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„Kirche als kritische Stimme, und nicht als Teil einer Symphonie"

Ein Interview mit dem ukrainisch-orthodoxen Theologen Sergij Bortnyk

Published onJul 11, 2022
„Kirche als kritische Stimme, und nicht als Teil einer Symphonie"

Der ukrainische Theologe Sergij Bortnyk lebt mit seiner Familie bei Kiew. Er arbeitet als Professor an der theologischen Akademie Kiew der Ukrainisch Orthodoxen Kirche und ist zugleich Mitarbeiter des Außenamtes der Ukrainisch Orthodoxen Kirche. Cursor_ hat ihn im schriftlichen Interview befragt zu seinem nun vom Krieg geprägten Alltag, den kirchlichen Strukturen in der Ukraine und den Chancen und Grenzen ökumenischer Zusammenarbeit in Zeiten des Krieges.

Dr. Bortnyk, Sie sind als Theologe und Dozent an der theologischen Akademie in Kiew, die Priester und Mitarbeiter für Ihre Kirche vorbereitet, beheimatet. Sie sind zugleich in der Ukrainisch Orthodoxen Kirche tätig. Können Sie ein wenig über Ihre alltäglichen Berufsfelder berichten?

Vielen Dank für Ihr Interesse an meiner Tätigkeit.

Seit Januar 2014, nachdem ich meine Promotion an der Universität Heidelberg beendet hatte, bin ich in die Ukraine zurückgekehrt. Ich war schon vorher in Kontakt mit den Vertretern unserer „Ukrainischen Orthodoxen Kirche“. Eine Woche nach meiner Rückkehr habe ich erste Vorlesungen in der Akademie gehalten. Damals gab es bei uns eine Restrukturierung des Studiums, um es an das Bologna System anzupassen. Seit dieser Zeit gibt es ein 4-jähriges Bachelor-Studium und danach einen 2-jährigen Masterstudiengang in orthodoxer Theologie.

Da das System deutlich geändert wurde, brauchte die Akademie neue kompetente Kräfte. Meine Erfahrung in Deutschland passte gut dazu. Die Vorlesungen, die ich seitdem halte, heißen „Glaubenslehre der protestantischen Konfessionen“, „Katholische Theologie“ und „Moderne orthodoxe Theologie“. Dazu kamen noch zwei Kurse für die Doktoranden – „Interkonfessionelle Beziehungen in der Ukraine“ und „Theologie von John Zizioulas“, dem meine Dissertation gewidmet ist.

Zusätzlich habe ich eine andere Tätigkeit: Ich bin Mitarbeiter des Außenamtes unserer „Ukrainisch Orthodoxen Kirche“. Dort bin ich vor allem für die Kontakte mit der Römisch-Katholischen Kirche verantwortlich – sowohl in der Ukraine, als auch im Ausland. In der Ukraine sind die traditionellen protestantischen Kirchen wenig präsent. Viel mehr haben wir Strömungen, die in Deutschland als „Freikirchen“ bezeichnet werden. Für diese Richtung bin ich jedoch kaum verantwortlich.

Meine Tätigkeit ist unterschiedlich intensiv. Gestern habe ich zum Beispiel ein Gespräch mit der neuen Bischöfin der Badischen Landeskirche, Dr. Heike Springhart, geführt und an der Veranstaltung der Katholischen Sozialwissenschaftlichen Zentralstelle „Ukrainekrieg und kirchenpolitische Dimension“ teilgenommen. Aber nicht jeden Tag bin ich durch meine deutschen Kontakte so intensiv beschäftigt.

Der Krieg in der Ukraine kam für viele Menschen in Europa völlig unerwartet. Nicht wenige reden von einer „Zeitenwende“. Hat der Krieg auch Ihre Arbeit und Ihren Alltag verändert?

Ja, natürlich. Jetzt bin ich mit meiner Familie wieder zu Hause, aber bald nach Beginn des Krieges mussten wir weg – wir flohen innerhalb der Ukraine, aber 400 km nach Westen. Über zwei Monate haben wir meistens bei den Schwiegereltern gewohnt. Wir haben zwei ganz kleine Töchter – die kleinere Maria war weniger als drei Wochen alt als der Krieg ausgebrochen ist. Deswegen brauchten wir einen sicheren Ort zum Leben und etwas Hilfe, damit ich auch arbeiten konnte.

Dieser Krieg hat meinen Alltag deutlich verändert – eine Weile gab es in der Akademie keine Vorlesungen. Aber es gab auch viel neue Arbeitsfelder. Ich leite eine Stiftung mit dem Namen „Akademische Initiative“: Wir haben Studentenaustausche unterstützt, Lehrbücher veröffentlicht, Gastvorlesungen organisiert und vieles mehr. Das waren ökumenische Kontakte, die ich breiter entwickeln wollte. Das bleibt für uns auch heute wichtig. Aber nach Beginn des Krieges war die Nothilfe für Bedürftige viel wichtiger. Unsere Kontakte nach Deutschland und in andere Länder haben geholfen, Spenden zu sammeln, um sie weiter zu verleihen. Insgesamt haben wir über 80.000 Euro gesammelt und wir suchen weiter nach Spenden, solange der Krieg nicht zum Ende kommt, auch wenn es hier um Kiew herum wieder ziemlich ruhig ist.

Wem hilft Ihre Stiftung?

Wir haben entschieden, nicht bei der Kriegsführung zu helfen. Aber es gibt viele Menschen, die vom Krieg direkt oder indirekt betroffen sind. Es gab eine größere Hilfe an die Ukrainische Organisation „Down Syndrom“ und durch unsere orthodoxen Gemeinden an Bedürftige – mit Nahrungsmitteln und mit Medikamenten. Es gibt jetzt kleineres Projekt, wo an einer Gemeinde warmes Essen gekocht und verteilt wird. Wir haben auch Flüchtlingen geholfen, indem wir einfach 100 Euro auf das Konto überwiesen haben, so dass die Menschen selbst entscheiden konnten, was sie für sich kaufen möchten. Dafür haben wir Flüchtlinge, Familien mit mehreren Kindern und kranke Menschen ausgesucht.

All die Ereignisse, die die Nothilfe so notwendig machen, sind nicht im leeren Raum entstanden, sondern sie sind eingebettet in eine soziale, politische, auch kirchliche Geschichte. Welche kirchlichen Strukturen finden sich in der Ukraine? Welche geschichtlichen Ereignisse haben diese Strukturen besonders geprägt?

Die Ukraine wird meistens als Land mit der länger existierenden orthodoxen Kultur beschrieben. Unsere christliche Geschichte fängt von der Taufe der Kiewer Rus im Jahre 988 an. Heutzutage rechnen sich über 60% der Bevölkerung den orthodoxen Christen zu, das sind ca. 24 Millionen Menschen. Es gibt zwei größere Kirchen. Die eine heißt „Ukrainische Orthodoxe Kirche“ und hat über 12.000 Gemeinden und Priester. Ich gehöre gerade zu ihr.

Die andere heißt „Orthodoxe Kirche der Ukraine“ und hat offiziell ca. 7.000 Gemeinden und etwas weniger Priester. Diese Kirche wurde eigentlich vor drei Jahren neu gegründet. Sie entstand faktisch aus zwei Kirchen, die längere Zeit von der Weltorthodoxie nicht anerkannt worden sind. Die längere Geschichte der Auseinandersetzung und der Konkurrenz der orthodoxen Kirchen prägt immer noch ihre Beziehungen.

Sie haben auch Freikirchen erwähnt…

Das stimmt. Es gibt eine Menge freikirchliche Gemeinden. Ich habe das einmal gezählt. Offiziell waren es damals 24% aller registrierten religiösen Gemeinden des Landes, aber nur 2,4% der Bevölkerung – ein Unterschied von 10 zu 1. Sie gehören zu den unterschiedlichen Strömungen – Baptisten, Pfingstler, charismatische Gemeinden, Adventisten. Aber es gibt auch viele kleinere Religionsgemeinschaften und Glaubensbewegungen. Allgemein ist die religiöse Landschaft der Ukraine sehr bunt, was ich als Reaktion auf die Geschichte der sowjetischen Verfolgungen deute.

Welche Konfessionen existieren in der Ukraine, die ihre Geschwister- oder Partnerkirchen in Westeuropa haben?

Bei uns gibt es zwei lutherische Kirchen. Die eine heißt „Deutsche Evangelisch-Lutherische Kirche der Ukraine“, die andere heißt „Ukrainische Lutherische Kirche“. Es gibt auch zwei katholische Kirchen: die Griechisch-Katholische Kirche ist größer und hat ihre Gemeinden vor allem in Galizien, in der Westukraine. Die Römisch-Katholische Kirche ist deutlich kleiner und ist ursprünglich mit der ethnisch polnischen Bevölkerung verbunden. Ich habe eben unser Leben bei den Schwiegereltern erwähnt. Das war gerade in der Stadt Horodok, wo die Römisch-Katholische Kirche ihr Zentrum hat, mit einem Priesterseminar etc.

Alle genannten Kirchen sind übrigens Mitglieder des Ukrainischen Rates der Kirchen und religiöser Organisationen, der vor kurzen sein 25-jähriges Jubiläum gefeiert hat. Also, es gibt wenig theologische Zusammenarbeit, aber fruchtbare Kooperation in praktischen Fragen.

Wie sind die Beziehungen der ukrainischen Kirchen zu den russischen Kirchen?

Das ist ein schwieriges Thema. Zunächst über die Orthodoxen. Der Kern der heutigen „Orthodoxen Kirche der Ukraine“ war bis 2019 die „Ukrainische Orthodoxe Kirche – Kiewer Patriarchat“. Diese noch sehr junge Kirche war politisch geprägt, mit dem Motto „für einen unabhängigen Staat sollte eine unabhängige Kirche existieren“. Diese Kirche war stark gegen Russland gerichtet, aber suchte gleichzeitig eine nähere Beziehung zum ukrainischen Staat.

Unsere Kirche – die „Ukrainische Orthodoxe Kirche“ – war viel mehr auf die Zivilgesellschaft orientiert. Sie war so bunt wie die ukrainische Bevölkerung – mit größerer Unterstützung sowohl in Volyn im Westen der Ukraine als auch in der süd-östlichen Ukraine, wo andere traditionelle Kirchen deutlich schwächer präsent sind. Diese Region ist viel stärker russisch geprägt – sowohl von der Geschichte als auch von der Sprache. Charkiw, Mariupol und Odessa sind gerade die Städte mit starkem russischen Einfluss, und erst jetzt nach dem Anfang des Krieges kann man deutlich sehen, dass die russisch-sprachigen Ukrainer für ihr eigenes Land gegen die russische Invasion aktiv kämpfen.

Wenn wir über die Spaltung zwischen den russischen und ukrainischen Christen sprechen, betrifft sie nicht nur die Orthodoxen, sondern auch andere Konfessionen. Man spricht viel über die mögliche Befreiung unserer Kirche vom Einfluss des Moskauer Patriarchats mit Patriarch Kyrill an der Spitze. Aber ähnliche Spaltungen existieren auch unter den Lutheranern und anderen Protestanten. Davon hört man deutlich weniger, da diese Gruppen kleiner sind. Aber die Prozesse der Trennung auf der Linie russisch / ukrainisch existieren derzeit in mehreren Konfessionen.

Welche Beziehungen bestehen zu den europäischen Kirchen? 

Hier ist einfach logisch: Wenn die Zivilgesellschaft Europas in diesem Krieg auf unserer Seite steht, dann machen auch die europäischen Kirchen mit. Jetzt im Krieg gibt es viel Hilfe unterschiedlicher Art, die durch Partnergemeinden geleistet wird. Meistens versuchen die europäischen Kirchen denen zu helfen, die sie schon vorher gekannt haben – hier haben sie mehr Vertrauen und wissen einfach besser, wem sie direkt helfen. Ich meine jetzt nicht nur konkrete Personen, die diese Hilfe im Endeffekt bekommen, sondern vor allem Strukturen, die eine vermittelnde Rolle bei der Nothilfe spielen.

Das zeigt sich auch am Beispiel unserer Stiftung: Die Spenden kommen aus den Kirchen und Institutionen, mit denen wir schon früher Kontakte hatten. Ich würde mir übrigens wünschen, dass die evangelischen Kirchen uns mehr helfen, da der größere Teil der Hilfe bis jetzt von den Katholiken stammt.

Welche Potenziale und Hindernisse sehen Sie im Hinblick auf die ökumenischen Beziehungen der Kirchen Europas, der Ukraine und Russlands?

Aus meiner Perspektive haben die Kirchen in Russland wenig Freiheit, sich dem eigenen Staat gegenüber zu stellen. In Russland selbst gibt es kaum Stimmen, die gegen den Krieg sprechen. Bei ihnen ist das auch für ihre eigene Sicherheit gefährlich. Aber es gibt auch eine starke Tendenz zur Politisierung der Religion, wenn religiöse Motive für die Erklärung des Angriffskrieges verwenden werden. Viele Christen vertrauen der staatlichen Propaganda und wollen nicht viel darüber reflektieren. Aber ich kenne auch die Stimmen in Russland, die gegenüber der staatlichen Propaganda kritisch sind. Aber sie werden kaum gehört.

Was die Ukraine betrifft, ist das nicht so einfach. Unser Vorsitzender Metropolit Onufrij ist ziemlich anti-ökumenisch geprägt. Gleichzeitig öffnet die Absage von der „Russkij Mir“-Ideologie und der Einigung auf dem Grund der gemeinsamen Geschichte eine Möglichkeit, die westeuropäischen Christen besser kennenzulernen. Damit kommen andere Kriterien wie christliche und weltanschauliche Werte in den Blick, mit denen andere Christen uns näher kommen können.

Welche Beziehungen zwischen Staat, Politik und Kirche lassen sich in der Ukraine ausmachen?

Ich glaube, in diesem Bereich gibt es prinzipiell zwei Möglichkeiten. Wenn wir die Geschichte der orthodoxen Kirche anschauen, hat die Kirche meistens im Rahmen des Imperiums existiert. Deswegen sind Beziehungen im Rahmen der so genannten „Symphonie“ für die Kirche typisch: Wenn der Staat und die Kirche als Leib und Seele existieren. Aber faktisch bedeutet das oft, dass die Kirchen gar keine Kritik am eigenen Staat üben. Jetzt sehen wir eine solche Situation in Russland, aber sie ist auch in der Ukraine möglich.

Meine eigene Position besteht darin, dass die Kirchen im gesellschaftlichen Diskurs eine kritische Stimme haben sollen: Statt einer Symphonie sollte es in komplizierten Situationen wie dem heutigen Krieg auch zu kritischen Auseinandersetzungen kommen können.

Welche öffentlichen und zivilgesellschaftlichen Rollen nehmen die Kirchen vor Ort ein? Welche sollten Sie ihrer Meinung nach einnehmen?

So wie ich die Situation sehe, streben die traditionellen Kirchen wenig danach, die öffentliche Meinung zu unterschiedlichen Fragen zu prägen. Besonders unsere Kirche fokussiert eher auf den Bereich der Seele, der inneren Welt etc. Das folgt aus der Zeit, als diese innere Seite des menschlichen Lebens im atheistischen Staat kontrolliert und unterdrückt worden ist.

Aber gleichzeitig kommt es in der Situation der Krise einfach dazu, dass die Kirchen ihre Position deutlich formulieren müssen. So war es der Fall mit unserer Kirche am Anfang des Krieges. Schon am ersten Tag gab es seitens unseres Vorsitzendes Metropolit Onufrij eine Erklärung, in der der Krieg deutlich und scharf kritisiert wurde.

Im Hinblick auf ihre politischen Rollen agieren die Kirchen also unterschiedlich…

Ja, ich würde sagen, unsere Kirche ist möglichst neutral, unsere Bischöfe sprechen mehr über Gebet und Rettung der Seele als über den Krieg und Feindschaft mit den Russen. Die erwähnte neue Kirche – die „Orthodoxe Kirche der Ukraine“ bewahrt den alten Kurs, sich aktiv in der Politik zu engagieren.

Sehen Sie Chancen, dass die Kirchen friedensfördernd im Geschehen wirken können?

Ich würde sagen, dass die Kirchen vor allem miteinander friedlich existieren müssen. Die Streitigkeit zwischen UOK und OKU – den beiden orthodoxen Kirchen – war und bleibt ziemlich hart. Wenn sie unter sich Versöhnung finden, können sie auch aktiver für die breitere Gesellschaft helfen.

Übrigens, im Oktober 2018 hat unsere Stiftung eine internationale Konferenz organisiert. Sie hieß „Strategien der Versöhnung. Die Rolle der Kirchen in der Ukraine“. Die Beiträge wurden in einem Band veröffentlicht, sie existieren auch auf Englisch auf der Webseite unserer Stiftung unter https://www.academic-initiative.org.ua/en/strategies-of-reconciliation/. Dort geht es sowohl um die kirchliche, als auch um die gesellschaftliche Versöhnung.

Welches theologische Paradigma, Motiv oder welche biblische Erzählung ist in der gegenwärtigen Situation für Sie besonders wichtig und förderlich?

Jetzt in Situation des Krieges gibt es manchmal scharfe Gegenüberstellungen zu der Frage, auf wessen Seite Gott wirkt. Ich würde hier an die Stelle im 1. Buch Könige hinweisen. Im Kapitel 19 geht es um die Frage, wo der Herr ist. Er ist nicht im starken Wind, nicht im Erdbeben, auch nicht im Feuer. Er ist eher im stillen, sanften Sausen. Ich würde nicht sagen, der Herr hat im jetzigen Krieg die Russen verlassen. Es ist für mich auch eine falsche Perspektive zu glauben, dass Gott mit den Russen gegen den verdorbenen Westen kämpft. Gott ist auf keiner Seite eindeutig. Aber der Herr hilft denen, die an ihn beten und in seinem Namen anderen Menschen helfen – es gibt jetzt viele Menschen, die unsere Hilfe brauchen.

Wenn Sie die Tätigkeit der Stiftung "Akademische Initiative" finanziell unterstützen möchten, finden Sie die Daten dazu hier: https://www.academic-initiative.org.ua/en/contacts-and-donation/

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