Die Corona-Pandemie wird die Arbeit von Seelsorger_innen in einem kaum geahnten Maße herausfordern. Dieser Text skizziert einige Szenarien, auf die man sich in der Begleitung von Erkrankten und Sterbenden einstellen muss.
Es ist beeindruckend zu sehen, wie kreativ und engagiert sich viele Pfarrer/innen, Kirchenvorstände und Gemeindemitglieder in den letzten Tagen um neue Formen einer „digitalen Kirche“ bemüht haben. Hier zeigt sich ein Schub an digitaler Kommunikation, der die Verkündigung sicher dauerhaft voranbringen wird.
Ich glaube aber, dass es schon sehr bald nicht mehr unsere erste und größte Sorge sein wird, wenn sonntägliche Gottesdienste nicht mehr stattfinden können. Schaut man auf Italien, das uns (bei allen Unterschieden) in der Pandemie zeitlich voraus ist, dann kommt auf uns eine Anzahl von Todesfällen zu, wie wir sie seit Jahrzehnten nicht erlebt haben. Folgt man den aktuellen Schätzungen, dass sich etwa 60-70% der bundesdeutschen Bevölkerung mit dem Virus SARS-CoV-2 infizieren werden, und geht man - bei aller Vorsicht gegenüber Modellen - auf Grund der bisherigen Erfahrungen von einer Sterblichkeit von ca. 0,5- 1 % aus, dann werden dies sehr viele Menschen sein, die alleine in Deutschland an der Pandemie sterben. Natürlich kann es auf Grund von verschiedenen Gründen anders kommen (z.B. Mutationen, erfolgreiche Medikamente) - und auf jeden Fall sollten wir durch unser individuelles und gemeinschaftliches Vorsorge-Verhalten auch alles dafür tun, dass es anders kommt. Aber es ist realistisch, sich darauf einstellen, dass wir wohl zigtausende Menschen im Sterben begleiten und noch vielmehr Menschen in ihrer Trauer stärken müssen. Und das unter extremen Ausnahme-Bedingungen, die Sterbebegleitung wie Trauerarbeit massiv erschweren werden. Nicht nur die Mediziner/innen, auch die Pfarrer/innen und in der Hospiz-Arbeit Engagierten gehen auf eine Zeit der Grenzbelastung zu.
Wir sollten daher jetzt unter Pfarrer/innen, Kirchenvorständen und Engagierten in der Hospizarbeit intensiv über Sterbebegleitung und Trauerarbeit in der Pandemie-Zeit reden - und unsere Kraft konzentriert auf die Vorbereitung dieser Arbeit setzen.
Dazu ein paar erste, unfertige Impulse:
Viele Menschen werden auf Grund ihrer Infektion wahrscheinlich auf Isolierstationen sterben - ohne von ihren Angehörigen oder Menschen angemessen oder überhaupt begleitet werden zu können. Zudem wird sich dieses „Sterben ohne richtigen Abschied“ gerade bei älteren Menschen zum Teil nach Wochen oder Monaten ereignen, in denen sie ihre Kinder oder Enkel wegen der kollektiven Quarantäne nicht mehr gesehen haben. Das wird für beide, Sterbende wie Angehörige, eine große Belastung darstellen. „Wir konnten Opa oder Oma nicht einmal mehr die Hand geben oder ihn streicheln.“ Auf Grund der Infektionsgefahr werden Trauerprozesse massiv erschwert oder verhindert werden. Hier gilt es etwa - als eine Maßnahme - jetzt Formen des Abschiednehmens über Video-Technik auf Intensivstationen und in Hospizen aufzubauen und kulturell wie geistlich zu gestalten.
„Wie nehme ich Abschied als Sterbende/r oder Trauernde/r über den Bildschirm?“
Auch die Trauerfeiern werden - folgt man etwa den Berichten aus Bergarmo, Norditalien - wegen der Ansteckungsgefahr und wegen des möglichen Infiziertseins der Angehörigen oft ohne Teilnehmende stattfinden müssen. Zudem wird es - wenn solche hohen Zahlen von Todesfällen eintreten - zu massiven Belastungen oder Überlastungen des „gewöhnlichen“ Ablaufs bei Trauerfeiern kommen - angefangen bei den Bestattungsunternehmen über die Pfarrer/innen bis zu den Friedhöfen.
Auch hier braucht es Überlegungen, wie nicht nur die Fülle an Trauerfeiern angemessen bewältigt werden kann (etwa durch die Einbeziehung von Prädikant/innen und Lektor/innen), sondern auch, wie rituelle Begleitungsformen „in Abwesenheit“ aussehen können. Eine Möglichkeit könnte etwa sein, auch hier mediale Vermittlungen einzusetzen. Dies muss jedoch auf geistlich und seelsorglich angemessene Weise gestaltet werden.
Wie gehen wir damit um, wenn der 75-jährige Mann stirbt und seine 78-jährige Frau infiziert zu Hause in Quarantäne ist? Wenn sie nicht nur von ihrem Mann nicht mehr Abschied nehmen konnte, sondern wenn auch niemand zu ihr darf, um sich selbst nicht anzustecken? Wie kann dann eine seelsorgliche Trauerarbeit aussehen? Seelsorge hat viel mit Kontakt zu tun - kommunikativem, emotionalem, auch körperlichem. Auch hier brauchen wir rein technische wie auch seelsorgliche und rituelle Formen, um mit diesen besonderen Herausforderungen umzugehen. Weil sich die Sterbefälle gerade bei älteren Menschen ereignen werden, die vielfach nicht so technik-affin sind, kann es eine Überlegung sein, für sie vorprogrammierte und einfach bedienbare „Trauertablets“ anzuschaffen - mit tröstenden Texten, Bildern des Angehörigen, Videos von der Trauerfeier und der Video-Schaltfunktion zu den Angehörigen wie zu der Pfarrerin bzw. dem Pfarrer.
Von der Grenzbelastung der Personen mit zentralem Schlüsselberuf war bereits die Rede. In den Gemeinden werden dies vor allem die Pfarrer/innen und die engagierten in der Hospizarbeit sein, aber in anderer Weise vielleicht auch Gemeindesekretär/innen oder Kirchenmusiker/innen. Sieht man, wie intensiv sich Krankenhäuser und medizinisches Personal auf die Pandemie einstellen, so sollte dies in ähnlicher Intensität auch in den Gemeinden passieren. Gerade die Krankenhausseelsorger/innen werden durch ihre Begleitung auch des hochbeanspruchten medizinischen Personals wichtige Arbeit zum Erhalt des Systems leisten müssen und brauchen in jedem Fall dringend Unterstützung in dieser Phase. Hier sollte über den gezielten kirchenleitenden Einsatz weiterer Personen im seelsorglichen Dienst in den Krankenhäusern nachgedacht werden, etwa aus anderen Funktionsbereichen. Zudem werden viele Ortspfarrer/innen durch den Kontakt zu Gemeindegliedern selbst infiziert werden können. Der Umgang mit der Sorge um sich selbst (und seine Angehörigen) und die pastorale Aufgabe der Begleitung der anderen wird zu inneren Konflikten führen. Hier braucht es eine seelsorgliche wie berufsethische „Begleitung der Begleiter“. In jedem Fall sollten sich alle Pfarrer/innen in den kommenden Zeiten von anderen Aufgaben - soweit nicht durch die Quarantäne geschehen - freimachen. Und sie sollten sich daher - trotz der eingangs erwähnten kreativen Neuansätze - auch nicht in zusätzlichen digitalen Angeboten erschöpfen. So schön und wichtig diese sind, es stehen sehr bald andere, dringendere Aufgaben an.
Die Covid-19-Pandemie wird in neuer Weise Fragen nach Leid, Sinn, Gott aufwerfen - und wir werden als Kirche theologisch gefordert sein, hierauf nicht einfach „zu antworten“, sondern in angemessener und ansprechender Weise zu reagieren. Die Pandemie wird, so ist zu vermuten, eine tiefgreifende Erschütterung des Lebensgefühls und des Selbstverständnisses in der Gesellschaft nach sich ziehen. Was trägt der Glaube dafür aus? Was heißt dabei „Gottvertrauen“? Was ist aus den alten Geschichten und den Erfahrungen früherer Generationen dafür zu lernen? Welche wirklich tragfähigen Bilder, Erzählungen und Argumente haben wir gegen die Wirklichkeit des Todes, wenn sie in so beeindruckender Weise in Erscheinung tritt? Eine Pandemie ist nicht nur eine quantitative, sondern auch eine qualitativ veränderte Erfahrung von Krankheit - wenn Infektion und Tod sich eben nicht mehr nur am Rande des Alltags zeigen, sondern die öffentliche Wahrnehmung weithin dominieren. Eine andere Quantität wird hier in eine andere Qualität umschlagen. Deswegen bedarf eine Pandemie auch einer „epidemiologische Theologie“, die sich dieser anderen Quantität und Qualität von Leiden stellt, die von echter, tiefer Anfechtung und Ambivalenz bestimmt ist und zugleich die Kraft hat, glaubhafte Perspektiven der Hoffnung wider den Tod zu vermitteln.
Die Situation in manchen Städten Norditaliens mag extrem sein - und ich hoffe sehr, dass ich mich irre und sich diese Impulse einmal im Nachhinein als unnötig erweisen werden. Im Augenblick erleben wir jedoch eine Situation, in der vieles, was noch vor ein paar Tage als undenkbar galt, zur Realität wird. Ich glaube deshalb, dass wir uns jetzt in den Gemeinden, kirchlichen Fortbildungsstätten und Kirchenleitungen dieser Aufgabe stellen müssen - um auch in der Ausnahmezeit der Pandemie alles in unserer Macht Stehende zu tun, um Sterbende zu begleiten, Trauernde zu trösten und so ein Zeichen der Hoffnung für andere zu setzen.