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Ausschluss oder Einbeziehung des Anderen?

Der Antagonismus kollektiver Identitäten als Herausforderung für das christliche Ethos der Versöhnung

Published onDec 09, 2018
Ausschluss oder Einbeziehung des Anderen?
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1. Die Ankunft der Fremden: Politik und Zivilgesellschaft im Horizont radikaler Differenz

Die sogenannte ›Flüchtlingskrise‹ in Deutschland, die auf das Jahr 2015 zurückdatiert, hat uns unmissverständlich klargemacht, dass eine Begegnung mit dem Fremden, also mit dem Inkommensurablen unserer eigenen Lebensform und Existenz, nicht nur das Moment des Faszinosum, sondern auch dasjenige des Tremendum in sich birgt. Der ›Ausländer‹, der ›Flüchtling‹, der ›Asylbewerber‹, der in Zeiten einer fast romantisch anmutenden Globalisierungssehnsucht des spätmodernen Kapitalismus zunächst als der ›ganz Andere‹, also vorrangig als exotischer Gegenpol und spannende Abwechslung zum Vertraut-Gewohnten der eigenen Lebensform und zuweilen auch als ihr singulärer Exzess markiert wurde, ist gleichsam ›über Nacht‹ – und gemeint ist hier das symbolische Datum der Silvesternacht 2015 – zum Inbegriff einer radikalen Bedrohung der eigenen Kultur geworden. Nach dem Abbruch der Willkommenskultur von 2015 und der radikalen Kehre des öffentlichen Bewusstseins erscheint der Fremde im kollektiven Bewusstsein primär und in erster Linie als derjenige, der die freiheitlich-demokratischen Grundwerte, das Vertrauen in Sicherheit und Ordnung und die Beheimatung der Deutschen in einer christlich-säkularisierten politischen Ordnung zu irritieren, zu verstören und zu missbrauchen vermag.

Führen wir uns den Wandel der öffentlichen Markierung des Anderen beispielsweise genderpolitisch geschärft an der Wahrnehmung des muslimischen Mannes in der bundesdeutschen Öffentlichkeit der Jahre 2015 bis heute vor Augen. Galt er vor der Flüchtlingskrise noch als Inbegriff einer durchaus faszinierenden, weil in unserer Kultur weithin verlorengegangenen Zurschaustellung von ungehemmter Männlichkeit und eines selbstbewussten Machismos, so ist er nun zum Inbegriff des in marodierenden Horden alle Formen des Anstands und Respekts gegenüber dem anderen Geschlecht aufgebenden Vergewaltigers und Sexualstraftäters geworden. Er, der muslimische Mann – oder genauer, der symbolische Ort seiner Markierung im öffentlichen Bewusstsein – ist zum Inbegriff des Misslingens von Integration, zum Inbegriff der Zerstörung von Ruhe, Frieden, Sicherheit und der Ordnung der Geschlechter geworden. Angesichts der in ihrer Singularität medial zur Schau gestellten und exponentiell überhöhten Sexual- und Gewaltverbrechen der Zuwanderer scheint eine konkrete Auseinandersetzung und Begegnung mit den Zugereisten im Kontext einer gastlichen Lebensform kaum mehr möglich. Wie konnte es dazu kommen?

Eine mögliche Antwort auf diese Frage kann dahingehend lauten, dass die Ankunft der und die Begegnung mit den Fremden durch ihre Markierung in den symbolischen und imaginären Registern gesellschaftlicher Identitätsbildung und Integration automatisch zur Exklusions- und Spaltungserfahrung werden musste. Denn jegliche Markierung des Anderen dient der Stabilisierung und Erhaltung der herrschenden Ordnung und hat darin einen eminent unterdrückenden Charakter, aus dem sie ihre politische Zugkraft bezieht. In diesem Zusammenhang ist es wichtig zu erkennen, dass die mit großer kollektiver Euphorie einhergehende Willkommenskultur des Jahres 2015 aus einem bestimmten Grund notwendig dazu verurteilt war, in eine Kultur der Entfremdung, Distanzierung und Entsolidarisierung mit dem Fremden überzugehen. Denn der Willkommenskultur lag die konstitutive Verkennung der eigentlich brisanten Frage zugrunde, wie ein Leben mit Menschen, deren Lebensumstände und Existenzbedingungen wir uns niemals anmaßen dürfen zu kennen und die uns in ihrer gelebten Existenz radikal entzogen sind, überhaupt möglich werden kann. Eine wirkliche Begegnung mit den Nomadisierenden und Geflüchteten, eine mehr als oberflächliche Auseinandersetzung mit ihren Prägungen, Mentalitäten und Ängsten war zudem von vornherein durch das Wirken der Globalisierungsideologie ausgeschlossen. Mit ihrer ›hallucination of nearness1, die systematisch jede echte Alteritätserfahrung – verdichtet im Widerfahrnis einer radikalen Entzogenheit fremder Lebenswelten – zu unterdrücken sucht, trug diese Ideologie dazu bei, dass ›Sie‹ – die Anderen – und ihr Leid, ihre Not, ihre Sehnsüchte und die sie mobilisierenden Initialerfahrungen lediglich als Wiederholung einer immer schon bekannten Erfahrung, nämlich europäischer Flucht- und Kriegserfahrungen markiert wurden. Dies musste sich als fatale Fehleinschätzung erweisen, wenngleich diese als eine solche nur dann hätte überhaupt benannt werden können, wenn die Ideologie einer vorgängigen Nähe und Vertrautheit des Anderen suspendiert worden wäre und das Widerfahrnis einer Ankunft der Fremden in einem für Alteration und Distanz offenen Horizont hätte re-loziert werden können.

2. Zur hegemonialen Markierung des Anderen als Subjekt der Spaltung

Die Herausformung von Gemeinschaft, von Zugehörigkeit und Beheimatung in einem politischen Gemeinwesen, das seine eigene politisch-demokratische Ordnung einerseits hegemonial, d.h. in Gestalt eines Machtsystems, einsetzen und erhalten muss, und diese andererseits als universell, d.h. als offen für alle Menschen, begründen möchte, stellt derzeit den eigentlich brisanten Kontext dar, in dem die Frage nach der Begegnung mit Anderen, im Sinne eines Fremden und Nicht-Zugehörigen, politisch ausagiert wird. Die Fragen, wie uns der Andere im offenen Horizont demokratischer Lebensformen begegnen, in welchen Spielräumen uns seine Fremdheit widerfahren und wie diese Begegnung in einer für beide Seiten lebbaren Form gestaltet werden kann, stehen hier von Beginn an in der Gefahr, durch die Frage ersetzt und verdrängt zu werden, wie die Begegnung mit dem Anderen im engen Rahmen rechtsstaatlich-öffentlicher Verfahren und staatlicher Ordnungspolitik eingeordnet und normalisiert werden kann. Die Frage, als wer oder was der Zugereiste in dieser Begegnung identifiziert und konstruiert wird, verweist in diesem Zusammenhang immer schon auf die Frage, wie dieser Andere durch imaginäre und symbolische Markierungen seiner Existenz schematisiert und als partizipierender Teil einer demokratischen Lebensform wahrgenommen und angesprochen werden kann. Sie hängt also wesentlich davon ab, welche Funktion ›der Andere‹ für unsere gemeinschaftliche Identitätsfindung zu erfüllen hat. Kollektive gesellschaftliche Praktiken der sozialen Identitätsstiftung bringen somit beständig ›Markierungen des Anderen‹ hervor und erschaffen sich in und durch diese Markierungen eine eigene Realität des Anderen, welche fiktiv-ideologischer Natur ist und als solche notwendig dazu führt, den Anderen in seiner Existenz zu spalten, in einen ›guten‹ oder einen ›bösen‹ Anderen.

Im Folgenden möchte ich die derzeit dominante Frageperspektive umkehren und es so formulieren: Was macht die Ausgrenzung des Anderen, die Stigmatisierung und Verteufelung, die Verfeindung und Verbannung des Fremden so attraktiv, was macht sie vielleicht sogar notwendig und erstrebenswert? Welcher Rationalität folgt sie und worin besteht ihr gesellschaftlicher Nutzen, ihr sozialer Sinn? Inwiefern ist Exklusion sogar strukturell durch die repräsentative Demokratie hervorgebracht und ihr inhärent?

Eine Begegnung mit dem Fremden, mit dem es in Wahrheit keine vorab zu unterstellende gemeinsame Grundlebenshaltung gibt und mit dem sie vielleicht niemals zu gewinnen oder herzustellen sein wird – diese Begegnung wird für gewöhnlich in allen politischen Bemühungen um Integration, um Inklusion und Beteiligung zu marginalisieren gesucht. Sie gilt als Ausnahme von der Regel und daher als vernachlässigenswert. Alle Bemühungen richten sich vielmehr optimistisch und konstruktiv auf eine Verbesserung der Integration der Ankommenden in Zivilgesellschaft und Arbeitsmarkt aus. Genau aus dieser Haltung, die ignoriert, dass der Andere, der ›Flüchtling‹ bereits durch kollektive Mechanismen der Exklusion als Bedrohung markiert und damit als ein politisches Subjekt der Spaltung wahrgenommen ist, gewinnen die ›Feinde‹ der globalisierten Demokratie, die Populisten und Nationalisten aber ihre Zugkraft. Sie präsentieren sich als die wahren Demokraten, die den verborgenen, dem Parlament enthobenen Souverän vertreten, welcher als einziger die reale Bedrohung, die von den Fremden ausgeht, erkannt hat. Doch wie funktionieren ihre populistischen und nationalistischen Interventionen im Regelwerk der repräsentativen Demokratie?

Um dies zu verstehen, gilt es zu begreifen, dass der Nationalismus in seiner populistischen Spielart für die liberale Demokratie keine legitime und damit auch keine rationale Option darstellt. Er wurde deshalb in einer ersten Phase seines Auftretens nach 2015 vorschnell als schlicht irrational, als ein archaisches Relikt vergangener Tage eingestuft. Denn im Politikverständnis der liberalen Mitte war die Auffassung vorherrschend, das über alle Differenzen hinweg Verbindende könne in Gestalt eines moralischen Grundkonsenses der Gesellschaft über liberale Werte, menschenrechtliche Grundnormen und Prinzipien wie Freiheit, Anerkennung und Toleranz aufgefunden und zur Grundlage eines friedlichen Miteinanders, eines (moralisch) befriedeten Pluralismus gemacht werden. Entsprechend begegneten die Vertreter der liberalen Mitte dem Erstarken rechtsgerichteter Kräfte und dem rechtskonservativen Nationalismus regelmäßig mit Unverständnis und Fassungslosigkeit.

Von Seiten der neuen Linken wird hingegen seit mehreren Jahrzehnten scharfe Kritik an einem durch Moral und ihre normativen Vorgaben bestimmten Politikverständnis geübt. Der Vorwurf der neuen Linken von Alain Badiou über Marcel Gauchet bis hin zu Ernesto Laclau und Chantal Mouffe lautet, der liberale Mainstream könne nicht erklären, warum ausgerechnet liberale Demokratien mit ihren aufgeklärten universellen Grundwerten und ihrer Lebensform einer forcierten Multikulturalität und Weltoffenheit in den vergangenen Jahrzehnten verstärkt zum Nährboden für ein Wiedererstarken nationalistischer und rechtspopulistischer Bewegungen geworden sind. Für gewöhnlich werde dies damit erklärt, dass der moralische Universalismus und Kosmopolitismus einige, nämlich die bildungsferneren sozialen Schichten, oder diejenigen, die ihr Leben im Osten Deutschlands über Jahrzehnte abgeschirmt von der Weltöffentlichkeit fristen mussten, schlicht überfordere. Doch was ist, wenn Nationalismus und Rechtspopulismus als Bewegungen der politischen Exklusion nicht durch fehlende Bildung, sondern durch die Demokratie selbst, also strukturell demokratisch hervorgebracht werden, und wenn sie durch die interne Rationalität demokratischer Institutionen bedingt sind und durch diese befördert werden?

Genau diese These wird in der neuen Linken vertreten, denn sie begreift den Nationalismus und den Rechtspopulismus als ein Symptom der Demokratie, als etwas, was ihr immanent und nicht äußerlich ist. Als ihr Symptom entspringe der Rechtspopulismus einem fundamentalen Verdrängungsmechanismus der Demokratie, nämlich der Verdrängung der Differenz von citoyen und bourgeois, von rechtsstaatlicher und populärer Öffentlichkeit der Gesellschaft. Die Rede von der populären Öffentlichkeit verweist hier darauf, dass der öffentliche Diskurs in einer Demokratie stets über den rechtsstaatlichen Konsens hinausgeht. Um den in diesem Konsens nicht aufgehenden Rest gesellschaftlich zu integrieren, bedarf es daher anderer Mechanismen als derjenigen, die der politischen Partizipationsinfrastruktur einer repräsentativen Demokratie zur Verfügung stehen. Den nicht aufgehenden, rechtsstaatlich nicht repräsentierten Rest greifen daher die neuen rechtspopulistischen und autoritären Bewegungen auf. Sie sammeln und konzentrieren diesen ausgeschlossenen Rest um ein neues politisches Performativ und erschaffen mit der Rede vom wahren Volk ein totalitäres Objekt, in dem sich eine neue Geschlossenheit der Gesellschaft affektiv erleben und nicht nur rational begreifen lässt: nämlich die Nation als eine ethnische, kulturelle und religiöse Einheit, als ein Kollektivsingular, der Bindung und Zusammenhalt in der Gesellschaft verkörpert, diese erleb- und fühlbar werden lässt. Dort, wo sich die Nation real als ein Volk formiert, so das Versprechen der Populisten, werde die Gesellschaft endlich zu sich selbst kommen, sich von ihren Spaltungen, ihrer Zerrissenheit und Selbstentfremdung heilen können. Dass dieses Versprechen suggestiv und illusionär bleibt, ist klar. Dies schadet jedoch in keiner Weise seiner Wirksamkeit – insbesondere dann nicht, wenn der rechtsstaatlich nicht mehr integrierbare Riss keineswegs am Rande verläuft, sondern bereits durch die Mitte der Gesellschaft geht.

Von dieser Kritik an der sich rein formal, nämlich rechtsstaatlich integrierenden Demokratie aus lässt sich die Suche nach einer kollektiven Identität, nach Beheimatung und gemeinschaftlichem Zusammenhalt neu begreifen – insbesondere dann, wenn wir den Sachverhalt in den Blick nehmen, dass mit den weltweit anhaltenden Prozessen der Globalisierung soziale Entwurzelung und Entfremdung in einem bisher nicht gekannten Ausmaß um sich gegriffen haben. Der Mythos sozialer Nähe und Verbundenheit in der einen, ungeteilten globalen Welt zerbricht nämlich jeweils dort, wo die Markierung des Anderen unendlich alteriert, d.h. wo der Andere sich unseren Versuchen der Anerkennung, Integration und Befriedung vollständig, wiederholt und auf bedrohlich widerständige Art und Weise entzieht. Inwiefern das, was dann geschieht, unausweichlich geschieht und zu den Grunddynamiken menschlichen Sozialverhaltens gehört, haben nicht Philosophen und Politikwissenschaftler, sondern Sozialwissenschaftler besonders pointiert analysiert.

3. Kollektive Identität und Ingroup-Bias: Eine sozialwissenschaftliche Perspektivierung

Kollektive Identitätskonstruktionen sind in Gestalt von Wir-Konzepten, Wir-Gefühlen und Wir-Narrativen konstitutiv für die Dynamik der Interaktion und Kommunikation in zivilgesellschaftlichen Gruppen. Das Phänomen kollektiver Identitätsbildung steht daher seit geraumer Zeit im Zentrum des Interesses von Soziologen und Sozialpsychologen.2 Diese haben darauf aufmerksam gemacht, dass personale Identität auch unter den Bedingungen des modernen Individualismus nicht als ein rein mikrosoziologisches Konstrukt verstanden werden kann. Vielmehr werde Identität in vielen Aspekten auch in modernen Gesellschaften durch die Zugehörigkeit zu oder die Abgrenzung von anderen Menschen konstruiert.3 Als Gegenstand der Konstruktion von solchen Kollektividentitäten fungieren dabei nicht nur übergeordnete politische Einheiten wie die Nation, der Staat oder Europa, sondern auch Einheiten auf der sogenannten intermediären Ebene, also soziale Gruppen, Vereine und Verbände der Zivilgesellschaft, zu denen auch die Religionsgemeinschaften zählen. In modernen Gesellschaften zeichnen sich diese dadurch aus, dass sie die Zugehörigkeit ihrer Mitglieder nicht mehr ständisch an Geburt und Herkunft knüpfen, sondern sich auf die freiwillige Selbstzuordnung des Einzelnen gründen und deshalb eine pluralere und unstetere Gestalt annehmen als ehedem.

Seit etlichen Jahren besteht nun innerhalb der Sozialwissenschaften eine Kontroverse um das Phänomen der kollektiven Identitäten. Insbesondere nach Auffassung von Sozialkapitaltheorien4 tragen stabile Wir-Vollzüge dazu bei, dass Menschen öfter und nachhaltiger miteinander kooperieren. Die Orientierung an kollektiven Identitäten dient demnach auch der Hervorbringung und Sicherung von sozialem Wohlstand. Zum anderen gelingen kollektive Identitätskonstruktionen immer dann besonders gut, wenn sie mit sozialen Abgrenzungen verbunden sind. Aus diesen Abgrenzungen können allerdings Konflikte resultieren, die dann – im schlimmsten Fall – durch den gewaltsamen Ausschluss ›Anderer‹ gelöst werden.

In der empirischen Verhaltensforschung wird dieser negative Effekt sozialer Identitätsbildung mit der sogenannten ingroup-bias erklärt. Als ingroup-bias gilt die natürliche Neigung von Menschen, Mitglieder der eigenen gegenüber Mitgliedern fremder Gruppen bevorzugt zu behandeln.5 Diese Bevorzugung besteht jedoch nicht einfach darin, dass Menschen durch ihr Handeln ihrer eigenen sozialen Gruppe Vorteile verschaffen wollen. Das wäre zu schlicht. Stattdessen ist mit der ingroup-bias die Tendenz gemeint, die Differenz zu Anderen maximal vergrößern zu wollen, auch dann, wenn dies der eigenen Gruppe schließlich sogar Schaden zufügt. So wurde in einer Reihe von Verhaltensexperimenten nachgewiesen, dass Menschen beim Tausch von sozialen Gütern über Gruppengrenzen hinweg vor allem darauf abzielen, fremde Gruppen schlechter zu stellen – und zwar selbst dann, wenn dies Nachteile für ihre eigene Gruppe mit sich bringt. Das Hauptziel des kollektiven sozialen Handelns liegt demnach darin, die Differenz zu den Anderen möglichst noch zu vergrößern, auf jeden Fall aber als Differenz stabil zu halten. Das Phänomen der ingroup-bias zeigt daher deutlich, dass eine starke Gruppenidentität soziale Differenzen vertiefen kann, anstatt sie zu integrieren. Dies aber steht dem positiven Effekt, welchen kollektive Identitätsbildung nachweislich für das gesamtgesellschaftliche Kooperationsniveau hat, wieder entgegen. In den Sozialwissenschaften wird das Phänomen kollektiver Identität dementsprechend kontrovers beurteilt. Zum einen wird hervorgehoben, dass die Konstruktion einer gemeinschaftlichen Identität die Neigung zur Kooperation mit anderen verstärkt und integrativ wirkt. Zum anderen wird nachgewiesen, dass sie die Herausbildung von sozialen Konflikten und Spaltungen befördert. Die sozialwissenschaftliche Perspektive zeigt sich entsprechend unentschieden im Hinblick auf den gesellschaftlichen Nutzen kollektiver Identitätsbildung und bewertet dieses Phänomen insgesamt als ambivalent. Eine ganz andere, nämlich eine klar affirmative Haltung nimmt hingegen die politische Philosophie der neuen Linken ein, auf die nun einzugehen sein wird. Im Anschluss an eine positive Würdigung des politischen Wertes von kollektiven Identitäten zeigt sie auf, inwiefern die Zugrundelegung einer – nicht in idealistischen Denkfiguren rückgebundenen – Sozialontologie erhellen kann, wie und warum das Verhältnis von Selbst und Anderem, von Eigenem und Fremden so oft nationalistisch, ethnisch oder fundamentalistisch aufgeladen wird.

4. Der Ausschluss des Anderen: Eine soziale Ontologie von Konflikt und Dissens

Anlass und Ankerpunkt der von der neuen Linken im Anschluss an marxistische Denkfiguren entwickelten Sozialontologie ist die Überzeugung, dass es zwingend nötig ist, darüber nachzudenken, wie wir in unüberbrückbaren Differenzen und rational nicht mehr integrierbaren Dissensen mit Anderen zusammenleben können, da dies in keiner möglichen Welt vollständig zu vermeiden sein wird. Auch die Orientierung an universalistischen Grundhaltungen des Respekts, der Achtung, der Toleranz oder der Anerkennung des Anderen in liberalen Demokratien haben uns bislang nicht erfolgreich davor bewahrt, angesichts von Differenzen und Dissensen der sich wechselseitig in die Eskalation treibenden Dynamik gegenseitiger Ausgrenzung und Ausschließung anheimzufallen und immer tiefer in eine Bewegung gesellschaftlicher Entsolidarisierung hineinzugleiten. Aus diesem Grund wird auch das von deliberativen Moraltheorien6 so positiv entfaltete Modell einer multikulturellen Gesellschaft seit nunmehr zwanzig Jahren verstärkt kritisiert und in Frage gestellt.7 Eine Sichtweise, die uns Aufschluss darüber geben kann, warum dieses Modell selbst ideologischer Natur ist und somit einen blinden Fleck im Hinblick auf gesellschaftliche Realitäten hat, findet sich in den sozialen Ontologien, die von der neuen Linken etwa seit den 1980er Jahren entwickelt wurden.

»Auf dem Gebiet der kollektiven Identitäten« so schreibt die Philosophin Chantal Mouffe, »haben wir es mit der Schaffung eines ›Wir‹ zu tun, das nur bestehen kann, wenn auch ein ›Sie‹ umrissen wird.«8 Die Konstruktion eines Anderen, der nicht zugehörig ist, sondern ausgeschlossen wird, ist demnach Voraussetzung der Instituierung jeglicher Form von sozialer Identität und ohne eine solche ist diese nicht lebensfähig. Somit beruht jede Form der sozialen Identitätsbildung fundamental auf einem Antagonismus – einer unversöhnlichen, unüberbrückbaren Differenz –, welche für das Artikulieren und Stabilisieren von Identitätsformationen konstitutiv ist.

Auf der Grundlage dieses radikalen Einsatzes der Sozialontologie beim Ausschluss des Anderen (und nicht bei den tragenden Säulen des Verbindenden und Gemeinsamen) lassen sich nun drei verschiedene Ansätze unterscheiden, welche die ›Markierung des Anderen‹ negativ im Sinne einer Nicht-Zugehörigkeit vornehmen: Zum Ersten diejenigen Ansätze, die den Ausschluss des Anderen als objektive soziale Konstruktion begreifen, zum Zweiten diejenigen Ansätze, die den Ausschluss des Anderen als eine interne Struktur der Verdrängung und Unterdrückung von Andersheit in der eigenen Gemeinschaft verstehen, und zum Dritten diejenigen Theorien, die den Ausschluss des Anderen in einer Ordnung der Zugehörigkeit und Gemeinsamkeit begründet sehen, die als solche aufgehoben werden muss.

(1) Der Ausschluss des externen Anderen9: Dem ersten Ansatz sind vor allem die politischen Theorien von Ernesto Laclau, Chantal Mouffe und Judith Butler zuzuordnen. Sie sehen Identität in einer unversöhnlichen Freund-Feind-Beziehung begründet. Für sie ist jede kollektive Identität ein hegemoniales, d.h. auf der Vormacht des Einen gegenüber dem Anderen beruhendes Konstrukt. Identitätskonstruktion geschieht in ihren Augen zudem immer kontingent, d.h. sie ist nicht dauerhaft fixierbar und entspringt einer temporären und jederzeit widerruflichen Artikulation dessen, wer ›Wir‹ sind. Die Artikulation eines ›Wir‹ formiert sich damit notwendigerweise durch Ausschließung und Unterdrückung Anderer. Im Kern kreist sie jedoch um einen sogenannten ›leeren Signifikanten‹, also ein Wort wie ›Nation‹ oder auch ›Protestantismus‹, das durch imaginäre Mythen, Bilder und Geschichten immer wieder neu besetzt und erfunden werden kann und muss. Ein sich durchhaltender Kern von kollektiver Identität existiert hingegen nicht. Vorhandene Identitätskonstruktionen können damit aber auch stets durch gegenhegemoniale und subversive Strategien in ihrer Geltung abgesetzt werden.

(2) Der Ausschluss des internen Anderen: In einer zweiten Gruppe von Theorieansätzen,10 die mit den Namen Jacques Derrida, Jean-Luc Nancy und Maurice Blanchot in Zusammenhang gebracht werden können, wird die Problemstellung dagegen anders konstruiert. So heben sie stärker hervor, dass der Andere nicht nur extern existiert, sondern zugleich immer (latenter) Teil der eigenen Gemeinschaft ist. Gemeinschaft konstituiere sich bereits ›in sich‹ nicht als differenzloses Eins-Sein, sondern in und durch das Fremde im Eigenen, das anerkannt oder aber unterdrückt und verdrängt werden könne. Aus diesem Grund sei es von entscheidender Bedeutung zu erkennen, dass nicht ›der Andere‹ im Sinne eines konstruierten personalen Gegenübers, sondern die interne Struktur der Andersheit das eigentliche Problem darstelle. Andersheit sei jedoch nicht einfach mit empirischer Differenz gleichzusetzen, also mit der Tatsache, dass Andere eine von uns sichtbar verschiedene Hautfarbe, Sprache oder Kultur haben. Sie bezeichne vielmehr dasjenige an uns selbst oder an Anderen, was unvergleichlich und einzigartig verschieden und daher inkommensurabel ist.

(3) Gemeinschaft ›ohne‹ Identität: Eine dritte Gruppe von politischen Theorien geht nun noch einen Schritt weiter und fordert die Überwindung des Paradigmas der Identität an sich.11 Sie setzt ein neues Modell an seine Stelle: Gemeinschaft sei nicht in der Berufung auf Zugehörigkeit und Gemeinsamkeit, sondern in einem revolutionären Akt der Aufhebung aller Ordnungen des Gemeinsamen zu gründen. Das Paradigma zu einem solchen Akt finden nun beispielsweise die Philosophen Alain Badiou und Slavoj Žižek bereits in den Schriften des Apostels Paulus belegt. In dem Pauluswort »Da ist weder Jude noch Grieche [...], denn ihr seid alle einer in Christus Jesus« (Gal 3,28) seien alle Menschen zu einem universellen Standpunkt befreit, der nicht mehr an die spezifische Identität einer einzelnen Gemeinschaft, aber auch nicht an allgemeine, scheinbar neutrale Moralgrundsätze zurückgebunden ist. Stattdessen gründe sich diese neue Universalität in dem singulären Ereignis des Kreuzestodes Christi und versinnbildliche damit eine vom Singulären und nicht vom Allgemeinen her begründete Universalität.

Im Anschluss an die Analyse des Problems, dass kollektive Identitäten sich notwendigerweise über eine Ausschließung der bzw. des Anderen konstituieren müssen, soll nun im letzten Teil dieses Beitrags auf die für den christlichen Glauben zentrale Frage eingegangen werden, wie eine fortgesetzte Markierung und Spaltung des Anderen unsere Vorstellungen von Versöhnung, Befriedung und einem Zusammenleben in Vielfalt irritieren und beeinflussen kann. Der folgende Abschnitt widmet sich somit der Frage, inwiefern das christliche Ethos der Versöhnung nachhaltig irritiert und in Frage gestellt ist, wenn es mit einer um sich greifenden gesellschaftlichen Realität der feindlichen Ausschließung des Anderen, der hegemonialen Markierung seiner Existenz als Bedrohung konfrontiert wird und zugleich anerkennen muss, dass der hier zutage tretende Antagonismus fundamentaler ist, als alle sozialen Integrations- und Versöhnungsprogramme es jemals sein können. Oder noch grundsätzlicher formuliert: Es ist zu fragen, wie sich das Verhältnis von Politik und Religion aus christlicher Perspektive reorganisieren lässt, wenn das Politische nicht von vornherein in einer Matrix repräsentiert werden kann, welche sich universalistischen moralischen Grundsätzen verdankt.

5. Die Einbeziehung des Anderen: Das christliche Ethos einer versöhnten Gemeinschaft

In einem Interview zu seinem im Jahr 2015 erschienenen Dokumentarfilm »Beyond Punishment – Jenseits der Strafe« hat der Regisseur Hubertus Siegert die These vertreten, dass Versöhnung nichts ist, was wir als endliche Wesen voneinander erwarten, einfordern oder gar erzwingen könnten. Seiner Auffassung nach ist Versöhnung stattdessen als etwas der Theologie Vorbehaltenes zu begreifen. Sie zeichne ein Bild und eine Vision zwischenmenschlicher Beziehungen, die sich dem Menschenmöglichen immer wieder entziehe und daher nur unter Bezug auf Gott, d.h. auf ein unmögliches Subjekt aufrechterhalten werden kann. Siegert dokumentiert in seinem Film im Geiste dieser These drei Fälle, in denen Opferangehörige und Täter nach einem Tötungsdelikt und dessen juristischer Aufarbeitung beginnen, sich miteinander in irgendeiner Form neu auseinanderzusetzen. Er geht aus von der Beobachtung, dass die Strafe lediglich äußeren Frieden geschaffen, jedoch alle Beteiligten auf dem Prozess des inneren Friedens und im Umgang mit ihrem Konflikt keinen Schritt vorangebracht hat. Interessant ist an Siegerts Sichtweise nun, dass er die Straftat im Kern als einen Konflikt zwischen den Angehörigen des Opfers mit dem Täter begreift und somit als einen Konflikt, den das Strafrecht vollkommen ausblendet. Diesen Konflikt überhaupt zu adressieren und ihn nicht von vornherein ignorieren oder lösen zu wollen, ist das Anliegen seines Films.

Die Botschaft des Filmes ist damit desillusionierend und hoffnungsvoll zugleich. Auch wenn es zwischen den Beteiligten in der Mehrheit der dokumentierten Fälle nicht einmal zu einer persönlichen Begegnung, geschweige denn zu einer Aussprache oder Aussöhnung kommt, wird dennoch etwas anderes möglich, nämlich das Eingeständnis, dass es der Konflikt selbst ist, der beide, Täter und Angehörige der Opfer, auf immer aneinanderbindet. Diese Konflikt-Beziehung haben sie miteinander, ob sie miteinander sprechen oder nicht. Indem sie sich freiwillig entscheiden, in eine kommunikative Auseinandersetzung einzutreten, ist es ihnen jedoch möglich, diese Konflikt-Beziehung zu gestalten. Oder wie der Untertitel des Films es fasst: »Freiheit ist, was du aus dem machst, was dir angetan wurde.«

Wenn Versöhnung heißt, dass radikale Differenz überwunden, dass eine nachhaltig befriedete und von Gerechtigkeit getragene Beziehung zum Anderen eingeleitet wird, so wird in diesem Film kein einziger Fall von Versöhnung dokumentiert. Der Tod, der Verlust eines Angehörigen bleibt für die Opfer stets unwiederbringlich. Das, was die Täter im Leben anderer angerichtet haben, ist von ihnen durch nichts wieder gut zu machen. Das »Verzeihen des Unverzeihlichen«12 kann entsprechend niemals gelingen. Der Film zeigt stattdessen, dass das Eintreten in Kommunikation – indirekt über Videobotschaften oder stellvertretend mit ›anderen‹ Tätern und ›anderen‹ Opfern – sowie das Erzählen mit einem unbeteiligten Dritten, dem Dokumentarfilmer, einen Prozess in Gang bringen kann, der zumindest etwas mehr Klarheit und damit mehr Bewältigung stiftet. Er zeigt jedoch überdeutlich, dass die Versöhnung als Handlungsideal eine heillose Überforderung für Täter wie Opfer darstellt.

Nun ist es für uns bei einer objektiv festgestellten und verurteilten Straftat offensichtlich leichter zu akzeptieren, dass Annäherung und Aussöhnung nicht immer möglich sind, ja dass diese auch moralisch nicht zum Normalfall deklariert werden können. Doch verhält es sich bei den unsere Identität konstituierenden und stabilisierenden ›Feindbildern‹ des ›Anderen‹ nicht ebenso? Sie aufzugeben und Kontakt und Auseinandersetzung zuzulassen, scheint unmöglich, weil es einer Selbstaufgabe von existenziellem Ausmaß gleichzukommen scheint. Wenn Gemeinschaft und Zusammenhalt nur um den Preis gestärkt werden können, dass wir das Eigene gegen das Fremde abgrenzen, ja es ihm entgegensetzen – den ›Westen‹ dem ›Islam‹, die ›Demokratie‹ dem ›Populismus‹, den deutschen ›Protestantismus‹ dem Römischen ›Katholizismus‹ − ist es dann nicht tatsächlich zu viel verlangt, dass wir uns dem Anderen in seiner verstörenden Fremdheit komplett öffnen, ihn in seiner Andersartigkeit annehmen und uns gleichsam von unseren ureigensten Interessen entsolidarisieren?

Im Folgenden soll ausgehend von dieser unerhörten Zumutung, die in der christlichen Tradition wiederholt und mit Nachdruck als Kern des christlichen Ethos behauptet worden ist, der Frage nachgegangen werden, wie wir dem Anderen tatsächlich begegnen, wie wir seine Markierung als ›Ausgeschlossener‹, als ›Feind‹, als ›Gegner‹, als ›Bedrohung‹ unterlaufen können, ohne dass uns die Option einer finalen Versöhnung mit ihm real zur Verfügung steht. Dass Versöhnung in etwas anderem bestehen kann als in der Aufhebung eines Konflikts durch Aussöhnung, Wiedergutmachung oder Vergebung, ist von verschiedenen Theologen und Sozialethikern in den letzten zwanzig Jahren immer wieder als Möglichkeit bedacht worden. Einige ihrer Überlegungen sollen hier herausgegriffen und kritisch weiterentwickelt werden.

5.1 Körtner: Entmoralisierung der christlichen Versöhnung

Zum Ersten ist hier die Sozialethik des evangelischen Theologen Ulrich Körtner zu nennen. In seinen Überlegungen zum Versöhnungsethos der Bibel macht Körtner geltend, dass dieses Ethos gerade als Einspruch gegen eine vorschnelle Moralisierung von Konflikten begriffen werden sollte. Körtner merkt kritisch an, dass die Rede von Versöhnung in der modernen Politik und Moraltheorie zunehmend »zu einem religiösen Auffangbecken ethischer Appelle reduziert«13 worden sei. Beim Ruf nach Versöhnung gehe es heute vorrangig um Friedensstiftung und Konfliktregelung zwischen Menschen, anstatt um Gottes Handeln in Jesus Christus an uns.14 Das paulinische Wort von der Versöhnung im 2. Korintherbrief »Lasset euch versöhnen mit Gott!« (2 Kor 5,20) und seine Vision einer Versöhnung zwischen Gott und Mensch drohe auf ein Modell sozialer Friedensstiftung reduziert und damit zu einer folgenschweren Überforderung des Menschen gemacht zu werden. So berechtigt die Moralisierung religiöser Gehalte im Zuge der Säkularisierung und konsequenten Modernisierung des Christentums auch gewesen sein mag, gerade als ›Säkularisierte‹ transportieren diese ihren Transzendenzbezug verdeckt weiter. Mit dem Hinweis auf die säkulare Rettung dieser Gehalte durch konsequente Moralisierung seien diese demnach nicht ›gerettet‹, sondern nur in problematischer Weise säkular fortgeschrieben worden. Daher liegt der theologische Einspruch nahe – den Körtner in seinen Überlegungen auch vorträgt −, dass Versöhnung biblisch nicht als ein Handeln des Menschen, sondern als eine Gabe Gottes zu verstehen sei.15 Sie könne demnach nur Gegenstand der christlichen Hoffnung, aber nicht Ziel menschlichen Handelns sein. Versöhnung könne der Mensch sich nicht selbst geben, sondern habe sie allein in Jesus Christus von Gott empfangen.

Dieser sehr steile theologische Anspruch impliziert nun, dass von Versöhnung nicht ohne Gott, also zum Beispiel allein im Hinblick auf einen unbedingten Anspruch des unendlich alterierten Anderen gesprochen werden kann. Versöhnung wird somit bei Körtner, entgegen den Intentionen einer aufgeklärten Religion, zum Gemeinschaftsethos einer partikularen Gruppe, die Gott als unmögliches Subjekt beständig in ihre soziale Wirklichkeit und deren Gestaltungsmöglichkeiten einspielt. Ein ›Einspieler‹, der in der Öffentlichkeit einer säkularen Zivilgesellschaft als solcher nicht zum Zuge kommen kann.

Doch dies ist noch nicht einmal die folgenreichste Konsequenz der von Körtner vorgeschlagenen theologischen Reduktion der Rede von Versöhnung. Viel bedenklicher ist, dass die theologische Reduktion der Versöhnung auf die Gemeinschaft des Menschen mit Gott zu folgenschweren Missverständnissen des Versöhnungsethos führen kann − etwa dem Missverständnis, dass Versöhnung nur eine religiöse Utopie sei, die gar nicht verwirklicht werden könne, oder dass die christliche Rede von Versöhnung den Menschen zur Passivität angesichts der Erfahrung von Feindschaft und Ausgrenzung aufrufe.

Das Dilemma einer nicht-moralisierenden Deutung des biblischen Versöhnungsethos besteht demnach darin, dass es einerseits nicht zu viel und andererseits nicht zu wenig vom Menschen fordern darf. Die Rede von der Versöhnung ist also kritisch von quasi-religiösen Heilsversprechen auf der einen und von moralischer Apathie und Gleichgültigkeit auf der anderen Seite abzugrenzen.

5.2 Volf: Umarmung als Metapher für den Geist einer gastlichen Identität

Einen Versuch, diesen Mittelweg zu beschreiten, unternimmt der amerikanische Theologe Miroslav Volf. Ausgehend von seinen Erfahrungen mit ethnischen Säuberungen im Bürgerkrieg des ehemaligen Jugoslawiens macht Volf in seinem vielbeachteten Entwurf »Exlusion and Embrace« (1996) einen Vorschlag, was Christen den destruktiven Mechanismen politisch und religiös motivierter Identitätsbildung entgegensetzen können. Den feindlichen Ausschluss des Anderen bezeichnet Volf in diesem Zusammenhang als Sünde. Doch auch die Hoffnung auf eine universelle Versöhnung aller mit allen hält Volf für eine unzulässige Ideologie. Um den christlichen Glauben von einem religiösen Heilsversprechen zu unterscheiden, schlägt er daher vor, ausgehend von der biblischen Geschichte vom verlorenen Sohn (Lk 15,11-32) und dem in ihr gezeichneten Bild von der Versöhnung als einer Umarmung, einen Geist der Begegnung mit dem Anderen zu entwickeln, der Raum für das Fremde im Eigenen schafft.

Die Metapher der Umarmung bezeichnet Volf dabei als eine Ressource, die wir benötigen, um in der Abwesenheit und im Verzicht auf finale Versöhnung friedlich miteinander zu leben.16 Diese Metapher verweise auf eine leibhaftig vollzogene Geste der Begegnung mit dem Anderen, die aus drei Momenten besteht: 1. Dem Öffnen der Arme als Raumgeben für den Anderen, 2. dem Warten auf den Anderen als Zeichen dafür, dass dieser nicht manipuliert oder vereinnahmt werden soll, und 3. dem Schließen der Arme um den Anderen, das Volf als eine wechselseitige und nicht einseitig dominante Geste verstanden wissen will. Volf versucht damit, die Metapher der Umarmung, die auf den ersten Blick eher an Verschmelzung, denn an Differenzierung denken lässt, produktiv auszuleuchten. Sie stehe für eine gastliche Identität, die den Anderen willkommen heißt, weil sie um das Fremde im Eigenen weiß.

So offen sich Volfs Verständnis einer moderaten Annäherung an den Anderen allerdings auf den ersten Blick gibt, so folgerichtig mündet sie schließlich wieder in einer sehr starken Unterstellung, nämlich dass der Andere sich, ohne dass wir Zwang ausüben, auf die ihm dargebotene Geste der Umarmung und damit auf eine Nähe von sehr großer Intimität einlassen wird. Und zwar muss er sich der Metaphorik der Umarmung folgend körperlich auf uns einlassen und unsere Umschließung seines gesamten Oberkörpers zulassen. Dies erweist sich bei näherem Hinsehen als eine sehr große Anforderung der Nähe, denn die Umarmung als Geste der Öffnung ist ohnehin nur mit Mühe von einer Vereinnahmung des Anderen zu unterscheiden. Das hilfsweise von Volf angeführte Moment des Wartens vor dem Schließen der Arme vermag hier als Garant einer die Alterität wahrenden, minimalen Distanz in der Nähe nur wenig zu überzeugen. Hinzu kommt, dass Volf in seinen theologischen Ausführungen die Metapher der Umarmung ausgerechnet als Analogon der Pneumatologie und damit als Bild für den Geist, das unsichtbar verbindende und einende Element der göttlichen Trinität deuten möchte. Diese Übertragung einer im Sichtbaren und Körperlichen verorteten Geste auf den Bereich des Unsichtbaren und Geistigen erscheint konstruiert und deutet einen Wechsel der Ebenen an, durch den sich Volf dem eigentlichen Problem der Versöhnung unter den Bedingungen einer endlichen menschlichen Existenz theologisch wieder zu entziehen sucht.

5.3 Nancy: (Nicht-)Berührung als Medium einer minimalen Distanz

Am Schluss soll daher auf eine andere mögliche Metapher zu sprechen gekommen werden, die ebenfalls den Körper als Medium der Begegnung mit dem Anderen und als Ort des Widerfahrens seiner Alterität begreift, aber zugleich überzeugender als es bei Volf geschieht nach Spuren der Abwesenheit, der Negativität und des Entzugs von Nähe im Medium des Leibhaftigen sucht. Eine solche Spur der Abwesenheit und Distanz im Medium leibhaftiger Begegnungen hat der Philosoph Jean-Luc Nancy 2003 in seinem Essay »Noli me tangere« näher beleuchtet: Es handelt sich um die Geste der Berührung oder vielmehr der verweigerten, der unmöglichen Berührung in den Auferstehungserzählungen des Neuen Testaments. Anders als Volf sucht Nancy mit den Auferstehungserzählungen nicht nur ein wirkmächtiges Bild der christlichen Tradition auf, welches sich lebensnah auf zwischenmenschliche Praktiken der Nähe und Distanz des Anderen beziehen lässt. Deutlicher noch als das Bild der Umarmung in der lukanischen Geschichte vom verlorenen Sohn kann die von Nancy fokussierte Geste ›noli me tangere‹ als (unmöglicher) Versuch einer Begegnung mit Gott selbst verstanden werden und muss damit von vornherein in einem Horizont radikalster Alterität erkundet werden.

Nancy deutet in seinem Essay die Erzählung von der Begegnung Maria Magdalenas mit dem Auferstandenen am leeren Grab in Joh 20,11–18 so, dass Jesus in dieser Szene das Begehren Marias nach einer sinnlichen Vergegenwärtigung seiner Identität durch den Verweis auf die Himmelfahrt durchkreuzt, indem er zu Maria spricht: »Rühre mich nicht an! Denn ich bin noch nicht aufgefahren zum Vater«. Nach Nancy wird der Körper des Auferstandenen in dieser Szene durch die Geste des Nicht-Berührt-Werdens, durch die Verweigerung seiner Berührung und durch den Entzug des Begehrten unendlich alteriert und erscheint als ein sich fortwährend entziehendes Objekt bzw. Medium der Begegnung mit Gott.17 Der Körper Jesu sei in den Auferstehungsbegegnungen somit niemals unmittelbar präsent, sondern erhalte seinen Sinn gerade im Fortgehen, im Entschwinden: So lasse sich Jesus in der Erzählung vom leeren Grab nicht berühren oder er bleibe unerkannt, etwa wenn er von Maria Magdalena für einen Gärtner oder von den Emmausjüngern für einen unbekannten Weggefährten gehalten werde (Lk 24,13–35). Die Erzählungen prätendieren demnach fortgesetzt die Nicht-Identifizierbarkeit Jesu.

Das Geschehen der Auferstehung deutet Nancy daher konsequent als »fortgesetzte kenosis«:18 Der Körper Jesu bleibe weiterhin irdisch, seine Auferstehung sei jedoch nicht Apotheose, sondern werde in Bildern einer Entleerung und eines Entzugs von irdischer Präsenz verstanden. Der auferstandene Körper Jesu sei auch der tote Körper und stehe daher inmitten des Lebens für ein Moment der Unverfügbarkeit und der Distanz zur sinnlich erfahrenen Präsenz einer Person. Nancy deutet somit die Nicht-Berührung, das nicht erfüllte Begehren nach einem Begreifen und Identifizieren des Auferstandenen als eine Gestalt der Nähe, die permanent vom ›Abwesen‹ des Anderen, vom offenen Horizont seiner Alterationen (Entschwinden, Abwenden, Sich-Entziehen, Nicht-Antworten) bedroht ist und daher immer nur gefährdete (anstatt besitzende und Besitz ergreifende) Nähe sein kann.

Nach Gregor Maria Hoff, der Nancys Überlegungen im Blick auf eine spätmoderne Spiritualität ›ohne Gott‹ weiterzudenken sucht, gilt dies jedoch auch für das Phänomen der Berührung allgemein.19 Hoff deutet die Berührung des Anderen als eine Begegnung, in der sich Intimität und Distanz stets überschneiden und somit ›miteinander‹ bestehen: »In der Berührung verfügt man nicht und geht nicht in den haptischen Besitz des anderen über. Berührung setzt noch so minimalen Abstand voraus, um ihn einzuhalten.«20 Berühren ist demnach eben gerade niemals ein Umgreifen, Umarmen, Heranziehen oder Umschließen des Anderen. Sie wahrt Distanz und lässt dennoch Nähe zu, ohne das eine zur Aufhebung des anderen werden zu lassen. Davon erzähle auch das Neue Testament: Maria dürfe Jesus in der Erzählung vom leeren Grab nicht festhalten, nicht greifen und nicht umarmen und finde gerade so zu einem neuen (›erlösenden‹) Verhältnis zu ihm und zu sich selbst.

Die paradoxe Figur einer ›entleerten‹ Präsenz, die Nancy in den Erzählungen vom Auferstandenen entdeckt, hat ihre Pointe dennoch darin, dass sie keine Entkörperung, sondern eine Verkörperung der Leere und damit des ›Abwesens‹ Gottes ist. Sie sucht im Medium der leibhaftigen Erscheinung des Auferstandenen eine Phänomenalität von Distanz und Entzug auf und steigert diese zum Bild ›wahrer‹ Erlösung, die nicht in der Ankunft, sondern ausgerechnet im ›Abwesen‹ des Erlösers zu finden ist. Der Leib des auferstandenen Jesus ist in diesem Bild zwar in gewisser Weise noch ›da‹ und ›erscheint‹, er ist aber zugleich bereits im Entschwinden und Fortgehen und ›präsentiert‹ nur noch wenig mehr als eine Geste seiner eigenen Abwesenheit. In der Erzählung vom leeren Grab ist Jesu Leib somit nur noch ›Ent-Markierung‹ der in ihn gesetzten Erwartungen auf eine triumphale Rückkehr des Messias ins Leben. Die Identität des Auferstandenen mit dem Gekreuzigten wird zwar durch die Narben und Wunden auf seinem Körper noch angezeigt, lässt sich jedoch nicht mehr sinnlich-leibhaftig erfassen und bezeugen.

Während die Verwundbarkeit und Leidensfähigkeit des Menschenleibes Jesu im Anschluss an die Kreuzigungserzählungen also noch als Medium der Begegnung mit einem radikal anderen und neuen Gott gedeutet werden kann, der sich – so die auf das Dogma der finalen Versöhnung zielende Deutung – leibhaftig bis in den Tod auf den Menschen einlässt und den Tod darin ein für alle Mal überwindet, wird in der Lesart Nancys genau diese Deutung in den Auferstehungserzählungen revidiert und durchkreuzt. Hier wird Gottes Menschwerdung nicht zum metaphysischen Versprechen einer Fülle der Gegenwart des lebendigen Gottes durch den Tod hindurch gesteigert, sondern durch eine Leerstelle sinnlicher Gegenwart am Ort des Auferstandenen neu lesbar gemacht: Gottes Menschwerdung und sein Versöhnungswerk vollziehen sich dezidiert in Begegnungen der Alteration, im Medium von Gesten der Distanz und Differenz und nicht durch Identifikation und Markierung der Gegenwart des Anderen.

Ausgehend von einer solchen christologischen Pointierung der Versöhnung von den Auferstehungserzählungen her ließe sich nun auch das christliche Ethos theologisch neu befragen und auf seine minimalen, seine unscheinbaren und nicht-triumphalen Gesten der Versöhnung hin dekonstruieren. Versöhnung phänomenologisch als eine Geste der (Nicht-)Berührung zu pointieren, hieße hier, die Begegnung mit dem Anderen primordial vom unhintergehbaren Widerfahrnis seiner Alteration her zu beschreiben und diesem Widerfahrnis die subversive Kraft zuzusprechen, jede Markierung und Identifikation, jeden Versuch der Aus- und/oder Einschließung des Anderen aufzusprengen und zu durchkreuzen. Das Ethos der Versöhnung wäre dann neu als ein Ethos zu entfalten, welches das Verhältnis zum Anderen offen werden lässt für die Möglichkeit einer Begegnung des Anderen im offenen Horizont seiner Alterationen. Dies würde beispielsweise auch den Anspruch implizieren zuzulassen, dass der Andere sich in Begegnungen immer wieder anders zeigen darf, als wir ihn schon kennengelernt haben oder als wir meinen, ihn verstanden zu haben. Begegnung mit ihm wäre dann reduziert auf eine den Anderen bloß tangierende (Nicht-)Berührung, die sich jedoch als Eröffnung eines Momentes der Intimität erweisen kann ̶ einer Intimität, die wesentlich und konstitutiv auf eine niemals aufzugebende Differenz und Distanz zu Anderen – und sei sie auch noch so minimal – angewiesen bleibt und gerade darin – in diesem Spalt, der zum Anderen hin offen bleibt ­̶ Spielräume des lebbaren Miteinanders eröffnet findet. Die Einbeziehung des Anderen wäre dann nicht mehr unter dem Paradigma der Herausbildung eines Gemeinsamen und Verbindenden zu denken, sondern würde sich auf einen Kontakt, auf ein ›Anrühren‹ des Anderen reduzieren müssen, das seine leibhaftige Verwundbarkeit wahrt, anstatt sie heilen oder auflösen zu wollen. Es wäre eine Einbeziehung des Anderen, die sein mögliches Fortgehen und Entschwinden, seine Nicht-Begreifbarkeit im Horizont der Abskondität des menschgewordenen Gottes stets voll und ganz zugesteht.

Literatur

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Assheuer, Thomas. »Die Untröstlichen.« DIE ZEIT, 4. Juli 2015, online verfügbar unter: http://www.zeit.de/2015/25/beyond-punishment-hubertus-siegert (zuletzt abgerufen am 3.3.2018; R.K.).

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Žižek, Slavoj. The Fragile Absolute, or, Why is the Christian Legacy Worth Fighting For? London: Verso 2000.

Comments
6
Maximilian Schell:

Eine sehr wichtige und nachvollziehbare Forderung! Wird mit gewichtigen Bibelversen im Rücken (etwa Mk 11,25f.) schnelle Vergebung, Nähe und Harmonie von den Beteiligten im Prozess verlangt, bewegt sich die Theologie im Feld eines weltfremden Zynismus, der die Verletzungen und Traumata der Geschädigten nicht ernst nimmt. Ich frage daran anschließend: Lässt sich das Ethos der Distanz und Alterität nicht nur auf individual-, sondern auch sozial-ethischer Ebene fassen? Ich denke hier an gesellschaftliche Versöhnungsprozesse und die Frage, wie verfeindete Gruppen wieder zusammenfinden können. Kann Versöhnung im Anschluss an das Versöhnungsethos der Offenheit und Alterität in der öffentlichen Sphäre dann als Agonsimus, als offener diskursiver Raum mit sich widersprechenden Anschauungen und Visionen, verstanden werden? Das wäre für gesellschaftliche Versöhnungsprozesse zugleich ein hoch voraussetzungsvolles sozialethisches Anliegen angesichts einer sehr fragilen Grundsituation in einem quasi luftleeren politischen Raum…

Adventskalender
Thomas Renkert:

#CursorAdventskalender 2020

Mikkel Gabriel Christoffersen:

This is a great critique of one of my favorite theological texts, Miroslav Volf’s Exclusion and Embrace, also in light of where it leads: to Nancy’s Noli me tangere. However, I have always understood the metaphor of the embrace less concretely; a handshake or a fist bump would work as well with less intimate connotations. But surely, it implies touching and nearness with Nancy emphasing the possibility of reconciliation within the non-touching presence!

Arne-Florian Bachmann:

Ich bin bei der Gruppierung in die drei Kategorien unsicher: Gemeinschaft ohne Identität (so ein Buch von Juliane Spitta, die eher zu Butler/Foucault zählt) scheint mir von der Beschreibung her eher auf Butler und co zu passen.: Strategie der Ent-Naturalisierung und Entselbstverständlichung von Identitäten.

Vielleicht könnte man die drei Kategorien auch so fassen:
a) Konstruktion: Hier dann eine relativ willkürliche Privilegierung des Einen vor dem Anderen. Die Lösung besteht dann in der Ent-Unterwerfung und Subversion von Identitätskateogrien.
b) Verdrängung/Verschiebung: Hier könnte man auch Teile von Zizek und Lacan nehmen - vielleicht auch Waldenfels. Das Fremde im Eigenen wird verdrängt: hier ist die Lösung Gastlichkeit: auch gegenüber dem Fremden im Eigenen.
c) Riss/Ereignis: Das ist vielleicht am schwierigsten. Vielleicht verstehe ich Zizek so, dass er sagen würde: es gibt ein Reales, dass mit dem Reden von Identität verdeckt werden soll: nämlich die fundamentale Gespaltenheit des Eigenen. Die Rede von “Männlichkeit” zeigt gerade die Unmöglichkeit auf, “männlich” zu sein. Gleichzeitig kennt er Ereignisse, die die “organisch gewachsenen” Ordnungen des Sozialen in Frage stellen - ich weiß nicht, ob er wirklich “ein für alle Mal abschaffen” sagen würde.

Arne-Florian Bachmann:

Vielleicht könnte man ja sowohl Putnams Theorie als auch den ingroup-bias sogar zusammenfassend erklären: das, was als gemeinsames Gut imaginiert wird und welches emotionalen Gewinn verspricht - die gemeinsame Sache! - zählt höher als der reine Nutzen bzw. das utilitaristische Kalkül.
Meines Erachtens lässt sich genau so erklären, warum die BREXIT Verhandlungen schief gelaufen sind: man appellierte immer nur an das Kalkül und übersah die emotionale Seite des verhandelten Problems.

Arne-Florian Bachmann:

Das spannende ist ja genauer, dass hier nicht einfach im Sinne einer bestimmten ikonoklastischen Kritik der Volksbegriff als romantische Erblast allein bestimmt wird. Also etwa in der Weise: man muss den Menschen nur beibringen, dass es “das Volk” als Singular nicht geben kann und sie hören auf davon zu reden. Hier wird ja, wenn ich es recht verstehe, das Bedürfnis für “so etwas wie Volk” zurückgeführt auf Formen der öffentlichen Rede, die in der repräsentativen Demokratie konstitutiv ausgeschlossen sein müssten. Das hieße dann: es gäbe keine Form der Demokratie, die nicht beständig auch Populismen produziert?

Arne-Florian Bachmann:

Das finde ich eine sehr spannende These. Nur weil gerade der Begriff des bourgeois so vieldeutig ist: wie würde man die populäre Öffentlichkeit bestimmen?
In etwa so: rechtsstaatliche Öffentlichkeit ist das, was in Zeitungen steht und im Parlament verhandelt wird - populäre Öffentlichkeit das, was in der Kantine geredet und unter Youtube Videos gepostet wird? Welche Formen des Austausches sind genau gemeint? Welche Foren und Medien?