gemeinschaftsformen während der ersten Monate der Pandemiezeit ist ferner zu erwähnen, dass Kooperationen über den eigenen Gemeindenahraum hinaus eher wenig gepflegt wurden. Nur rund ein Drittel der Pfarrpersonen im Bereich der EKD und nur rund 20% in der evangelischen Schweiz gibt an, dass intensiv bzw. sehr intensiv gemeindeübergreifend kooperiert wurde; deutlich geringer fallen die Umfragewerte zu ökumenischen und interreligiösen Kooperationen aus.
Zwischenbilanz
Man könnte angesichts dieser Ergebnisse sagen, dass sich in dieser ersten Welle der Pandemie eine Art Fokussierung auf den Bereich der personalen Amts- und lokalen Kerngemeinde widerspiegelt, der quasi starke Identitätsbildungs- und Vergewisserungspraktiken im unmittelbaren Nahraum anzeigt, aber zugleich von recht geringer Reichweite darüber hinaus ist. Die medial in dieser Zeit immer wieder – anhand im übrigen sehr unterschiedlich valider dokumentierter sogenannter Klickzahlen – betonte größere Reichweite digitaler Gottesdienstformate scheint hier beinahe eine Art Kompensationsfunktion angesichts dieser Angebotsverengung zu haben. Wenn in unserer CONTOC-Studie über die Hälfte der Befragten der Einschätzung zustimmen, dass Online-Gottesdienste mehr Menschen erreichen als kopräsente analoge Gottesdienste, kann dieses Ergebnis durchaus in der gleichen Richtung gedeutet werden.
Es deutet also vieles darauf hin, dass kaum gänzlich neue Gemeinschaftsformen erprobt wurden, sondern vielmehr digitale Anschlusskommunikationen an analoge „face2face“-Veranstaltungen aus der schon vertrauten Gemeindekultur vor Ort gesucht wurden. Digitale Formate scheinen dort besonders gut ‚funktioniert‘ zu haben, wo die ‚usability‘ für die Beteiligten hoch war: Und dies ist in Anschluss an traditionell erprobte Handlungsmuster (etwa Gottesdienststreaming in Analogie zu Rundfunkgottesdiensten) stärker zu erwarten als dort, wo die Handlungsmuster nicht genügend eingeübt sind. Hierfür spricht auch die Tatsache, dass die evangelischen Befragten nur in sehr geringer Zahl digital gefeierte Abendmahlsfeiern angeboten haben. Dies könnte sich bereits in der Zwischenzeit verändert haben, so dass gerade an dieser Stelle eine erneute Untersuchung interessant wird. Die Sichtbarkeit von digitalen gemeindlichen Veranstaltungen und ihre Zugänglichkeit wurde jedenfalls bereits im Frühjahr 2020 durch digitale Formate für jene Personen erleichtert, die mit online-Kommunikation eher schon vertraut waren und bereits zuvor schon Kontakt zur Kirchengemeinde vor Ort hatten und so diese neue Gelegenheit nutzten.
Die bisherigen Ergebnisse der CONTOC-Studie weisen darauf hin, dass pastorale AkteurInnen im ersten Lockdown der Pandemie die Vergewisserung ihrer eigenen pastoralen Identität wie auch die ihrer Gemeinde mit der Stabilisierung bestehender Rollenverantwortlichkeiten und Angebotsformate verbinden. Zugleich zeigt sich – schon vor der Krise, aber nun verstärkt – dass schon längst in und durch digitale(n) Kommunikationsformen neue Kompetenzen sowie kontextspezifische und selbstbewusste Orientierungs- und Vergewisserungspraktiken auf Seiten sozusagen nichtprofessioneller AkteurInnen entstanden sind, die zu ganz eigenen Gemeinschaftsmanifestationen führen. In den krisenhaft-digitalen Zeiten kann es insofern zu Spannungen zwischen einem amtsbezogenen Stabilisierungsmodus und gemeinschaftsbezogenen digitalen Vergewisserungspraktiken kommen - jedenfalls dann, wenn solche neuen Gemeinschaftsformen aus Sicht der Pfarrpersonen als konkurrenzhafte Parallelautoritäten wahrgenommen werden. Vor diesem Hintergrund kann überdies vermutet werden, dass manche kirchlichen Digitalisierungs-Strategie-Debatten mindestens unterschwellig den Phantomschmerz des Verlusts personaler, parochialer und amtskirchlicher Steuerungs-Präsenz mit sich führen.
So stellt sich mittel- und langfristig die grundlegende Frage, ob nicht im Blick auf Amt und Gemeinde Akzeptanzverluste hinsichtlich pastoraler Autorität und Deutungsmacht zu befürchten bzw. zu erwarten sind. Dies wirft allerdings die entscheidende Frage nach dem Verständnis von zukünftiger Gemeinde-Identitäts-Bildung überhaupt auf. Liegt womöglich die Zukunft überhaupt stärker in neuen grassroot-artigen digitalen Gemeinschafts- als in traditionellen Gemeindeformen? Und wird sich die pastorale Autorität sozusagen selbst über den Kernbereich hinaus in eine kaum noch überschaubare, und schon gar nicht kontrollierbare Vielfalt unterschiedlichster Deutungsautoritäten hinein verflüssigen und womöglich gar verflüchtigen?
Die Erfahrungen der ersten Pandemie-Zeit deuten darauf hin, dass sowohl auf Seiten der professionellen wie der nichtprofessionellen AkteurInnen von höchst individuellen, deutungskompetenten Kommunikationsformen mit dem Bedürfnis-Sinn nach Orientierung, Identitätsbildung und Vergewisserung auszugehen ist. Theologische Resonanz- und Kommunikationsräume entstehen weit über den Bereich der pastoralen ExpertInnen hinaus immer wieder neu und an immer wieder anderen Orten.
Insofern werden manche Einschätzungen kirchlich-digitaler Praxis und die dabei auftauchenden schroffen Polarisierungen etwa von Amtsautorität vs. Netzwerkautorität, körperlich kopräsenter vs. virtueller Realität, stabil vs. fluide, ‚inherited‘ vs. ‚fresh‘, analog vs. digital oder parochial vs. translokal der dynamischen Pluralität gegenwärtiger Identitäts- und Gemeinschaftsbildungen nicht gerecht.
Es ist vielmehr zu fragen, wie sich das ‚traditionell Bewährte‘ mit dem ‚experimentellen Neuen‘ sinnvoll und sachgemäß verbinden lässt. Diese oben angedeutete Pluralität von Deutungskompetenzen und Bindungsformen hat mindestens zwei gemeinsame Verbindungselemente, die genau in der je individuellen Vergewisserungspraxis einerseits und der je spezifischen, kontextuell geprägten Formatierung von Identitäts- und Gemeinschaftsstiftung andererseits liegen. Beide gehören untrennbar zusammen: „In ihrer Struktur hat die Gewissheit des christlichen Glaubens der Selbstentäusserung des Gekreuzigten zu entsprechen, sich immer neu auf ihren Grund hin zu relativieren und diese Transzendierungsbewegung im fortwährenden Prozess der immer neuen Vergewisserung zur Geltung zu bringen.“4 Hierzu wäre es nun im Sinne kirchentheoretischer Entwicklungsprozesse wichtig, die entstehenden neuen Formen und Konkretionen christlicher Vergewisserung an genau dieser dogmatischen Orientierung zu messen und in Auseinandersetzung mit ihr und zu ihr gehörenden Identitäts- und Gemeinschaftsbildungen gegebenenfalls kritisch-konstruktiv neu auszurichten. Dabei wäre dann z.B. auch an K. Barths Einsicht zu erinnern, dass ‚Gottesvergewisserung‘ nicht ohne ihr Gegenüber, ‚die Gotteserschütterung‘, zu denken ist – verstanden als Erschütterung, „die nicht zum Selbstzweck oder zu einer vormodern und unaufgeklärt angsteinflößenden Transzendenz verleitet, sondern (uns, TS/IN) in das Licht einer neuerlichen und veränderten Vergewisserung und Freiheit des Menschseins in und für seine Lebens- und Sinngestaltung“5 stellt.
Eine weitere Konsequenz der hier dargelegten Entwicklungen ist es, dass es folglich die exklusive ‚kopräsente Gemeinde-Gemeinschaft‘ nicht nur nicht gibt, sondern nicht geben kann – weder in der Krise noch darüber hinaus; Kirchengemeinden hatten immer schon offene Ränder, im einen Gemeindemodell mehr als im anderen. Doch eine im absoluten Sinne abgeschlossene soziale Gruppe, die stets kopräsent miteinander kommunikziert, ist doch ein gedankliches Konstrukt ohne Realität. Ferner sollte es eine solche Gemeindeform auch zukünftig sinnvollerweise je länger, desto weniger geben. Gefragt ist vielmehr eine kirchliche Kommunikationskultur, die die Hybridität unterschiedlicher Interaktionsformen, Deutungspraktiken sowie Leib- und Sinneserfahrungen ermöglicht und fördert. Hierfür kann z.B. auf einen alle verbindende und in der Tradition der Kirchenverständnisse gut reflektierten Horizont zurückgegriffen werden: die ihrerseits ‚hybride‘ Vergewisserungsfigur der sogenannten sichtbaren und verborgenen Kirche. Bereits mit ihr sind eindeutige Zuordnungen von drinnen und draußen, kopräsent und virtuell, explizit an eine kirchliche Organisationsform gebunden oder in Distanz zu solchen ja längst aufgehoben.
In Hinsicht auf die Frage nach der Rückkehr des Gottesdienstes ins Zentrum der Gemeinde hatten wir im vorangegangenen, bereits obengenannten Beitrag formuliert: „Ob der Ereignischarakter der Kommunikation des Evangeliums durch digitale Formen und Formate so gefördert werden kann, dass leibkörperliche Resonanzräume eröffnet werden, in denen Menschen einander anerkennend begegnen können, muss dabei eine bewusste, immer wieder selbstkritische Frage theologisch-professioneller Reflexion bleiben. Erst unter dieser Voraussetzung erfahren die zukünftigen Gestaltungen digitaler Praxis und die damit möglich werdenden Transformationsprozesse ekklesiologischen Tiefensinn.“6
Wir führen dies im vorliegenden Zusammenhang nochmals im Blick auf das Amts- und Gemeinschaftsverständnis wie folgt weiter: Es erscheint uns für die zukünftigen kirchlichen Debatten notwendig, erst einmal Depression und ein allzu schnelles Einstimmen in die altvertrauten Säkularisierungsannahmen hinter sich zu lassen: Denn im Internet sind unzählige religiöse Suchbewegungen längst präsent.
Nun werden allerdings in postdigitalen Zeiten – und CONTOC I zeigt hier nur die Anfänge einer solchen transformativen Dynamik – die hier bislang nur implizit gestellte Frage nach Autorität und Deutungsmacht nochmals viel stärker auf das Tableau kommen. Deshalb ist geschichts- und theologiesensibel daran zu erinnern, dass sich schon die Reformation nicht einfach nur die neuen technischen Möglichkeiten zunutze gemacht hatte, sondern den Medien- als Glaubens- und Gemeindewandel selbst entscheidend vorangetrieben hat. Eine solche digitale Reformation steht im Sinne der vertieften (praktisch-)theologischen Medienreflexion sowie eines vertieften Medienwandels in der kirchlichen Praxis noch aus.
Die Perspektive einer ‚digitalen Kirche‘ – als normativ-kritischer Idee gegenüber der aktuellen Institution und ihrer Herrschaftslogik – bringt deshalb eine Reihe von neuen Gestaltungsnotwendigkeiten mit sich, was abschließend thesenhaft wie folgt gefasst werden soll:
Der Wandel hin zu einer digitalen Reformation besteht nicht primär in einem technischen Wandel. Denn ein rein technisch orientierter Fortschrittsgedanke oder die Förderung digitaler Praxis mit Hilfe einer Markt- und Distributionslogik untergräbt den theologischen Anspruch auf eine lebensdienliche Gestaltung kirchlicher Kommunikations- und Handlungspraxis.
Die Krise zeigt die Kluft zwischen Arm und Reich, zwischen denen, die von der Krise profitieren, und denen, die entweder ihren Arbeitsplatz verloren haben oder ihre Selbstständigkeit aufgeben mussten. Vor der Frage der technischen Weiterentwicklung müssen deshalb die Ziele der Kirchen geklärt werden: Die Zeit ist reif für einen gesellschaftlichen Wandel hin zu mehr Gerechtigkeit.
Das Verhältnis von Institution – Organisation – Bewegung und Netzwerk muss vor dem Hintergrund einer sich pluralisierenden digitalen Kommunikationspraxis neu definiert werden: Es gilt, durch einen Hybrid aus analogen und digitalen Partizipationsformen positive Erfahrungen neuer Formen von Gemeinschaft im Sinn einer je kontextuell angemessenen ‚mixed economy‘ zu ermöglichen und so für unterschiedlichste Identitätsbildungs- und Vergewisserungsprozesse den notwendigen Resonanz- und Ermöglichungsraum zu öffnen. Dabei muss die digitale Affinität und – wenn man so sagen will, ‚digital literacy‘ aller mitverantwortlichen kirchlichen AkteurInnen strategisch gestärkt und nachhaltig gepflegt werden.
Im Blick auf das Amtsverständnis sind die klassischen ekklesiologischen Leitbilder in der Perspektive einer prozessorientierten und partizipationsoffenen ‚agile, shared leadership‘ weiterzudenken. Dadurch weist sich das Amt – inmitten der Pluralität dynamischer Gemeinschaftsbildungen – sowohl in auftragsbezogener wie in personaler Hinsicht als kontextsensible und eminent theologische Profession aus.
Prof. Dr. Ilona Nord ist Professorin für Evangelische Theologie mit dem Schwerpunkt Schwerpunkt Religionspädagogik und Didaktik des Religionsunterrichts am Institut für Evangelische Theologie, Religionspädagogik und kulturwissenschaftliche Religionsforschung der Julius-Maximilians-Universität Würzburg.
Prof. Dr. Thomas Schlag ist Professor für Praktische Theologie mit den Schwerpunkten Religionspädagogik, Kirchentheorie und Pastoraltheologie an der Theologischen Fakultät, Leiter des Zentrums für Kirchenentwicklung (ZKE) und Direktor der Universitären Forschungsschwerpunktes „Digital Religion(s)“ der Universität Zürich.