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Interaktion unerwünscht? Online-Gottesdienste während der Corona-Pandemie

Weitere ausgewählte Ergebnisse der Befragungsstudie „Rezipiententypologie evangelischer Online-Gottesdienstbesucher*innen während und nach der Corona-Krise (ReTeOG)“

Published onFeb 11, 2021
Interaktion unerwünscht? Online-Gottesdienste während der Corona-Pandemie
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1. Einleitung

Online-Gottesdienste sind seit dem ersten Lock-Down in der Corona-Krise im Frühjahr 2020 von einem Rand-Phänomen im kirchlichen Leben zu einem (zumindest temporär) erstaunlich zentralen Element geworden; dies hat sich im zweiten Lockdown ab kurz vor Weihnachten 2020 offenbar deutlich fortgesetzt. Wie die diesem Beitrag zugrunde liegende Umfrage ergab, möchte eine große Mehrheit der Online-Gottesdienstbesuchenden auf diese Form des Gottesdienstes nicht mehr verzichten. Wie an anderer Stelle bereits veröffentlicht (Reimann & Sievert 2020), hatten 65,4 Prozent aller Befragten auch nach Ende des ersten Lockdowns weiterhin an digitalen Gottesdiensten teilgenommen; mehr als 80 Prozent der Befragten hatten mindestens vier Online-Gottesdienste besucht. Nur 2,8 Prozent nahmen schon vorher regelmäßig an Online-Gottesdiensten teil.

Die Verbreitung von Online-Gottesdiensten erfolgt dabei zumeist über Social Media-Kanäle, allen voran YouTube. Laut einer anderen Studie (Hörsch, 2020: 27-28) wurde letzterer Kanal von 58,3 Prozent der dort befragten Gemeinden speziell für Gottesdienste genutzt; zusammengenommen wurden demnach 60,7 Prozent der digitalen Verkündigungsformate während der Corona-Krise mittels „klassischer“ sozialer Plattformen angeboten. Das entspräche laut dieser sogenannten „midi-Studie“ einem Zuwachs im Vergleich zu der Zeit vor der Corona-Krise um 41,5 Prozent. Angebote außerhalb der beiden großen marktbeherrschenden Player Google (YouTube) und Facebook (Facebook, Instagram, WhatsApp), etwa Podcast oder Telefon verzeichneten viel geringe Zuwächse.

Social Media wiederum sind ein Medium, dass sich zumindest theoretisch eigentlich vor allem durch eines auszeichnet: umfassende Interaktionsmöglichkeiten zwischen Anbieter*innen und Nutzer*innen (wie auch wiederum der Nutzer*innen untereinander). Auch für Gottesdienste könnte dies gerade in einem protestantischen Kontext von großem Interesse sein. Doch gaben – wie ebenfalls schon veröffentlicht – die meisten Befragten (60,9 Prozent) der Studie der Autoren dieses Beitrags an, dass sie an Gottesdiensten ohne Interaktionsmöglichkeiten teilgenommen hätten. Und noch etwas mehr (61,5 Prozent) sagen, dass sie sich bezogen auf Online-Gottesdienste auch gar keine weitere Interaktion online wünschen würden, sondern die bestehende Situation ihnen ausreiche.

Wie erklärt sich gerade im evangelischen Umfeld nicht nur die geringe angebotene Interaktion, sondern vor allem auch dieses auf den ersten Blick erstaunlich starke Interaktionsdesinteresse? Warum ist seitens vieler Nutz*innen Interaktion fast schon unerwünscht? Dieser Frage will der vorliegende Beitrag mit systematischen, bisher unveröffentlichten Detailauswertungen der eingangs erwähnten Studie sowie ergänzenden eigenen Betrachtungen und Überlegungen nachgehen. Im Sinne einer wünschenswerten Interaktion sehen die beiden Autoren ihre Arbeit dabei als „Work in Progress“ und freuen sich über ergänzende Kommentare wie Anregungen aus dem Kreis der kompetenten Leser*innenschaft dieses Fachartikels.

2. Ausgangslage

2.1 Teilhabe und Partizipation an Gottesdienstformaten generell

Im Auswertungsband der fünften EKD-Erhebung über Kirchenmitgliedschaft (KMU V) betrachten Grubauer & Hauschildt (2015: 69) die aus der Kirchenmitgliedschaft resultierenden sozialen Handlungen, die auch zu sozialer Interaktion in der Kommunikation führen: „Dass eine soziale Praxis als „Praxis der Kirche“ gelten kann, müsste demnach sich daran ausweisen können, was interagiert wird und mit wem interagiert wird“. Aufgrund der in der KMU V erhoben Daten lässt sich dabei differenzieren nach „religiös und kirchlich nicht Interaktiven“, „religiös Interaktiven“, „kirchlich Interaktiven“ und „religiös und kirchlich Interaktiven“.

Diese Schlüsselvariable der kirchlichen Interaktion wurde für dieselbe Studie mit der Frage des Erlebens im Sonntagsgottesdienst gekreuzt. Für die Erlebniserwartungen in Bezug auf den Gottesdienst ergeben sich bei den vier Interaktionsgruppen keine große Ausdifferenzierung, bei allen sind die Vermittlung von Zuversicht, eine zeitgemäße Sprache und eine gute Predigt am stärksten ausgeprägt (Grubauer & Hauschildt, 2015: 76). Bezieht man diese Erwägungen auf die medial ermöglichte Interaktion, wie sie bei digitalen Gottesdiensten beispielsweise über Chat oder Kommentarfunktion realisiert sind, so liegt der Erwartungshorizont an solche Interaktion nicht im Fokus des Gottesdienstbesuches.

Allerdings ist zu bedenken, dass diese spezifische Fragestellung auch nicht im Fokus der Erhebung stand. Beim Vergleich mit den Daten dieser Studie (Reimann & Sievert, 2020), wonach durchaus ein quantifizierbarer Wunsch nach Interaktion im (digitalen) Gottesdienst bestand, muss die besondere Situation während des pandemiebedingten Lockdowns beachtet werden. Da soziale Kontakte in dieser Zeit reduziert waren, kann der Wunsch nach Interaktion im digitalen Gottesdienst durchaus eine Kompensation für den Verlust an Begegnung in Präsenzsituationen darstellen.

Interaktion und Partizipation in Gottesdiensten ist durchaus Thema gegenwärtiger praktisch-theologischer Diskussionen. Jedoch liegt der Fokus dabei auf Predigt und Liturgie, so sieht beispielsweise Schirr (2019) beim Improvisieren im Rekurs auf Theater bzw. Jazz in Predigt und Liturgie eine gute Möglichkeit der Steigerung von Partizipation und Interaktion im Gottesdienst. Der medial-vermittelte Einbezug der Gottesdienstbesucher*innen in das Gottesdienstgeschehen wurde in diesen Diskussionen allerdings nicht erörtert.

Die von der liturgischen Konferenz durchgeführte Kirchgangstudie 2019 (Liturgische Konferenz, 2019) nimmt digitale Gottesdienste nur sehr eingeschränkt in Blick, sie sind der Rubrik „Fernseh- und Radiogottesdienste und neue interaktive Formen im Internet“ zwar aufgenommen, werden jedoch nicht eigens analysiert. Interaktion – ob digital oder im Gottesdienstgeschehen vor Ort – wird nicht als Faktor des Gottesdienstbesuches benannt.

Fechtner (2015: 118) interpretiert die KMU V hinsichtlich Partizipation im Gottesdienstgeschehen als Aufgabe, „Kirche vor Ort und gottesdienstlich so zu gestalten, dass sie nicht enger, sondern weiter wird, für Menschen an entscheidenden Stellen ihres Lebens in Reichweite bleibt und ihnen ermöglicht, je auf ihre Art teilzuhaben an dem, wofür Kirche steht. Das ist nicht wenig.“ Interaktionsformen in digitalen Gottesdiensten sind daher eine Möglichkeit der Weitung, um neue Partizipationsformen zu entwickeln.

2.2 Interaktion in Internet und Social Media generell

Das Internet in der Ausprägung mit der wir es heute zudem haben, ist in seiner Form als Web 2.0 oder 3.0 vor allem durch Social Media geprägt. Beschäftigt man sich mit Social Media, erscheint es legitim, für eine erste Definition ebenfalls ein „Social Medium“ heranzuziehen. Wikipedia („Social Media“, 2021) versteht darunter derzeit „digitale Medien und Methoden […], die es Nutzern ermöglichen, sich im Internet zu vernetzen, sich also untereinander auszutauschen und mediale Inhalte einzeln oder in einer definierten Gemeinschaft oder offen in der Gesellschaft zu erstellen und weiterzugeben“.

Kürzer und bündiger definiert die Praktikerliteratur etwa bei Safko (2012: 4): „Social media is the media we use to be social. That‘s it.“ Deutlich wissenschaftlicher haben Michelis und Schildhauer (erstmals 2012: 19; neuestes Auflage 2021) ein Drei-Ebenen-Modell sozialer Medien entwickelt, das zwischen individuellen, technologischen und soziologischen Aspekten unterscheidet. Den meisten Definitionen gemeinsam ist die starke Betonung von „User Generated Content“ (UGC) als dem grundlegenden Elemente sozialer Medien – in Abgrenzung eben zu klassischen Medien oder auch dem Web 1.0, die Inhalte nur zentral vorgeben.

Doch dass diese Möglichkeit zur eigenen Veröffentlichung von Inhalten besteht, heißt noch lange nicht, dass sie auch tatsächlich genutzt wird. Laut Beisch & Schäfter (2020: 474-475) betrachten zwar 37 Prozent der Facebook-Nutzer*innen regelmäßig den Newsfeed und 27 Prozent Videos, doch nur zehn Prozent schreiben dazu auch Kommentare und acht Prozent posten auch selber Inhalte. Bei Instagram stellt sich der Unterschied noch deutlicher da: 53 Prozent sehen sich Stories und 51 Prozent Videos an, aber lediglich 13 Prozent veröffentlichen selber und knapp zehn Prozent kommentieren. Bei YouTube ist der Unterschied laut älteren Studien zumindest ähnlich (Poleshova, 2018).

Ob man generell solche Entwicklungen positiv oder negativ bewertet, darüber lässt sich trefflich streiten und allein schon zur allgemeinen Theorie des Internets gibt es eine sehr große Anzahl von Texten und Ansätzen (Baumgärtel, 2020). Und sicher bleibt es eine große Herausforderungen, Personen innerhalb wie außerhalb von Organisationen zu echter Interaktion und letztlich Engagement zu bewegen (Sievert & Scholz, 2017). Letztlich gilt hier aber nach Ansicht der Autoren in diesem Bereich für kirchliche Kommunikationsarbeit das Diktum van Wyngaardens (2018: 34): „[D]as Internet und alles, was damit zusammenhängt, wird nicht verschwinden. Im Gegenteil: Alles, was digitalisiert werden kann, wird es wahrscheinlich auch sein. […] Statt in jubilatorische Zukunftsbegeisterung oder resignierte Vergangenheitsverklärung zu verfallen, sollten wir annehmen, was vorhanden ist.“

2.3 Historie und Entwicklung von Online-Gottesdiensten

Internet-Gottesdienste beschäftigen seit rund 20 Jahren die kirchliche Online-Community (Morrison, 2006). Allerdings war es anfangs eher eine Spezialfrage kirchlicher Internetbeauftragter, wie christliche Spiritualität einschließlich Gottesdiensten online gelebt werden könne. Von reinen Gottesdienstübertragung – wie z.B. der von Rundfunkgottesdiensten über die Streamingangebote der Sender oder von vereinzelten Online-Übertragungen von Events – abgesehen, ließ sich in Bezug auf interaktive Gottesdienste noch 2007 die Feststellung treffen, „[r]egelmäßige Online-Gottesdienste sind im landeskirchlichen Bereich nicht bekannt“ (Brok & Reimann 2007). Mit dem Launch von evangelisch.de 2009 entstand eine Online-Community bzw. eine Mediengemeinde (Reimann, 2012), die bestrebt war, webgemäße Verkündigungsangebote zu etablieren.

Schon in der Passionszeit 2011 gab es regelmäßig Chatandachten auf evangelisch.de, seine erste Teilnahme als „einfacher Teilnehmer“ an einer solchen Online-Andacht beschreibt der Schweinfurter Citypfarrer Heiko Kuschel (Kuschel, 2011), der später selbst auch einige dieser Andachten leitete, folgendermaßen: „Die Andacht im Chat entpuppte sich als erstaunlich intensiv. Eigentlich kann man das gar nicht beschreiben, man muss es erlebt haben.“ Kuschel nimmt dabei wahr, dass sich die Andacht stark auf Fürbitten konzentriert. Ob Passionschatandachten 2011 oder digitale Gottesdienste während der Corona-Pandemie 2020, die Gemeindebeteiligung an Fürbitten scheint dabei eine wichtige Partzipationsmöglichkeit und Interaktionsform bei digitalen Gottesdiensten zu ein. Von evangelisch.de ausgehend entwickelten sich auf Barcamps und auf Kirchentagen weitere interaktive Gottesdienstformate, zunächst noch textbasiert.

Die Weiterentwicklung von Online-Gottesdienste erfolgte von zwei Richtungen her. Einerseits wurden die niederschwelligen Kommunikationsformen des Internets genutzt, um die Beteiligung der Gemeinde am Gottesdienstgeschehen zu intensivieren, so wie bei den vom ehemaligen Meckenheimer Gemeindepfarrer Knut Dahl verantworteten Twittergottesdiensten, bei denen man sich direkt über Tweets beteiligen konnte: „Die meisten Gottesdienst-Experimente wie der ‚Twitter-Gottesdienst’ sind aber Gottesdienste einer realen Gemeinde, die einfach nur über Social Media ‚übertragen’ werden, ganz ähnlich wie ein Fernsehgottesdienst – mit dem Unterschied, dass ein Twitterer auch vom heimischen Frühstückstisch seine Gebetsanliegen oder seine Gedanken zur Predigt mit einbringen kann” (Kuschel, 2011). Andererseits gibt es eine zweite Entwicklungslinie, die von Online-Communities ausgeht, die eine dem Medium adäquate Gottesdienstform suchen. Dabei scheint Partizipation und Beteiligung – gerade auch im Gegenüber zu ausgestrahlten Rundfunkandachten – konstitutiv zu sein, dies gilt nicht nur für die Beteiligungsmöglichkeiten während des Gottesdienstes, sondern bereits auch für die Vorbereitung des Gottesdienstes (Reimann, 2017).

Mit der größeren Verbreitung von Social-Media-Plattformen wurden deren Interaktionsmöglichkeiten auch für interaktive Gottesdienste genutzt wie z.B. für Facebook-Gottesdienste, die als Stream realisiert wurden (Reimann, 2013: 12-17). Projekte wie das aus der hessen-nassauischen Landeskirche stammende sublan.tv (Toepfer, 2015) oder wie die mitteldeutsche Onlinekirche (onlinekirche.ekmd.de) entwickelten aus einer Community heraus interaktive und partizipative Formate für den Gottesdienst. Gleichzeitig wurde es immer einfacher, auf YouTube Livestreams umzusetzen, so dass Gemeinden begannen, ihre Gottesdienste online zu übertragen.

Vor dem Ausbruch der Corona-Pandemie gab es anlassbezogene oder in bestimmten Online-Communities verankerte interaktive Gottesdienste, die auf verschiedenen Plattformen aufsetzten. Auf der Gemeindeebene gab es nur wenig digitale Angebote, nur einige Gemeinden hatten Erfahrung in der Gottesdienstübertragung, aber diese waren primär keine interaktiven Formate.

Es wird sich zeigen, ob die online geübten Interaktionsformen nun Eingang in auch digital durchgeführte Gemeindegottesdienste finden werden oder ob die digitalen Gemeindegottesdienste online nur ein Abbild der Präsenzgottesdienste vor Ort bleiben werden und die Interaktionsmöglichkeiten des Web ungenutzt lassen.

3. Methodik

3.1 Entstehung und Studiendesign

Die Studie „Rezipiententypologie evangelischer Online- Gottesdienstbesucher*innen während und nach der Corona-Krise“ (Reimann & Sievert, 2020) will Gemeinden helfen, begründete Entscheidungen zu treffen, mit welchen Online-Gottesdienst-Formen und -Formaten sie künftig bestimmte Zielgruppen erreichen können. Grundlage für die Studie ist eine Umfrage, die vom 20. Mai bis zum 20. Juli 2020 geschaltet war.

Die Befragung umfasste vier Themenbereiche, die Teilnahme dauerte etwa zehn bis 15 Minuten; in diesem Beitrag werden nur einige wenige ausgewählte Ergebnisse zum Interaktionsthema in einer vertieften Auswertung präsentiert. Die Umfrage wendete sich vor allem an Menschen, die digitale Gottesdienste besucht haben, aber auch an solche, die dieses Angebot bisher nicht wahrgenommen haben. Sie fragt dabei nach Teilnahme an Online-Gottesdiensten ebenso wie nach konkreten Erfahrungen und weitergehenden Wünschen.

Startpunkt der Studie war eine Befragung, die bereits in den Landeskirchen Baden und Württemberg durchgeführt wurde, aber noch nicht wissenschaftlich ausgewertet war. Für die Landeskirchen Hannover, Hessen und Nassau sowie Rheinland, die sich der Umfrage später anschlossen, wurde sie durch die beiden Autoren dieses Papers ergänzt und überarbeitet. Der eine ist promovierter Kommunikationswissenschaftler, Hochschullehrer für Kommunikationsmanagement und Digitalisierungsexperte, aber auch Presbyter und hat in seiner lokalen landeskirchlichen Gemeinde digitale Gottesdienste miteingeführt. Der andere ist Kirchenrat, Pfarrer, Diplom-Informatiker und Internetbeauftragter seiner Landeskirche und hat seit über zehn Jahren bei Online-Gottesdiensten mitgewirkt.

3.2 Stichprobe

Die vorliegende Befragung dürfte einen guten Querschnitt der Online-Gottesdienstbesucher*innen in Deutschland abbilden, da sie in fünf regional sehr unterschiedlichen EKD-Gliedkirchen sowohl zentral durch entsprechende landeskirchenweite Online-Gottesdienst-Webseiten und deren Social-Media-Kanäle als auch lokal von Gemeinden jeweils im Kontext der Ankündigung oder Ausstrahlung von Online-Gottesdiensten verbreitet wurde. Ergänzend gab es auch eine Verbreitung über allgemeine kirchliche Newsletter wie beispielsweise der der EKD.

4.767 Befragte waren insgesamt in der Stichprobe für die Befragung; die konkreten Fragen zu Erfahrungen mit Online-Gottesdiensten wurden dabei natürlich nur von denjenigen beantwortet, die angaben, auch schon an solchen teilgenommen zu haben (knapp 90 Prozent der Befragten). Auch so haben nicht alle Befragten alle Fragen beantwortet, z. B. gab es fast immer eine Antwort zu Geschlecht und Alter, aber nicht in allen Fällen zu Familienstand und Wohnsituation. Offenbar wollten manche Befragten zu gewissen Bereichen keine Auskunft geben.

Viele Indikatoren zu den Grundeigenschaften der Befragten im Gesamtsample (also inklusive der 10 Prozent Nicht-Besucher*innen) sprechen dabei für eine weit verbreitete Grundstruktur des Gesamtsamples: Teilnehmende aus städtischen Regionen (50,5 Prozent) und aus ländlichen Regionen (46,9 Prozent) waren ausgewogen vertreten. Mit 61,9 Prozent nahmen mehr Frauen an der Befragung teil als Männer (37,7 Prozent). Rund 60 Prozent sind zwischen 31 und 60 Jahre alt, wobei die 51- bis 60-Jährigen mit 31 Prozent die stärkste Gruppe darstellen, gefolgt von den 41- bis 50-Jährigen (18,4 Prozent). Die meisten Befragten sind verheiratet (66,6 Prozent) und leben als Paar (42,8 Prozent) oder als Familie mit Kindern (33,4 Prozent). Sehr viele sind „einfache“ Gemeindemitglieder (77,3 Prozent) und/oder im Ehrenamt tätig (44,1 Prozent); der hauptamtliche Anteil bei den Befragten beträgt etwa ein Fünftel (22,1 Prozent).

Die für die in diesem Beitrag präsentierte Teilauswertung besonders relevanten Fragen nach vorhandenen und gewünschten Interaktionselementen, die innerhalb der baden-württembergischen Ursprungsstudie nicht gestellt worden war, brachten es auf 3.131 bzw. 3.270 Antworten.

3.3 Rezipientenorientierung und Interaktion als Beobachtungsperspektive

Der schnelle Umstieg von Präsenzgottesdiensten zu digitalen Angeboten führte dazu, dass innerhalb sehr kurzer Vorbereitungszeit auch Gemeinden ohne Präsenz in sozialen Medien ihre Offline-Angebot nun online darboten. Notgedrungen dachte man daher vom bestehenden Angebot her, anstatt userorientiert vorzugehen. Da man im Netz sich aber in einem viel stärkeren Wettbewerb um Aufmerksamkeit und Relevanz befindet – mit einem Mouse-Klick lässt sich ein digitaler Gottesdienstbesuch beenden, während die Hemmschwelle, aus einem laufenden Gottesdienst das Kirchengebäude zu verlassen, viel höher ist – setzen Online-Angebote eine viel stärkere Orientierung an den Bedürfnissen der User voraus als gemeindliche Präsenzveranstaltungen.

Die Orientierung an den Wahrnehmungen und Interessen der Besucher*innen von Gottesdiensten ist oft nicht im theologischen und kirchenleitenden Denken verankert. Interaktionsgeschehen, das online oft leichter realisierbar ist als in Präsenzgottesdiensten, findet dabei Eingang in Gemeindegottesdienste. Im Folgenden werden in Ergänzung zu bereits erfolgten Veröffentlichungen der Studie die Interaktionen bzw. der Wunsch nach Interaktionen aus Perspektive der Gottesdienstbesucher*innen näher in Blick genommen.

Was in dieser Veröffentlichung in Fokus genommen wird, stand bei den ins Digitale verlegten Gottesdiensten in der Regel nicht im Mittelpunkt des Gottesdienstgeschehens und war auch für die Teilnehmenden an der Umfrage ein Aspekt unter vielen. Aufgrund des Designs wurde bei der Umfrage in den Fragen nach Interaktion nicht zwischen Livestreams bzw. live als Videokonferenz durchgeführten Gottesdiensten einerseits und aufgezeichneten Gottesdiensten anderseits differenziert. Während bei Videokonferenzen und Livestreams über die Chatfunktion leicht eine Interaktionsmöglichkeit gegeben, wird bei aufgezeichneten Gottesdiensten die Möglichkeit zu kommentieren in der Regel seltener wahrgenommen bzw. ist oft nicht im Blick der Teilnehmer*innen. Dennoch lassen sich Korrelationen von Interaktion und Live-Erfahrung aus Userperspektive aufzeigen.

4. Ausgewählte Ergebnisse

4.1 Allgemeine Interaktionserfahrungen und -wünsche

Die meisten der Befragten (60,9 Prozent) gaben an, dass sie an Gottesdiensten ohne Interaktionsmöglichkeiten teilnahmen, diese Antwort umfasst Gottesdienste, die aufgezeichnet wurden und als On-demand-Video bereitgestellt wurden oder es hat sich um eine reine Übertragung gehandelt. Auch wenn es online keine Beteiligungsform gab, berichten 12,3 Prozent, dass zum Mitmachen beim Online-Gottesdienst Materialtüten, Liedblätter oder ähnliches Begleitmaterial verteilt wurden. Umfassende Beteiligungsmöglichkeiten – wie beispielsweise bei einem als Videokonferenz gestalteten Gottesdienst – hatten 4,7 Prozent der Umfrageteilnehmer*innen, 22,2 Prozent berichten von grundlegenden dialogischen Elementen, dies umfasst u.a. das Einbringen von Fürbitten via E-Mail oder Messenger.

Dass etwas über drei Fünftel der digitalen Gottesdienste ohne Interaktion gestaltet wurden, zeigt eine deutliche Veränderung gegenüber Online-Gottesdiensten vor der Corona-Pandemie an, die anlassbezogen und oft in einer Community verortet mit dem Schwerpunkt Interaktion und Partizipation (z.B. als Twittergottesdienst auf dem Kirchentag) gestaltet wurden (Reimann, 2017). Die digitalen Gottesdienste zur Corona-Zeit bilden daher grundsätzlich eher den gemeindlichen Präsenzgottesdienst online ab, als dass sie Interaktionsmöglichkeiten des Internets in den nun digitalen Gemeindegottesdienst holen.

Abb. 1: Erlebte Interaktionselemente in Online-Gottesdiensten. Alle Angaben in Prozent (n= 3.131). Eigene Erhebung und Darstellung.

Abb. 1: Bevorzugte Übertragungsformate und erlebte Interaktionselemente in Online-Gottesdiensten. Alle Angaben in Prozent (n=2.202 bis 3.131). Eigene Erhebung und Darstellung.

Wie es nicht mit der erfahrenen, sondern mit der gewünschten Interaktion aussieht, zeigten die Antworten auf andere Fragen: Etwas weniger als der Hälfte (48,7 Prozent) der Umfrageteilnehmer*innen, die auch zum Geschlecht Auskunft gaben, genügt eine reine Aufzeichnung oder Übertragung ohne interaktive Elemente; 12,9 Prozent wünschen sich zwar Interaktion, aber zumindest Begleitmaterial. 29,6 Prozent halten dialogische Elemente wie z.B. das Einbringen von Fürbitten für wünschenswert und 8,8 Prozent möchten umfassende dialogische Elemente in einem digitalen Gottesdienst haben.

Als gewünschte Plattform für Interaktionen führen soziale Netzwerke und Messenger wie Facebook, Twitter und WhatsApp mit 36,6 Prozent, eine Videokonferenz wird von 25,0 Prozent favorisiert, der Chat auf YouTube mit 23,5 Prozent und E-Mail mit 13,9 Prozent. Das Telefon ist mit 1,0 Prozent zu vernachlässigen.

Interessant wiederum die Wünsche nach konkreten Bereichen der Interaktion (vgl. Abb. 2): Inhaltlich wünschen sich rund zwei Fünftel, selber Fürbitten einzubringen, jeweils rund ein Fünftel wollen Diskussionselemente im Gottesdienst haben bzw. Gesprächsmöglichkeit im Anschluss an den Gottesdienst.

Abb. 2: Wunsch nach Plattformen und Inhalten der Interaktion. Alle Angaben in Prozent (n=1.243 bis 1.247). Eigene Erhebung und Darstellung.

4.2 Interaktionswünsche und Demographie

Wie in der Einleitung angekündigt, soll hier jedoch noch ein deutlich tieferer Blick in Bezug auf die Interaktionswünsche vorgenommen werden. Zunächst stellt sich dabei die Frage, ob es möglicherweise für unterschiedliche Geschlechter/Gender grundsätzlich andere Tendenzen gibt, ob und welche Art von Interaktion gewünscht wird. Zumindest für die männlichen und weiblichen Werte ist dies klar zu verneinen – diese entsprechen mit minimalen Abweichungen den Gesamtwerten (vgl. Abb. 3). Lediglich bei den diversen Befragten gibt es eine klare Tendenz zu Interaktionswünschen – allerdings ist, wie oben unter „Sample“ dargestellt so klein, diese Ausprägung von der Fallzahl her so klein, dass eine wirkliche Interpretation nicht möglich ist.

Abb. 3: Interaktionswünsche nach Geschlecht/Gender. Alle Angaben in Spaltenprozenten (n= 3.255; Cramer V= 0,046; Signifikanz <= 0,034). Eigene Erhebung und Darstellung.

Abb. 3: Interaktionswünsche nach Geschlecht/Gender. Alle Angaben in Spaltenprozenten (n= 3.255; Cramer V= 0,046; Signifikanz <= 0,034). Eigene Erhebung und Darstellung.

Etwas anders zeigt sich das Ergebnis, wenn die Interaktionswünsche nach Altersgruppen betrachtet werden (vgl. Abb. 4). Hier gilt vor allem für den Wunsch nach grundsätzlichen dialogischen Elemente eine klare recht Entwicklung: Je jünger die Befragten sind, desto stärker werden diese nachgefragt. In der Tendenz, jedoch in den jüngeren Gruppen nicht ganz so klar ansteigend, gilt dies auch für die Forderung nach umfassenden Dialogangeboten. Bei den negativen Antwortoptionen gibt es altersbezogen bei den Antworten hingegen schon einige Schwankungen. Insgesamt ist deshalb hier nur ein schwacher Zusammenhang zu beobachten.

Abb 4: Interaktionswünsche nach Altersgruppen. Alle Angaben in Spaltenprozenten (n= 3.266; Cramer V= 0,128; Signifikanz <= 0,000). Eigene Erhebung und Darstellung.

4.3 Interaktionsformen und Live-Geschehen

Für Interaktionsformen wurden folgende Wünsche erhoben, nämlich Fürbitten einzubringen, Diskussionselemente im Gottesdienst zu haben bzw. Gesprächsmöglichkeit im Anschluss an den Gottesdienst wahrzunehmen. Bei diesen Wünschen stellt sich die Frage, ob diese der Corona-Situation geschuldet sind oder auch in einer Nach-Corona-Zeit weiter bestehen werden. Der Wunsch nach Beteiligung bei Fürbitten scheint jedoch auch lange vor der Corona-Pandemie ein Desiderat gewesen zu sein, wie bereits Kuschel (2011) berichtet hat.

Auch wenn die Anzahl solcher Gottesdienste deutlich geringer ist, sind Gottesdienste via Chat (Evangelische Kirche im Rheinland, 2020) oder Messenger (Reimann, 2020) bereits als Interaktionsgeschehen angelegt. Bei digitalen Live-Gottesdiensten ist die Implementation von Interaktionsmöglichkeiten einfach bzw. oft bereits durch die gewählte Plattform gegeben. Bei als Videokonferenz durchgeführten Gottesdiensten und bei Livestreams (z.B. YouTube oder Facebook) – und auch bei der Premiere-Funktion von YouTube - steht eine Chatfunktion der Plattform zur Verfügung. Beim Anlegen des Streams muss diese nur freigeschaltet werden.

Bei aufgezeichneten Gottesdiensten gibt es zur Interaktion nur die Kommentarfunktion, diese aber wird erfahrungsgemäß deutlich seltener als Chat genutzt. Als reduzierte Form des Feedbacks gibt es auch die Bewertungsmöglichkeit „Gefällt mir“ oder „Gefällt mir nicht“ bzw. Daumen hoch oder runter. Bei aufgezeichneten Gottesdienstes ist zwar Interaktion möglich, aber die Möglichkeit solcher Interaktion ist deutlich schwächer ausgeprägt als bei Live-Gottesdiensten.

Diese Erwägungen decken sich auch mit den erhobenen Daten (vgl. Abb 5). Wem die Live-Teilnahme am Gottesdienst wichtig ist, hat auch einen relativ höheren Wunsch nach Interaktion im Gottesdienst (je nach gewünschtem Interaktionsumfang 34,4 zu 20,9 bzw. 16,0 zu 5,7 Prozent). Umgekehrt wird von Befragten, denen eine reine Übertragung oder Aufzeichnung reicht, eine Beteiligungsmöglichkeit gar nicht nachgefragt (61,3 zu 35,8 Prozent).

Abb. 5: Interaktionswünsche bei Live-Geschehen. Alle Angaben in Spaltenprozenten (n= 1.722; Cramer V= 0,272; Signifikanz <= 0,000). Eigene Erhebung und Darstellung.

Abb. 5: Interaktionswünsche bei Live-Geschehen. Alle Angaben in Spaltenprozenten (n= 1.722; Cramer V= 0,272; Signifikanz <= 0,000). Eigene Erhebung und Darstellung.

5. Fazit & Ausblick

5.1 Chance: Ausdifferenzierung echter Interaktivität in Online-Gottesdiensten einschließlich praktischer Beispiele

Interaktion in Präsenzgottesdiensten in Kirchengemeinden einzubinden, bedeutet immer auch zusätzliche Aufwände in der Vorbereitung und Umsetzung. Digitale Live-Gottesdienste bieten diese Möglichkeiten ohne zusätzliche Aufwände in der Technik, denn Interaktionsmöglichkeiten sind in den Plattformen angelegt, sie müssen nur freigeschaltet werden. Die Nutzung von Interaktion verändert das Gottesdienstgeschehen, der Gottesdienst wird dialogischer. Diese im Netz gegebene Dialogkultur kann so auch auf die Gemeindewirklichkeit übertragen werden – es muss nur auch gewollt sein. „Beteiligung ist digital aber anscheinend für viele Leute viel einfacher, niederschwelliger“, diesen Erkenntniszuwachs benennt Gemeindepfarrerin Maike Neumann aus Kaarst in ihrem Erfahrungsbericht (Neumann, 2020). Es besteht daher die Chance, dass oft beschworene Priestertum aller Gläubigen mit einfachen Mitteln durch Interaktionen in digitalen Gottesdiensten umzusetzen. Wenn Partizipation und Interaktion digital gelingt, stellt sich die Frage, ob sich daraus auch eine Veränderung für Präsenzgottesdienste ergeben kann.

Bei der Integration der Interaktion in den digitalen Gottesdienst geht es nicht nur darum, dass technisch eine Interaktionsmöglichkeit gegeben ist, sondern sie muss auch in das Gottesdienstgeschehen liturgisch und konzeptionell eingebettet sein. Exemplarisch seien hier zwei von vielen stattgefundenen Gottesdienste genannt. Beim Ostergottesdienst mit Präses Manfred Rekowski in der Wuppertaler Philippuskirche (EKiRInternet, 2020) konnten per Livechat, E-Mail und Twitter auch Fürbitten und andere Interaktion eingebracht werden, diese wurden über eine Twitterwall sichtbar gemacht. Die Wall mit den Interaktionen der Gemeinde – der Gottesdienst fand in der Zeit des Lockdowns statt und die Gemeinde konnte nur online beteiligt werden – wurde im Stream angezeigt, so. z.B. die Fürbitten (Minute 43:18 im Stream). Gleichzeitig wurde die Online-Interaktionen über einen Bildschirm den Liturg*innen angezeigt, so dass sie darauf eingehen konnten. Beim Kindergottesdienst aus dem Kinderzimmer (kirchemitkindern-digital, 2020) hatte der YouTube-Livechat eine zentrale Funktion. Pfarrer David Ruddat begrüßt die Zuschauer*innen im Chat namentlich, er führte im Rahmen der Predigt einen Dialog mit den Chattenden, und beteiligte sie beim Fürbittengebet; nach Ende des Gottesdienstes kommen über Chat Fragen, die er im Stream beantwortet. Ohne Chat hätte dieser dialogisch aufgebaute Kindergottesdienst nicht funktioniert.

Diese beiden Gottesdienste zeigen, dass Interaktion in Online-Gottesdiensten gelingen kann, wenn sie gewollt und geplant ist. Wesentlich war bei beiden Gottesdiensten, dass die Liturg*innen die Userinteraktionen wahrnehmen und auf sie eingehen konnten. Dies wurde in den vorgestellten Beispielen u.a. dadurch ermöglicht, dass die eingehenden Reaktionen für die Gottesdienstverantwortlichen via Screen sichtbar waren. Diese beiden hier dargestellten Gottesdienste fanden rein digital statt, die Gemeinde war nur im Internet versammelt und über Stream mit den Liturg*innen und anderen Akteur*innen verbunden. Konzentration auf die Gemeinde war daher eine Konzentration auf den Chat bzw. die Social Media Wall. Ähnliche Erfahrungen haben andere Gemeinde etwa mit dem Einsatz von Videokonferenz-Software und handgeschriebenen Kommentar-, Gruß- oder Fürbitten-Zetteln gemacht, wie einer der Autoren aus eigener Erfahrung in der Evangelischen Kirchengemeinde Lintorf-Angermund weiß.

Bei hybriden Gottesdiensten – d.h. ein Teil der Gemeinde ist vor Ort in der Kirche versammelt, ein anderer nimmt online teil – ergibt sich ein noch komplexeres Szenario. Die im Kirchraum versammelte Gemeinde ist an einen klassischen Gemeindegottesdienst ohne Interaktion gewöhnt und nimmt innerhalb dieses Erfahrungshorizontes teil. Interaktionen erfolgen online durch die zugeschalteten Gottesdienstbesucher*innen. Allerdings ist die Aufmerksamkeit der Pfarrperson eher bei der vor Ort versammelten Gemeinde, denn es erfordert Aufwand, aus dem Kirchraum per Smartphone oder Tablet auch die entfernt Gottesdienst Feiernden einzubeziehen. Natürlich gibt es auch dafür Lösungen – beispielsweise kann jemand aus dem Kirchraum heraus Kontakt zur online versammelten Gemeinde halten und mit ihr interagieren – aber Interaktion bei hybriden Gottesdiensten ist komplexer als bei rein digitalen Gottesdienstfeiern und unterbleibt daher oft: Der Präsenzgottesdienst wird gestreamt, aber Interaktion nicht gezielt angeboten.

5.2 Gefahr: Verlust von Interaktivität nach der Pandemie

Partizipation und Beteiligung der Gemeinde am Gottesdienstleben ist in der Gemeindewirklichkeit aber meistens nicht verankert, auch wenn es theologisch eigentlich geboten wäre. Corona hat viele Veränderungen und Erschwernisse gebracht, daher besteht vermutlich bei einigen das Bedürfnis, nach Ende der Pandemie wieder zum Status quo ante zurückzukehren. Interaktion und Beteiligung binden zusätzlich Menschen in das Gottesdienstgeschehen ein, dies mag dazu führen, dass so bestehende Positionen hinterfragt werden. Da in der Regel Ältere in Gemeinden Verantwortung tragen und der Wunsch nach Interaktion bei Jüngeren höher ist als bei älteren Gemeindegliedern, stellt sich die Frage, ob leitungsseitig am Ende entsprechende Beteiligungsformate tatsächlich fortgeführt werden.

Not lehrt beten, so ein altes Sprichwort. Interaktive Fürbitten waren bisher nicht im Erwartungshorizont landeskirchlicher Kirchgänger*innen verankert. Die Corona-Pandemie und die daraus resultierenden digitalen Gottesdienste haben einem breiteren Publikum diese Art des Fürbittengebetes geöffnet. Ob die Krise der Pandemie und die daraus bedingte Notlage zur weiteren Verbreitung von Interaktion bei Fürbittengebeten beigetragen haben, sei dahin gestellt. Jedenfalls hat diese Form des Gebetes nun größere Resonanz gefunden und erweitert protestantisch-landeskirchliche Spiritualität. Dass es innerhalb landeskirchlicher Frömmigkeitstile durchaus ein Bedürfnis nach Austausch bei Gebetsanliegen gibt, die bisher nur in reinen Online-Communities befriedigt werden konnten, zeigten die Bemerkungen von Kuschel. Vielleicht finden sie nun verstärkt Eingang in Gemeindegottesdienste und führen so zu der von Fechtner geforderten Weitung des Gottesdienstgeschehens, d.h. Menschen, die in einer Gemeinschaft persönliche Gebetsanliegen teilen wollen, finden ein Forum dafür in ihren Gemeinden, anstatt auf reine Online-Communities angewiesen zu sein. Vielleicht wird all dies aber auch nach Ende Pandemie direkt wieder aufgegeben.

Auf der anderen Seite kann und wird Digitalisierung, wie das Beispiel der Change-Kommunikation zeigt, natürlich auch grundlegende Veränderungen in Organisationen auslösen, die dann nicht mehr rücknehmbar sind (Sievert & Nelke 2012). Dies ist im Kontext der gesellschaftlichen Auswirkungen des Corona-Geschehens dabei durchaus auch für Kirche wie konkret für Gottesdienste zu erwarten. Andererseits haben sich viele anfangs gehypte Themen am Ende erst mit deutlicher Verzögerung als Quantensprünge erwiesen (Sievert et al. 2019).

5.3 Empfehlung: Handlungsvorschläge für die gottesdienstliche Praxis und weitere Forschung

Bezüglich der Einschätzung von und dem Wunsch nach Interaktion divergieren wie dargestellt die Werte unter den Teilnehmer*innen der Umfrage stark. Einige wünschen sich Interaktion, die es in dieser Form vor der Pandemie in landeskirchlichen Gemeinden so in der Regel nicht gegeben hat, andere legen keinen Wert auf Interaktion und ihnen reicht die bloße Teilnahme am Gottesdienst – ob digital oder vor Ort, oft reicht ihnen sogar auch eine reine Aufzeichnung eines Gottesdienstes. Für eine weitere Auswertung wäre es daher interessant, entsprechende Cluster unter den Besucher*innen digitaler Gottesdienste herauszuarbeiten. Und für künftige neue Primärforschung wäre es lohnenswert, auch eine Differenzierung zwischen analogen, hybriden und rein digitalen Gottesdiensten sowie eine noch genauere Untersuchung des allgemeinen Mediennutzungsverhalten der jeweiligen Bezugsgruppen in den Blick zu nehmen.

Insgesamt stellt sich aber die Aufgabe, die nun in digitalen Gottesdienstformen erlebten Beteiligungsformate auch für die Zukunft zu erhalten, denn sie bietet neue digitale kommunikative Möglichkeit mit der Option auf teilweise neue Zielgruppen und sie weitet evangelische Gemeindepraxis. Dies gilt umso mehr, als sich die allermeisten Befragten weiterhin Online-Gottesdienste wünschen.

Nicht jede Gemeinde muss dabei alles anbieten. Andererseits ist eine lokale Verankerung digitaler Gottesdienste wichtig, da sie die Attraktivität derselben deutlich erhöhte. Es ist daher wünschenswert, dass die Gemeindeglieder, denen die Interaktion wichtig geworden ist, Gemeinden finden, in denen sie sich auch im Gottesdienst aktiv einbringen können – gern auch die eigene. Viele Dinge, die sich in den letzten Jahren im außerkirchlichen Internet herausgebildet haben, gelten dabei auch hier: lokale Angebote haben selbst bei einfacher technischer Qualität eine hohe Attraktivität durch Authentizität und Identifizierung; überregionale Angebote hingegen müssen im Wettbewerb neben Authentizität auch zunehmend durch ein hohes Maß an formaler Professionalität überzeugen.

Wenn es künftig sowohl Gemeindegottesdienste in Präsenz und digital gibt, bleibt abzuwarten, welche Form sich als prägend erweisen wird. Zu Beginn des ersten Lockdowns wurden die bekannten Formen und Formate ins Netz übertragen, in der Zwischenzeit hat es in vielen Gemeinden eine Lernkurve gegeben und es wurden spezielle Internetformate entwickelt. Es bleibt zu hoffen, dass diese Formate – gerade was die Interaktivität und Beteiligung bezüglich der Fürbitten betrifft – auch auf nicht-digitale Gottesdienste übertragen werden.

Bei all dem ist das Ende des begonnenen Weges naturgemäß noch nicht abgesehen. Abschließend sei dazu nochmals van Wyngaarden (2018: 34-35) zitiert: „Die wahre kulturelle Bedeutung des Digitalen entzieht sich noch weitgehend unserer Wahrnehmung. Auch hier trifft die berühmte Aussage des kanadischen Kommunikationstheoretikers Marshall McLuhan zu: Das Medium ist die Botschaft. Die Grundregeln, Strukturen und Mechanismen liegen oft im Dunkeln. Während das, was sie an der Oberfläche transportieren, wahrgenommen wird, bleibt ihre eigentliche Wirkungsmacht zunächst verborgen.“

Literatur

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