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Das Konzept der (Mehrfach-)Zugehörigkeiten als Anregung für eine kulturgeschichtlich inspirierte Religionsgeschichte der Frühen Neuzeit

Wie erschließen sich Religion und Religiosität in der Frühen Neuzeit über Zugehörigkeiten? Der Beitrag betrachtet mit einem sozialanthropologischen Konzept religiöse Setzungen als situationsabhängig, wandelbar und im Zusammenspiel von mehrfachen Zugehörigkeiten.

Published onJan 25, 2022
Das Konzept der (Mehrfach-)Zugehörigkeiten als Anregung für eine kulturgeschichtlich inspirierte Religionsgeschichte der Frühen Neuzeit
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1. (Mehrfach-)Zugehörigkeiten als Anregung1

Ende des Jahres 1731 und Anfang 1732 wurde über eine religiös-konfessionell gemischte Ehe2 zwischen dem katholischen Haus Thurn und Taxis und dem lutherischen Haus Brandenburg-Kulmbach-Bayreuth verhandelt. Der lutherischen Prinzessin und ihrem Hofstaat wurde die Freiheit des Glaubens und der Religionsausübung sowie die Bereitstellung eines Gottesdienstortes vertraglich zugesichert und ein Garant der Religionsartikel, der lutherische Landgraf von Hessen-Darmstadt, benannt. Die Ehe-Verhandlungen waren noch im Gange, da äußerte der Landgraf von Hessen-Darmstadt eine emotionsgeladene Beschwerde. Es erschien ihm untragbar, einen anderen, nachträglich benannten Garanten, den Magistrat von Frankfurt, mit gleichartigen Verpflichtungen zu dulden. Dass der König von Preußen als Oberhaupt des Hauses Brandenburg ebenfalls über die Einhaltung des Ehe-Rezesses wachte, entsprang einer andersgelagerten, familiär-dynastischen Verpflichtung und wurde dagegen nicht beanstandet.3

Mit diesem knappen Problemaufriss ist angesprochen, wie die historischen Akteure mehrfache Anbindungen und Erwartungshaltungen bezüglich Loyalitäten und rechtliche und moralische Verpflichtungen bewerteten. Aus Forschungsperspektive kann zur Systematisierung und Einordnung des Falls mit dem Konzept von Mehrfachzugehörigkeiten gearbeitet werden.

Das Konzept von (Mehrfach-)Zugehörigkeiten als methodisch-analytischer Zugriff um sich – nicht nur, aber auch – Phänomenen von Religion und Religiosität in der Frühen Neuzeit zu nähern, wurde in jüngerer Zeit in der deutschen kulturgeschichtlich inspirierten geschichtswissenschaftlichen Frühneuzeitforschung skizziert.4

Der ausführlichen Diskussion eines spezifischen Konzepts von (Mehrfach-)Zugehörigkeiten ist dieser Beitrag gewidmet. Zunächst soll aber die breiter angelegte Frage geklärt werden, wie in diesem Beitrag das Verhältnis von geschichtswissenschaftlicher Religionsgeschichte und Kulturgeschichte verstanden wird.

Zuerst werden einige Schlaglichter auf die historische Entwicklung einer kulturgeschichtlich inspirierten Religionsgeschichte geworfen, bevor einige wichtige aktuelle Forschungsfelder und methodisch-analytische Zugriffe benannt werden (Kap. 2). Dies leitet zur Vorstellung des Konzepts der (Mehrfach-)Zugehörigkeiten der Sozialanthropologin Joanna Pfaff-Czarnecka über (Kap. 3). Dieses Konzept wird im Anschluss auf das oben skizzierte historische Fallbeispiel angewandt, in dem es um die Sicherung der Religionsartikel im Ehe-Rezess zwischen dem Haus Thurn und Taxis und dem Haus Brandenburg-Kulmbach-Bayreuth geht (Kap. 4). Im letzten Teil wird reflektiert, welche Anregungen das Konzept für die kulturgeschichtlich inspirierte Religionsgeschichte liefert (Kap. 5).

2. Religionsgeschichte und Kulturgeschichte: Eine Verhältnisbestimmung

Eine neue Religionsgeschichte, die sich faktisch zunächst auf europäische Phänomene konzentrierte, entstand in der Geschichtswissenschaft Anfang der 1970er Jahre. Ziel dieser neuen Religionsgeschichte war es, Religion als Forschungsgegenstand unabhängig von der »konfessionellen, heilsgeschichtlich festgelegten Kirchenhistorie«, in einer sozialhistorisch arbeitenden, geschichtswissenschaftlich-disziplinären Religionsforschung zu untersuchen.5 Als sich ab den 1980er Jahren die Religionsgeschichte verstärkt der Frühen Neuzeit zuwandte, wurden die dort (bereits) dominierenden kulturgeschichtlichen Ansätze und Methoden auf den Forschungsgegenstand Religion angewandt. Aufgrund der unterschiedlichen Prägung der neuzeitlichen und frühneuzeitlichen Forschung bildete sich keine gemeinschaftliche Subdisziplin Religionsgeschichte heraus.6

Die Folge der Öffnung für kulturgeschichtliche Impulse war eine methodische und konzeptionelle Vielfalt. Ein eigenes »systematisches Programm einer religionsgeschichtlich informierte[n] Kulturwissenschaft« entwickelte sich ebenfalls nicht.7 Stattdessen vollzog die Religionsgeschichte übergreifende turns in der geschichtswissenschaftlichen Frühneuzeitforschung mit,8 mit denen sich zahlreiche neue methodisch-analytische Ansätze, Perspektiven und Forschungskonzepte verbanden (z.B. ethnologische und anthropologische Ansätze),9 die auch auf religionshistorische Forschungsthemen der Frühen Neuzeit angewandt wurden (z.B. Blick ›von unten‹ als Ergänzung zum Konfessionalisierungsparadigma;10 Reflektionen über europäisch und christlich geprägte Begriffe11).

Inspiriert von der Forschung in anderen europäischen Ländern (u.a. Carlo Ginzburg) wandte sich die deutsche Religionsgeschichte ab den 2000er Jahren der Vielfalt von religiösen Bewegungen und Strömungen, pluralen Religionskulturen sowie unterschiedlichen Ausprägungen von konfessioneller Identität zu.12 Schon Anfang der 2000er Jahre erfuhr das Konzept der ›konfessionellen Identität‹ deutliche Kritik, weil das Eingebundensein historischer Akteure in eine Vielzahl von sich wandelnden und gegenseitig beeinflussenden Lebenskontexten nicht ausreichend beachtet werde.13 In den letzten Jahren wurden alternative methodisch-analytische Zugriffe einerseits über Unterscheidungen (Intersektionalität) erprobt,14 wobei Abgrenzungen, soziale Ungleichheiten und kategoriale Verschränkungen von Differenzen im Mittelpunkt stehen, andererseits über Zugehörigkeiten.15 Das Spektrum an kulturgeschichtlich inspirierten Konzepten reicht von Inklusion / Exklusion16 bis hin zu transkulturellen Perspektiven.17

3. Das Konzept der (Mehrfach-)Zugehörigkeiten

Das Konzept der (Mehrfach-)Zugehörigkeiten lässt sich den transkulturellen Perspektiven auf Religion und Religiosität zuordnen. In dem Sammelband Selbstzeugnis und Person. Transkulturelle Perspektiven wurde ›kulturelle Mehrfachzugehörigkeiten‹ als Analysebegriff 2012 eingeführt, um die Perspektive der Transkulturalität zu konkretisieren und praktisch anwendbar zu machen.18 Unter kulturellen Mehrfachzugehörigkeiten wurden »prägende Momente der Selbst- und Fremdpositionierungen von Personen« verstanden, die in regionalen und globalen Kontexten zu verorten waren.19 Handlungspraktiken, Raumverständnis und Materialität wurden als zentrale Aspekte von Mehrfachzugehörigkeit einbezogen. Jüngst, 2019, griff der Sammelband Transkulturelle Mehrfachzugehörigkeit als kulturhistorisches Phänomen den Analysebegriff auf. Aus der Frühneuzeitforschung heraus wurden Praktiken der Selbstverortung innerhalb der transkulturellen Kontexte einer ›globalen Mikrogeschichte‹ in den Mittelpunkt gestellt.20 Darüber hinaus machte der Sammelband – mit einem Verweis auf die Arbeiten der Sozialanthropologin Joanna Pfaff-Czarnecka – auf die affektive Dimension von (Mehrfach-)Zugehörigkeiten aufmerksam.21 Pfaff-Czarnecka entwickelte ihr Konzept von (Mehrfach-)Zugehörigkeiten zunächst zur Untersuchung der persönlich-biographischen Positionierung von Akteuren in durch Mobilität und Migration geprägten modernen Gesellschaften.22

Laut Pfaff-Czarnecka bilden Zusammengehörigkeit und Zugehörigkeit zwei Bedeutungsebenen von ›belonging‹, worunter die »emotionsgeladene soziale Verortung« zu verstehen ist.23 Die soziale Ordnung wird durch das Zusammenspiel von Gemeinsamkeit, Gegenseitigkeit und Anbindung dauerhaft stabilisiert.24 Gemeinsamkeit beinhaltet (sichtbar gemachte) Vorstellungen von einem geteilten Schicksal, gemeinsame Erfahrungen, geteilte Werte und gemeinsame Wissensbestände.25 Gegenseitigkeit bezieht sich auf die Anerkennung des Anderen, was in der Zustimmung zu und Einhaltung von Prinzipien, Normen, Regeln und Verfahren, die die sozialen Beziehungen regeln, mündet.26 Anbindung meint die durch Materielles (z.B. Landbesitz; Aufenthaltserlaubnis) und Immaterielles hergestellten Verbindlichkeiten und emotional-affektiven Bindungen.27

Mit der Schwerpunktsetzung auf individueller Zugehörigkeit liefert Pfaff-Czarnecka einen egozentrierten, lebensweltlich orientierten, kleinräumigen Zugang zu Sozialität.28 Im ›biographischen Navigieren‹ bewegen sich Akteur mehr oder weniger bewusst im Verlauf ihres Lebens zwischen sozialen Welten, in denen Kollektive Angebote der Zusammengehörigkeit unterbreiten, und handeln ihre Zugehörigkeiten aus.29 Mit dem Begriff ›soziale Welten‹ werden nicht weite Horizonte wie Nation bezeichnet, sondern konkret lokalisierte gesellschaftliche Felder wie Schule, Arbeit, Nachbarschaft, Freizeit.30

Mehrfachzugehörigkeiten stellen den Normalfall dar. Zum einen werden Zugehörigkeiten diachron im Verlauf eines Lebens geändert, z.B. durch Eintritt in eine andere Altersgruppe. Zum anderen werden zu einem bestimmten Zeitpunkt verschiedene Zugehörigkeiten synchron hergestellt und sichtbar gemacht. Verschiedene Ausformungen synchroner Mehrfachzugehörigkeit umfassen die Zugehörigkeit zu mehreren gleichartigen Konstellationen wie z.B. zwei Ländern; die situative Vielfältigkeit »unterschiedlicher Typen von An-/Einbindung« – d.h. Aufteilen der Zeit zwischen u.a. Familie, Freundschaft, Nachbarschaft, Arbeitsstätte, religiöser Organisation –; die Koexistenz von Lebenshorizonten unterschiedlicher Reichweite wie z.B. Familie, Ethnie und Nationalstaat.31

Gehört zu Inklusion das Gefühl der Zusammengehörigkeit, so ist die andere Seite der Medaille die Exklusion, d.h. der Ausschluss von Außenstehenden.32 Die Kriterien der Zugehörigkeit zu einem Kollektiv sind in unterschiedlichem Grade explizit, wobei Gatekeeper über den Zutritt wachen. Schwächung der Zugehörigkeit oder Abgrenzung vom Kollektiv, Überschreiten der Grenzziehungen nach außen z.B. durch Eheschließung außerhalb der Gemeinschaft werden oft durch Beschränkungen geahndet.33 Migration und (geographische und soziale) Mobilität von Personen und Kollektiven stellen wichtige Einflussfaktoren auf die Herstellung, Neujustierung, Sichtbarmachung und Organisation von Zugehörigkeiten dar.34

4. Fallbeispiel: Die Sicherung der Religionsartikel im Ehe-Rezess zwischen dem Haus Thurn und Taxis und dem Haus Brandenburg-Kulmbach-Bayreuth

In den letzten Monaten des Jahres 1731 und Anfang 1732 wurde über eine religiös-konfessionell gemischte Ehe zwischen Erbprinz Alexander Ferdinand aus dem katholischen Haus Thurn und Taxis und Prinzessin Sophie Christiane Louise aus dem lutherischen Haus Brandenburg-Kulmbach-Bayreuth verhandelt, die am 11. April 1731 am Thurn und Taxisschen Hof in Frankfurt gefeiert werden konnte.35

Die Religionsartikel wurden als Präliminarpunkte festgelegt. Die von ihrer Großmutter im Sinne des Pietismus erzogene36 Prinzessin sollte bis an ihr Lebensende »bey der Evangelischen Religion ungekräncket« bleiben und gemeinsam mit ihren Hofangehörigen der »Ewangel. Religion«, das freie, ungestörte und uneingeschränkte »Religions Exercitium« an einem eigens für den evangelischen Gottesdienst ausgestatteten Ort innerhalb des Thurn-und-Taxis-Palais in Frankfurt, dem dauerhaften Residenzort des Erbprinzenpaares, ausüben können.37 Der Übergang der Braut in die Familie des Mannes stellte eine spezifische Form der geographischen und sozialen Mobilität dar, mit der eine Neuaushandlung ihrer Zugehörigkeiten und deren handlungspraktische Ausgestaltung und Sichtbarmachung (z.B. Rahmenbedingungen der Religionsausübung) im neuen Umfeld einherging.

Um die Sicherung der Religionsartikel des Ehe-Rezesses zu gewährleisten, wurden verschiedene Zugehörigkeiten stark gemacht. Aus dynastischen und machtpolitischen Gründen sah sich der von pietistischen Positionen Franckescher Prägung beeinflusste König Friedrich Wilhelm I. von Preußen38 – dessen Vater sich kürzlich um die Regierungsübernahme in den fränkischen Markgrafschaften bemüht hatte (Schönberger Vertrag) und dessen Tochter gerade im Begriff stand, den Erbprinzen von Brandenburg-Kulmbach-Bayreuth zu ehelichen39 – als Oberhaupt des Hauses Brandenburg aufgerufen, über die Einhaltung des Ehe-Rezesses zu wachen. Als Oberhaupt des Hauses erfüllte er die Rolle eines Gatekeepers, der die religiös-konfessionell gemischte Ehe als Überschreiten einer Grenzziehung und mögliche Schwächung der Zugehörigkeit der Prinzessin zum evangelischen Haus Brandenburg misstrauisch beäugte. Die Protektion des Königs von Preußen wurde am markgräflichen Hof als unerwünschte Intervention betrachtet.40

Als offizieller Garant des Ehe-Rezesses verpflichtete der lutherische Landgraf Ernst Ludwig von Hessen-Darmstadt sein Haus, sich, seine Erben und Nachfolger, vertraglich bindend zu langfristigem Engagement und der Investition von Zeit und Ressourcen. Eine effektive Wahrnehmung der Schutz- und Kontrollfunktion wurde erst durch die materielle Anbindung des Landgrafen ermöglicht, dessen Territorien in unmittelbarer Nachbarschaft zur Reichsstadt Frankfurt, dem Residenzort des Erbprinzenpaares, lagen.

Der Garantievertrag stellte die Aufgabe, der Prinzessin Schutz in ihrer Religion und Religionsausübung dem Rezess gemäß zu gewähren, in einen größeren Zusammenhang: Der Landgraf verpflichtete sich ausdrücklich, nicht nur bei Verstößen gegen die konkreten Religionsartikel des Ehe-Rezesses einzuschreiten, sondern auch im Falle, dass eine »Religions-Reichs-Contravention«, d.h. ein Bruch des Reichsreligionsrechts, zu beobachten sein sollte.41 Diese Bezugnahme auf das Reichsreligionsrecht rief ein spezifisches rechtspolitisches Verständnis von der Einhegung religiöser Konflikte auf, das auf einem geteilten Wissens- und Wertehorizont der Reichsfürsten beruhte, die an dem Ehe-Rezess und seiner Sicherung beteiligt waren. Die Übernahme der Garantenrolle lässt sich so deuten, dass der Landgraf an Vorstellungen von der Tradition des landgräflichen Hauses als evangelisch-lutherische Schutzmacht anknüpfte und zugleich den Peers im Reich seine persönliche Bereitschaft vor Augen führte, zum Schutz der lutherischen Religion und ihrer Anhänger Pflichten zu übernehmen und Ressourcen zu investieren. Der Landgraf konnte aber auch vor der Hintergrund seiner Duldungspolitik gegenüber Katholiken und Juden42 als primär fürstlich-ständischer Garant des Reichsreligionsrechts erscheinen. Die Übernahme der Garantenrolle lässt sich auch als Sicherung einer machtpolitischen Kontrollfunktion im Nahraum der Nachbarschaft, einem konkret lokalisierten gesellschaftlichen Feld, verstehen, da die landgräflichen Territorien an die der Reichsstadt Frankfurt grenzten.

Wenige Wochen vor der Eheschließung ließ Markgraf Georg Friedrich Karl von Brandenburg-Kulmbach-Bayreuth ein Notifikationsschreiben an den städtischen Magistrat von Frankfurt verfassen. Die lokale materielle Anbindung des Erbprinzenpaares an Frankfurt bewog den Markgrafen, sich an die Regierung der Reichsstadt zu wenden. Er empfahl in diesem Schreiben die Prinzessin dem Schutz und der Protektion des städtischen Magistrats, der im 18. Jahrhundert eine Art „lutherisches Reservat“ darstellte,43 als eines inoffiziellen, weiteren Garanten. Noch vor der Zustellung des Schreibens an den Magistrat, kam dieses dem Landgrafen zu Gesicht. Landgraf Ernst Ludwig zeigte sich in seiner Ehre, Empfindsamkeit und Moral tief getroffen (»qui m'ont bien affligé« [die mich recht betrübt haben]; »le juste douleur« [der gerechte Schmerz]); explizit hob er die emotionsgeladene soziale Ebene seiner Anbindung an das markgräfliche Haus hervor. Der Landgraf sah sich in seinen Rollen als evangelische Schutzmacht und fürstlicher Garant infrage gestellt, das öffentliche Bild von seinem guten Ruf und starken Glauben kompromittiert. Die markgräfliche Wahl eines weiteren Garanten – eine vom Landgrafen als exklusiv verstandene Rolle (»je crois que la mienne [d.h. la garantie] peut suffire partout« [ich glaube, dass die meine [d.h. die Garantie] allenthalben genügen kann]) – konnte nur bedeuten, dass der Markgraf ihm mangelnde Einsatzbereitschaft (Commitment) und fehlende Durchsetzungskraft unterstellte. Vertraglichen Pflichten nicht zu genügen war vor dem Hintergrund des gemeinschaftlichen fürstlichen Ehrenkodexes eine massive Verfehlung. Schon durch die Andeutung, fürchtete der Landgraf, könnte er vor den Augen seiner Peers und der Reichsöffentlichkeit über den konkreten Konfliktfall hinaus an Glaubwürdigkeit verlieren. Der Landgraf wandte den Vorwurf ehrenrührigen, ungebührliche Verhaltens gegen den Markgrafen, der sich nicht an geteilte Werte und Konventionen der Fürstengesellschaft halte. Die mangelnde Berechtigung des markgräflichen Vorgehens in dieser ›sensiblen‹ Angelegenheit stellte der Landgraf nicht nur rechtlich, moralisch und affektiv infrage, sondern fügte noch eine formale Ebene hinzu: Mehrfach verwies er auf markgräfliche Verletzungen der allgemein bekannten Konventionen von Notifikationsschreiben.44 Diese Bezugnahme des Landgrafen auf eklatante Verletzungen der üblichen, etablierten, allgemein anerkannten gesellschaftlichen Regeln durch den Markgrafen konnte am Gegenstand des Notifikationsschreibens als notorisch, jedem offenkundig sichtbar dargestellt werden und bezog sich im Analogieschluss auf die anderen benannten markgräflichen Verfehlungen (Verstoß gegen die ausschließliche Bindung, ehrverletzende Infragestellung des landgräflichen Engagements etc.).

Aus akteursbasierter Perspektive wurde hier in den kleinräumigen ›soziale Welten‹ von Familie und Nachbarschaft die Sicherung der Religionsartikel im Ehe-Rezess zwischen dem katholischen Haus Thurn und Taxis und dem lutherischen Haus Brandenburg-Kulmbach-Bayreuth betrachtet, wobei intersektional Reichs-, Standes- und Konfessionszugehörigkeit in die kleinräumigen ›sozialen Welten‹ hineinspielten. Für die Auswahl der Garanten spielte neben dem zwingenden Kriterium der evangelischen Religionszugehörigkeit als ein weiterer gewichtiger Faktor die räumliche Nähe zum Residenzort des Erbprinzenpaares, als materielle Anbindung, eine entscheidende Rolle, da dies erst die effektive Ausübung einer Kontroll- und Schutzfunktion ermöglichte. Der markgräfliche Versuch, zwei Garanten oder Schutzmächte für gleichartige Verpflichtungen zu binden, führte zum Konflikt, da dies die Erwartungshaltung des Landgrafen an eine exklusive Anbindung und Loyalitätsbeziehung unterlief. Konfliktverschärfend kam hinzu, dass eine Infragestellung des landgräflichen Commitment einen über den konkreten Konfliktfall hinausgehenden Glaubwürdigkeits- und Ehrverlust in den Augen der fürstlichen Peers und der Reichsöffentlichkeit nach sich ziehen könnte. Dass das Oberhaupt des Hauses Brandenburg sich schon aufgrund familiär-dynastischer Zugehörigkeiten für die Einhaltung des Ehe-Rezess interessierte, stellte für den Landgrafen eine zwar koexistierende, aber anders gelagerte Verpflichtung dar, die er unbeanstandet akzeptieren konnte. Die situative Vielfältigkeit »unterschiedlicher Typen von An-/Einbindung« des markgräflichen Hauses stellte im hier diskutierten Kontext der Sicherung der Religionsartikel des Ehe-Rezess keine konflikthafte Mehrfachzugehörigkeit dar.

5. Was leistet das Konzept (Mehrfach-)Zugehörigkeiten für eine kulturgeschichtlich inspirierte Religionsgeschichte der Frühen Neuzeit?

Das Konzept der (Mehrfach-)Zugehörigkeiten von Pfaff-Czernecka liefert als methodisch-analytischer Zugriff eine gute Anregung für die europäische Religionsgeschichte. In dem Konzept wird die soziale Positionierung als permanenter Aushandlungsprozess in einer dynamischen und relationalen Gesellschaft begriffen,45 so dass Zugehörigkeiten als etwas situativ Her- und Dargestelltes eingeordnet werden. Der Zugriff schafft Aufmerksamkeit, dass religiöse Setzungen als situationsabhängig, wandelbar und nicht isoliert stehend betrachtet werden müssen. Der persönlichen, lebensweltlichen Perspektive wird zur Erschließung von Sozialität der Vorzug gegeben. Akteure, ihr kreatives Handeln und die Herstellung sozialer Beziehungen als situativ und prozessual, als flexibel, multipel und ambivalent werden in den Fokus gestellt.46 Dadurch wird betont, dass das Zusammenspiel von religiösen mit anderen Zugehörigkeiten individuell war und sich Akteure zu Angeboten religiöser Kollektive in einer jeweils persönlichen und situationsabhängigen Weise in Beziehung setzten.

Durch die Fokussierung auf kleinräumige ›soziale Welten‹, in denen sich intersektional weite Horizonte kreuzten, werden multiple, einander überlagernde Zusammenschlüsse und Verpflichtungen im Sinne einer Koexistenz von Lebenshorizonten unterschiedlicher Reichweite einbezogen (Mikro – Meso – Makro).47 Der Zugriff geht von konkret lokalisierten gesellschaftlichen Feldern wie Familie oder einer religiösen Gemeinde aus, schlägt aber den Bogen zu Verortungen größerer Reichweite wie Religion oder Stand und unterbreitet damit einen Vorschlag, wie religiöse Zugehörigkeiten im Spannungsfeld von Mikro- und Makroebene untersucht werden können.

Das Konzept erweist sich als anschlussfähig für bereits erprobte Zugriffe über Identität und Intersektionalität, die als Teilaspekte in dem Konzept (Mehrfach-)Zugehörigkeiten integriert sind,48 für benachbarte Diskurse49 und für kulturgeschichtliche Multiperspektivität, indem praxeologische, materielle und - die bisher nur in wenigen empirischen Studien beachtete - emotionale Perspektiven einander ergänzen.50 Materielle und immaterielle, nicht zuletzt affektive Anbindungen formten religiöse Zugehörigkeiten, verstanden als »emotionsgeladene soziale Verortung«, mit. Das Konzept der (Mehrfach-)Zugehörigkeiten rückt konsequent die Bedeutung von materieller Kultur und Emotionen für gelebte historische Religion in den Blick.

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Comments
1
Andrea Hofmann:

Liebe Alexandra, ganz vielen Dank für den schönen Aufsatz mit dem interessanten Quellenbeispiel! Ich bin ein paar Mal an den Emotionen hängengeblieben. Wahrscheinlich könnte man darüber einen eigenen Aufsatz schreiben, aber vielleicht kannst Du mir die Frage doch mit ein paar Stichpunkten beantworten: Wie genau kommen die Emotionen im Konzept der Zugehörigkeiten vor, wie werden sie bestimmt?