In deutschsprachigen Medien und Theologie wird Dämonologie als eine gefährliche Form von Aberglauben wahrgenommen. Anhand von Hexerei-Theologien in Nigeria argumentiere ich, dass Dämonologien in lokalen Abgrenzungen konstituiert werden, die wiederum global verflochten sind.
Dämonologie, also die Vorstellung oder Lehre von Dämonen, genießt in der deutschsprachigen Öffentlichkeit keinen guten Ruf, um es vorsichtig auszudrücken. Im Winter 2020 wurde über den Fall einer Mutter berichtet, die ihr Kind zur Austreibung von Dämonen geschlagen habe.1 Anlässlich der Stürmung des Kapitols im Januar 2021 meinte der Historiker Johannes Dillinger uralte Muster von Hexenglaube und Dämonologie erkennen zu können, die sich bis in das 21. Jahrhundert erstreckten und insbesondere in den sogenannten Verschwörungstheorien verbreiteten (vgl. Idw 2021). Der Artikel mit seinem Interview titelte »Besseres Geschichtsverständnis und Aufklärung nötig«. Auch in einem Beitrag des Deutschlandfunks wurde im Zusammenhang mit Dämonologie abschließend eine Psychotherapeutin mit den Worten »Gebet wird nicht selten zur Gewalt« (Daum 2020) zitiert. Die augenscheinliche Prämisse: Die Vorstellung von Dämonen führt zur Gewalt und es bedarf daher der Aufklärung. Diese Annahme steht dabei in großem Unterschied zur globalen Relevanz und Vielschichtigkeit von Dämonologie.
In der deutschsprachigen Theologie wird der Terminus ›Dämonologie‹ meist vermieden. So argumentiert Walter Sparn in dem RGG-Artikel Das Dämonische, dass es sich bei ›dämonisch‹ zwar um einen neutestamentlich gebräuchlichen Begriff handele, er allerdings in der evangelischen Dogmatik am Rand stehe: »Dies entspricht dem monolatrischen und eschatologischen Charakter des Christentums: Man kann (und braucht) nicht so, wie man den dreieinigen Gott glaubt, an Dämonen zu glauben« (Sparn 2015).2 Diese Haltung, dass die Vorstellung bzw. der Glaube an Dämonen den Glauben an Gott bedrohe oder mit ihm in Konkurrenz stehe, lässt sich bis zu den Vorlesungen des vielrezipierten Karl Jaspers Mitte des 20. Jahrhundert zurückführen. Dämonologie führe zu einer Missachtung der wahren Transzendenz, die nur in der Gottesbetrachtung allein zu finden sei und die daher in Gefahr sei, wenn andere übernatürliche Mächte als real wahrgenommen würden. Es sei nur eine Übersteigerung von Immanenz, die aber gerade dadurch die Transzendenz verfehle. Der Glaube an Dämonen sei letztendlich ein »Zwischensein, das weder empirische Realität noch transzendente Wirklichkeit ist. Sie [Dämonologie] will Realität ergreifen und verfehlt sie, indem sie ein illusionäres Übersinnliches zu fassen meint: sie verliert die Klarheit des Erkennbaren« (Jaspers 2012, 100).
Ähnlich argumentiert auch Ulrich Körtner: Dämonologie trübe die Gottesvorstellung. Er schreibt in einem Beitrag im EZW-Band Exorzismus, es handle sich bei der Personifikation des Bösen in Dämonen nur um »Scheinlösungen« des Theodizeeproblems (vgl. Körtner 2015, 83; Körtner 2018, 398). Zudem würden dämonologische Vorstellungen als Personifikationen zu Dämonisierungen führen, die wiederum genau das Gegenteil dessen bewirken, was sie versprechen, indem sie »dem Bösen weiter Vorschub leisten« (ebd., 400). Jedoch weist er mit Karl Barth auch daraufhin, dass »die Kritik der Aufklärung am Teufels- und Dämonenglauben […] fatal gewesen [sei], weil es von der Kritik der Dämonen zur Bestreitung der Theologie nur ein kleiner Schritt war« (Körtner 2015, 83). Dies weist wiederum darauf hin, dass die Grenzen zwischen Theologie und Dämonologie vielleicht nicht so evident sind, wie es Sparn in der RGG deutete, und dass es vom Zweifel an Dämonen nicht weit zum Zweifel an Gott sein kann. Körtner ist zudem der Ansicht, dass die Aufklärung die Dämonologie bei weitem nicht erledigt habe. Allerdings zeigt er wie viele andere in der deutschsprachigen Theologie kaum Bewusstsein für die interkulturelle Beschaffenheit des Christentums. Körtner verweist zwar auf die Pfingstbewegung, nimmt jedoch ausgerechnet deren globalen Charakter (vgl. Bergunder 2009; Suarsana 2017) nicht in den Blick.
Dem stehen Stimmen aus der Interkulturellen Theologie entgegen. So wird die Bedeutung der globalen Pfingstbewegung in dem 2015 erschienen Sammelband Witchcraft, Demons and Deliverance ersichtlich, wo ausdrücklich der pfingstlich-charismatische Befreiungsdienst als mögliche christliche Umgangsweise und die globale Verquickung von Dämonologie und Hexerei-Vorstellungen in den Blick geraten, die in der deutschsprachigen Theologie keine Beachtung finden. Claudia Währisch-Oblau und Henning Wrogemann, die den Band herausgegeben haben, schreiben jedoch, dass sie belächelt worden seien:
Wann immer wir, zwei aus der deutschen Missionstheologie, mit unserem kollegialen Umfeld über unser Projekt sprachen, eine internationale akademische Konferenz über die Themen Hexerei, Dämonen und Befreiungsdienst zu organisieren, stießen wir auf Zweifel oder sogar offenen Hohn. Hexerei, Dämonenglaube und Befreiungsdienst wurden im »aufgeklärten« Nordeuropa als kuriose Überreste mittelalterlicher Weltanschauungen angesehen, die vielleicht noch in zurückgebliebenen afrikanischen Dörfern gefunden werden könnten, aber im Laufe von Modernisierung und Globalisierung aussterben würden. (Währisch-Oblau/ Wrogemann 2015a, 7)3
Im deutschsprachigen Kontext und insbesondere in der deutschsprachigen Theologie sei es schwer, die global sehr bedeutsamen Themen Hexerei-Vorstellungen, Dämonologie und Befreiungsdienst zu traktieren. Zeitgleich zu dem Sammelband erschien auch ein Band der Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen (EZW) zum Thema Exorzismus, der diese Ablehnung in der deutschsprachigen Theologie etwas schärfer in den Blick nahm. Der Großteil der Beiträge malte ein schauriges Bild exorzistischer Praxis (vgl. Lamprecht 2015; Wrogemann 2015a). Insbesondere dem pfingstlich-charismatischen Befreiungsdienst wurde mehrheitlich kein gutes Zeugnis ausgestellt. Im Gegensatz dazu verwies Wrogemann in demselben EZW-Band auf die globale Relevanz von Dämonologie und Hexerei-Vorstellungen. Diese seien keine »Relikte längst vergangener Entwicklungsstufen menschlicher Gesellschaften« (Wrogemann 2015a, 70). Die Annahme, diese Vorstellungen seien rückwärtsgewandt, sei »eine völlige Verkennung global zu beobachtender Praxis«. Wrogemann spricht sich für einen Machtverhältnisse bewusst reflektierenden Dialog aus, in dem Unterschiede der Dämonologien und der Befreiungsdienste im globalen Christentum ausgehandelt werden könnten (vgl. ebd., 72). Jedoch weist er auf die jesuanische Praxis hin, die als Vorbild fungiere und pfingstlich-charismatische Kirchen in ihrem Befreiungsdienst häufig verfehlen würden: »Gegenüber der Praxis einiger [pfingstlich-charismatischer; Anm. Vf.] Kirchen unterschied Jesus nicht verschiedene Ebenen der Geister. Er befragte sie nicht. Er nutzte nicht Mittel wie Asche oder Stöcke, um sie auszutreiben. Er sprach auch nicht mit territorialen Geistern« (Wrogemann 2015b, 183). Somit stellt Wrogemann letztlich doch vermeintlich überkulturell geltende Unterscheidungskriterien wie diese spezifische Interpretation des jesuanischen Vorbildes für den global-christlichen Dialog auf und droht damit seine Bereitschaft, »die verschiedenen kulturellen Logiken der fremden Glaubensgeschwister so weit als möglich gedanklich nachzuvollziehen« (Wrogemann 2015a, 73), zu konterkarieren.
Das Christentum in Deutschland ist ebenfalls bereits plural – anders, als es viele Beiträge in der deutschsprachigen Theologie vermuten lassen. Dies ist nicht zuletzt auch den Migrationskirchen zu verdanken, die hierzulande seit Jahren existieren und die immer wieder versuchen, mit den evangelischen Landeskirchen ins Gespräch zu kommen (vgl. Bergunder/Haustein 2006). Dank ihrer Präsenz sind Debatten mit sogenannten Partnerkirchen ebenfalls nicht mehr nur Randphänomene, mit denen sich wenige richtig auseinandersetzen müssen. Auch im Austausch mit Partnerkirchen liegen Chancen, wie Claudia Währisch-Oblau zeigt (vgl. Währisch-Oblau 2015). Sie beschreibt, wie die Vereinigte Evangelisch-Lutherische Kirche Deutschlands (VELKD) sich mit ihren internationalen Partnerkirchen einen evangelisch verantwortbaren Befreiungsdienst erarbeitet hat. In dem Sammelband von Währisch-Oblau und Wrogemann ist das Material zur Nutzung angehängt, das u.a. die kamerunische evangelische Kirche für ihren Befreiungsdienst erstellt hat (vgl. Währisch-Oblau/Wrogemann 2015b, 277–312). Ähnlich ermutigt auch Anna Quaas pastoral Tätige in deutschen Großkirchen dazu, Beratung und Supervision von pfingstlich-charismatischen Kolleg_innen in Anspruch zu nehmen, da diese »auf diesem Gebiet Kompetenzen und Kenntnisse besitzen« (Quaas 2015, 56). Auch, was die Bedenken in der deutschsprachigen Öffentlichkeit bezüglich der Gewalt in Austreibungen angeht, sind viele Forschende aus der globalen Pfingstbewegung schon weiter. So reflektiert z. B. der ghanaische Pfingsttheologe Opoku Onyinah dezidiert die verschiedenen Ebenen von Manipulation und Gewalt, die durch den Befreiungsdienst begünstigt werden können (vgl. Onyinah 2015, 222–225). Er weist insbesondere auf strukturelle Probleme der Armut hin, die von individualisierten Dämonologien verdeckt werden können, und auf die Relevanz von Sünden- und Kreuzestheologie (vgl. ebd., 226–227). An sein Bestreben, Befreiungsdienst zu erhalten, jedoch theologisch zu durchdenken, ließe sich vielleicht auch der Spagat anschließen, den Körtner versucht, wenn er davon schreibt, »Strategien der Dämonisierung [zu] durchkreuzen, ohne das Böse zu leugnen oder zu banalisieren« (Körtner 2018, 400). Dabei sind auch die Erfahrungen und Kompetenzen von Menschen aus dem globalen Süden theologisch ernst zu nehmen, wenn deutschsprachige Theologie weiterhin über das gegenwärtig verfasste, also das globale Christentum sprechen will.
In diesem Artikel soll nun der Blick auf Dämonologie, der im deutschsprachigen Kontext verengt zu sein scheint, religionswissenschaftlich geweitet werden. Dies geschieht am Beispiel christlicher Praktiken in Ibadan im Südwesten Nigerias. Ich werde zuerst die kontextuellen Dämonologien anhand des Beispiels der Hexerei-Theologien beschreiben. Es handelt sich dabei um die theologische Verortung von Hexerei-Vorstellungen, die im deutschsprachigen Kontext als häufig längst überwunden gelten, auch wenn bereits oben beim Medienbeitrag von Dillinger klar wurde, dass dem nicht so ist. Meine These ist, dass diese spezifische Art von Dämonologie im nigerianischen Kontext innerhalb von globalen Verflechtungen zu verorten ist und sich zu globalen Abgrenzungen verhält. Zunächst argumentiere ich, dass das, was christliche Menschen in Nigeria als ›Hexe‹ und/oder als ›Dämon‹ betrachten, von den religiösen Traditionen abhängt, auf die sie sich beziehen und die sie gegen ihre Konkurrenz auf dem lokalen Heilungsmarkt positionieren. Sodann nehme ich die globale Verwobenheit dieser Abgrenzungen genauer in den Blick. Dabei werde ich mich auf zwei Aspekte beschränken: erstens die nationale und globale Befreiungsdienst- und Heilungsdebatte versus globale Esoterik und zweitens das Verhältnis von Heilpraktiken, Medizin und ›Magie‹. Abschließend werde ich im Fazit auch auf das oben erwähnte Bedürfnis innerhalb deutschsprachiger Medien und Theologie zurückkommen, sich selbst als fortschrittlich zu stilisieren.
Die im Folgenden vorgestellten Hexerei-Theologien und Dämonologien wurden während mehrerer Feldforschungsaufenthalte zwischen 2015 und 2017 untersucht. Die Feldforschung fand dabei im Südwesten Nigerias in einem Stadtteil von Ibadan mit einer Bevölkerung von ca. 10.000 Menschen statt. Hier leben christliche und muslimische Menschen seit der Gründung in den 1960er Jahren nebeneinander. Bislang wurden in den Afrika-Studien Hexerei-Vorstellungen und Dämonologie primär im afrikanischen Christentum, weniger im afrikanischen Islam und noch weniger in den Kontexten untersucht, in denen die Bevölkerung christlich und muslimisch ist. Bei den Hexerei-Theologien und Dämonologien werde ich mich hier zwar auf das Christentum beschränken, allerdings auch die Gemeinsamkeiten, insbesondere in Form von Abgrenzungen zu muslimischen und traditionellen Heilpraktizierenden hinweisen. Dies ist insbesondere vor dem Hintergrund bedeutsam, dass im Stadtteil christliche Menschen durchaus Hilfe bei muslimischen Heilpraktizierenden suchten.
Quer durch das christliche Spektrum im Stadtteil zog sich die Annahme, dass Hexerei eine Gefahr darstellte, die grundlegend auf antigöttliche Kräfte zurückzuführen waren. In katholischen, anglikanischen, methodistischen, pfingstlichen und sogenannten Afrikanischen Unabhängigen Kirchen stimmten Menschen darin überein, dass Hexerei und Hexen, beides auf Yoruba benannt mit dem Wort Àjé, wider Gott und wider die Gläubigen wirkten. Kirchenleitungen spezifizierten zudem, dass es sich bei Àjé um solche bösen Geister handelte, die in Menschen führen: »Sie [die Àjé] sind Geister. Sie verschaffen sich Zugang zu Menschen. […] Wenn sie in ihr Leben hineinkommen, zerstören sie es.«4 In der katholischen Gemeinde führte Priester Gabriel5 diesen Antagonismus auf Christus zurück. Er verankerte die Gegenüberstellung der Àjé und Gott als dämonische Kräfte in Jesu Gebot, Dämonen auszutreiben, in Mk 16,176. Er ließ außerdem die Bibelstellen Eph 6,127 und Mt 12,30 bzw. Lk 11,238 anklingen. Die einzig mögliche Reaktion sah Gabriel daher in einem »Kampf«. Nicht in allen Kirchen wurde diese Schlussfolgerung, dass ein »Kampf« nötig sei, geteilt. In fast allen Kirchen gab es jedoch Maßnahmen dazu, Menschen von bösen Geistern zu befreien. In vielen Fällen wurde dies unter dem Namen der »Befreiung« (deliverance) verhandelt.
Unter muslimischen Menschen war hingegen eine breiteres Spektrum an Positionen zu Àjé ersichtlich. Dies liegt insbesondere daran, dass sich muslimische Heilpraktiken in Nigeria großer Popularität erfreuen. Zwar bekräftigten die meisten muslimischen Stimmen anders als die christlichen Befragten ausdrücklich, dass die Àjé gottgeschaffen seien. Dabei wurden diese insbesondere von denjenigen, die Heilpraktiken ausübten oder nutzten, als zumindest potenziell gute Geister vorgestellt. Jedoch gab es auch solche, die in ihnen Jinne sahen, die zwar von Gott erschaffen, aber gegen göttliches Gebot verstießen. Bei Letzteren handelte es sich um eine reformmuslimische Position, die den christlichen Vorstellungen sehr ähnlich war, weil sie sich wie diese auch von traditionellen Heilpraktiken abgrenzte. Wie ich im dritten Teil zeigen werde, stehen diese Abgrenzungen im Zusammenhang einer globalen Dämonologie-Debatte und ihrer Abgrenzungen von der globalen Esoterik.
Zwar legten viele Kirchenleitungen im Stadtteil Wert auf Maßnahmen zur „Befreiung“ von dämonischen Kräften wie den Àjé. Allerdings verstanden sie unterschiedliche Praktiken darunter und versuchten sich auch aktiv voneinander abzugrenzen. So meinte der anglikanische Pastor Akande, dass es sich bei der Austreibung von Dämonen um einen Fortschritt gegenüber früherer lokaler Praxis handele, die er mit dem Alten Testament in Verbindung setzte. Dank Christus gebe es neue Optionen für Menschen, die früher nur ausgestoßen worden seien. Akande erzählte auch, früher Zeuge von Steinigungen und Mobjustiz gegen Menschen gewesen zu sein, die als Hexen bezeichnet worden seien. Solche Praxis, meinte er, gehöre jedoch dank der Möglichkeit der Austreibung der Vergangenheit an. Demgegenüber verwiesen andere in ihrem Befreiungsdienst regelmäßig auf alttestamentliche Stellen. In seiner wöchentlichen Austreibungsveranstaltung Deliverance Hour regte Pastor Victor seine kleine pfingstliche Gemeinde zum Gebetskampf an, in dem die Teilnehmenden sich selbst von dämonischen Kräften freibeteten. Àjé benannte er in diesem Rahmen häufig und verwies dabei auf die Stellen Ex 22,179 und Jes 47,910, wobei er mit den biblischen Referenzen das Primat göttlicher Handlung betonte. Die Gemeindemitglieder konnten sich dadurch in ihrem Gebetskampf zum einen selbst als Kämpfende erleben, in dem sie diese Stellen wiederholten. Sie befahlen damit jedoch gleichermaßen Gott die bösen Mächten an, indem sie sich auf göttliche Handlung beriefen.
Besonders scharfer Disput herrschte jedoch unter den Kirchen über die Mittel, die bei einer Austreibung verwendet werden könnten. Viele verwendeten gesegnetes Wasser oder Öl. Die weiße Seife, die den sogenannten Afrikanischen Unabhängigen Kirchen Verwendung fand, war jedoch stark umstritten. Diese Kirchen wurden im Stadtteil wie auch in ganz Nigeria als Weiße Gewänder-Kirchen bezeichnet, da ihre Mitglieder weiße Gewänder tragen, auf die sie eine übernatürliche Schutzwirkung zurückführen. Seife fand auch bei den traditionellen Heilpraktiken Anwendung. In anderen Kirchen wurde daher eine gewisse Nähe zwischen traditionellen Heilpraktiken und Weiße Gewänder-Kirchen unterstellt. Oluwafemi, die Leiterin einer sogenannten Weiße-Gewänder-Kirche, wusste um den Verdacht, dass ihre Kirche eine »Heilpraktiken-Kirche«11 sei. Sie betonte jedoch die Unterschiede zwischen der ›schwarzen‹, lokal hergestellten Seife, die häufig als traditionelles Heilmittel verordnet wurde, und weißer, industriell gefertigter Seife, die sie für ihre Heil- und Schutzpraktiken kaufen ließ.
Die Ablehnung der Weiße Gewänder-Kirchen nahm sogar teilweise die Formen an, dass ihren Austreibungspraktiken unterstellt wurde, dämonische Kräfte wie Àjé entweder zu begünstigen oder gar Menschen besessen zu machen. Darauf verwies beispielsweise der anglikanische Pastor Akande am Beispiel eines Gemeindemitglieds, das angesichts seines Aufrufs zur Eucharistie die eigene Unreinheit realisiert habe.12 Er habe dann Besessenheit durch Hexerei bei der Betroffenen diagnostiziert. Sie sei besessen, da sie traditionelle Schreinpflege (»Götzenverehrung«), muslimische Heilpraktiken und Weiße Gewänder-Kirchen genutzt habe. Diese vereine, dass Menschen dort von Dämonen besessen würden. Er benannte das mit ›Magie‹. Diese Position vertrat auch der reformmuslimisch orientierte Imam Abdullah, der damit insbesondere muslimische Heilpraktiken zu delegitimieren suchte. Diese seien kaum von traditionellen Praktiken zu unterscheiden und ihr Heilen allein auf das Wirken von Jinnen, auf »as-sihr« (Magie), zurückzuführen.13 An all diesen Orten, so stimmten Akande und Abdullah überein, würden Menschen nicht von Besessenheit befreit, wie ihnen versprochen würde; sie würden sie dort erst bekommen oder bereits vorhandene Besessenheit würde dort verschlimmert werden. Hier zeigt sich, wie nahe sich christliche und reformmuslimische Stimmen in ihren Vorstellungen zu Besessenheit waren: beide verorteten Dämonologie gerade als Abgrenzung anderer christlicher und muslimischer Praktiken.
Aus den so beschuldigten Weiße Gewänder-Kirchen, muslimischen und traditionellen Heilpraktiken wurde dagegengehalten, dass ihre Heilpraktiken allen anderen Versuchen, Àjé zu bekämpfen, überlegen seien. Ein Pastor schilderte so zum Beispiel, dass sogar eine Pastorenehefrau aus einer international bekannten Pfingstkirche zu ihm gekommen sei, um sich von den Effekten der Àjé-Dämonen heilen zu lassen. Als Weiße Gewänder-Kirche war seine Kirche häufig Verdächtigungen aus pfingstlichen Gemeinden ausgesetzt. Auch muslimische und traditionelle Heilpraktizierende betonten die Überlegenheit ihrer Heilmethoden gegenüber den Anschuldigungen aus christlichen und reformmuslimischen Kreisen. So schob der Heiler Yunus den Verdacht geschickt zurück, indem er betonte, dass häufig Pastoren zu ihm kämen, um die Mitgliederzahlen erhöhen zu lassen. Eine traditionelle Heilerin hielt zudem mit einer Einsicht dagegen, die auch viele christliche Menschen betonten: die Allgegenwart der Àjé, auch in Kirchen. »In diesem Leben kannst du nicht sehen, was im Innern vor sich geht – ob es Gott gibt, ob es… Sogar in der Kirche gibt es eine Menge Hexen! Sogar in der Moschee! Aber du kannst es nicht von außen sehen.«14 Durch einen Kampf mit den Hexen würden diese nur weiter verärgert und daher sei es ratsam, sich bittend an sie zu wenden. Die Heilerin merkte zudem an, dass die Àjé »niemals über sie verärgert« seien. Somit argumentierte sie, dass ihre Bitte an die Àjé immer von Erfolg gekrönt sei.
Heilpraktiken und Befreiungsdienste konkurrierten um dasselbe Klientel. Das wurde u.a. daran ersichtlich, dass sie sich sehr scharf voneinander abgrenzten bzw. ihre Überlegenheit markierten. Manche Kirchen und Moscheen gaben sogar regelrechte Verbote aus. So berichtete mir ein Mitglied aus Victors Gemeinde, dass der Pastor scharf ermahnt habe, sie könne nicht gleichzeitig seine Kirche besuchen und traditionelle Heilpraktiken nutzen.15 Ähnlich predigte auch Imam Abdullah seiner Gemeinde, dass nur ein Schritt, den sie in Richtung von Heilpraktizierenden unternahmen, ihre Gebete für 40 Tage unwirksam und sie in dieser Zeit für Gottes Gericht schutzlos mache, falls sie der Tod ereile.16 Hier wie auch oben wird also deutlich, wie nahe sich christliche und reformmuslimische Positionen in ihrer Verdammung traditioneller Heilpraktiken waren. Dies steht in engem Zusammenhang mit der globalen Heilungs- und Befreiungsdebatte, die ab den 1970ern gegen die globale Esoterik sowohl auf christliche als auch auf muslimischer Seite geführt wurde. Dabei reagierten die traditionellen Heilpraktiken genau auf diese Konstellation. Zudem wirkte sich die globale Gesundheits- und Entwicklungspolitik auf die Position der traditionellen Heilpraktiken in Nigeria als anerkannte ›einheimische Lösung‹ aus. Dies wiederum bewirkte eine Opposition zwischen christlichen und islamischen Heilungs- und Befreiungsdiensten und traditionellen Heilpraktiken.
Im Folgenden werde ich auf die globalen Verflechtungen eingehen, die lokale Hexerei-Theologien durchziehen. Ich werde dabei die gegenwärtigen Abgrenzungen gegen traditionelle Heilpraktiken, die die lokalen Dämonologien auszeichnen, schrittweise auf vergangene globale Konflikte zurückführen.17
Global stellte die Esoterik für Dämonologien einen wichtigen Ankerpunkt dar, die aus der Mitte der Kirchen und Moscheen weltweit ausgetrieben werden musste. An der Esoterik musste auch die eigene Überlegenheit deutlich gemacht werden, da esoterische Praktiken ebenfalls damit charakterisiert wurden, nicht-materialistisch begründete Probleme lösen zu können.18
Die Rede von Hexen und Dämonen geht in Nigeria nicht allein auf Kirchen und Moscheen zurück. Auch Menschen in regierungspolitischen Ämtern sprechen von Dämonen und Hexerei und werden so in der nationalen Presse zitiert (vgl. Godwin 2017; Aziken 2018). Der Umstand, dass Dämonologie in der nigerianischen Öffentlichkeit so im Fokus steht, lässt sich auf die 1980er zurückführen. Nigeria war zu dieser Zeit geplagt von einer schweren wirtschaftlichen Rezession und darauffolgenden vom Internationalen Währungsfonds (IWF) verordneten staatlichen Sparmaßnahmen. Militärdiktaturen überwarfen sich nach einer kurzen demokratischen Phase ab den frühen 1980ern immer wieder gegenseitig.
In Nigeria verbreiteten sich parallel christliche Berichte (testimonies) in Form von Pamphleten oder Kassetten. Eines der bis heute bekanntesten ist Delivered from the Powers of Darkness (vgl. Eni 1987). Die Berichte versuchten dabei mit vermeintlichen Lebensgeschichten aus einer in der ersten Person erzählten Perspektive zu überzeugen. Theologische Argumentationen, die diese Zeugnisse jedoch durchziehen, wurden dadurch verschleiert. So wird bei Delivered z.B. deutlich, dass die Erzählung darauf abzielt, die Bekehrung als eine Wahl der Erwählten (»Kinder Gottes«) zwischen zwei kosmischen Kräften, Gott oder Teufel, darzustellen. Diese theologische Ausrichtung an der Entscheidung der Gläubigen schließt dabei an Überlegungen der sogenannten Heiligungsbewegung19 an. Nicht nur die Bekehrung spiele eine Rolle im Leben der Gläubigen, sondern auch die Art von Leben, die sie danach führten. Ersichtlich wird das an Delivered, wo Emmanuel Eni als christlicher junger Mann aus seinem Dorf nach Lagos kommt und dort in die Schlinge »okkulter« Machenschaften gerät. In seiner Erzählung wird er von der schönen Alice verführt, die ihn schließlich zur Initiation bewegt. Kannibalismus, Blutopfer, Tierverwandlungen, Reisen als Geister – schließlich wird er in einer »okkulten Vereinigung in Indien« eingeweiht und lernt im Anschluss die teuflische Hierarchie von innen kennen. Erst göttliche Intervention und Entsagung gegen Versuchungen bringen bei Eni die Rettung.
Die in diesen Berichten sichtbare Verbindung von Dämonologie und der Rede von ›Okkultem‹ lässt sich auf eine globale Debatte zurückführen, an der nicht nur pfingstliche, sondern u.a. auch anglikanische und reformmuslimische Stimmen beteiligt waren und sind (vgl. Prince 1971; Prince 1998; Prince 2006; Richards 1988; al Baz 1995; Philips 2007). Im Hinblick auf pfingstliche Theologie wird gerne auf den Deliverance-Theologen Derek Prince verwiesen, einen in den USA angesiedelten Teleevangelisten. Prince vertrat ab den 1970ern eine innerhalb der pfingstlich-charismatischen Bewegung kontroverse Position, nämlich, dass auch Wiedergeborene von Dämonen besessen werden könnten (vgl. Haustein 2011, 536). Er betonte gegenüber solchen Positionen, die mit der Bekehrung keine dämonischen Gefahren mehr sahen, die Notwendigkeit einer beständigen Heiligungs- und Abgrenzungspraxis gegenüber den »teuflischen Mächten«, die im kosmischen Kampf mit den göttlichen stünden. Zu den Dingen, von denen Abstand genommen werden müsste, zählte Prince Hexerei, Zauberei, Divination, Medien, Meditation, Yoga, Reinkarnation, Astrologie, Horoskope und automatisches Schreiben. Zusammenfassend schrieb Prince, dass es sich dabei um teuflische Einflüsse handele. An der Auflistung wird jedoch ersichtlich, dass es Abgrenzungen waren, die v.a. aufgrund der Popularität der esoterischen Praktiken des New Age notwendig geworden waren. Ähnliches ist auch in anderen Werken aus dieser Zeit zu beobachten (vgl. Richards 1988, 19–37).
Auf muslimischer Seite entbrannte die Debatte um die Existenz von Jinnen ebenfalls erneut in den 1980ern (vgl. Philips 1989). In der Debatte wurde stark auf den mittelalterlichen hanbalitischen Gelehrten Ibn Taymiyah verwiesen, der insbesondere für die Kanonisierung des Reformislam vis-à-vis des Sufismus ab dem späten 19. Jahrhundert eine wichtige Rolle spielte (vgl. Thurston 2016, 54f). 1987 bestritt der Gelehrte Ali at-Tantawi im saudischen Fernsehen öffentlich, dass es Besessenheit und Dämonen gebe (vgl. Philips 1989, 110). Er bezog sich dabei auf den Fall einer Frau in Riyadh, von der saudische Zeitungen 1987 berichtet hatten. Sie sei von einem »buddhistischen Jinn« besessen gewesen. Der Verweis auf »Buddhismus« lässt sich wiederum auf die Auseinandersetzung mit der globalen Esoterik zurückführen. Gegen At-Tantawi argumentierte der spätere saudische Großmufti Abdul al-Aziz al-Baz für die Realität von Jinnen und verwies dabei auf Ibn Taymiyah. Al-Baz schrieb außerdem Mitte der 1990er ein Urteil zu »Magie und Divination« (Risalasah fi hukm as-sihr wa al-kahana; vgl. al Baz 1995), das als Pamphlet weltweit, auch im Internet, in verschiedenen Übersetzungen Verbreitung findet. Der reformmuslimische Imam Abdullah im Ibadaner Stadtteil verwendete dieses Pamphlet als theologisches Vorbild seiner Austreibungspraxis. Er hatte es über Kontakte zu ehemaligen nigerianischen Studierenden der Islamic University of Medina bekommen.
In der nigerianischen Zeugnisliteratur der 1980er wurden neben „okkulten Organisationen“, auch andere Kirchen, insbesondere die Weiße Gewänder-Kirchen für das Umsichgreifen von Besessenheit verantwortlich gemacht. So war auf der Kassette einer gewissen Grace Ihere zu hören: »Jetzt will ich über die Weißen Gewänder-Kirchen sprechen. Gott ist nicht zu finden an diesen Orten. Der Teufel hat zwei Erscheinungsformen: eine, wo er wie die Engel des Lichts erscheint, eine, wo er in weiß erscheint« (Marshall 2009, 260). Diese harsche Abgrenzung ist auch darauf zurückzuführen, dass die wachsenden Pfingstkirchen insbesondere mit den Weiße Gewänder-Kirchen um Mitglieder konkurrieren (vgl. Ojo 2007, 23).
Die dämonologische Stoßrichtung war somit ab den 1980ern zunehmend die, dass keine Person mehr vor teuflischen Mächten sicher sein konnte. Es sei denn, es wurden strikte Abgrenzungen zu ›dem Okkulten‹ geübt, die sich angesichts der Ablehnung der Weiße Gewänder-Kirchen mitten durch das Christentum und angesichts der Verdammung muslimischer Heilpraktiken mitten durch den Islam zogen.
Die Krise der 1980er ist jedoch auch der Ausgangspunkt der Heilpraktizierenden in Ibadan heute. Die meisten Heilpraktizierenden, mit denen ich sprach, führten ihre eigene Praxis auf diese Zeit zurück. Einige hatten diesen Beruf in den 1980ern aus Interesse und aus eigener finanzieller und gesundheitlicher Not ergriffen. Dabei hatten sie zuvor auch in den neu gegründeten Kirchen Hilfe gesucht. Es ist daran ersichtlich, wie die Krise der 1980er religiöse Grenzen verschwimmen ließ. Wichtig war vor allen anderen Überlegungen, dass ein Weg zurück zu Gesundheit und Wohlergehen gefunden werden könnte.
Der Vorwurf, Magie zu betreiben und Besessenheit zu befördern oder gar zu erzeugen, ruft insofern im nigerianischen Kontext Reaktionen bei Heilpraktizierenden hervor, als dass Heilvereine gegründet werden und ihre Mitgliedschaft zum guten Ton gehört. Standen jedoch Mitglieder unter Magie-Verdacht, entledigten sich diese Vereine der Verdächtigten. So berichtete mir der Heiler Yunus den Fall eines älteren traditionellen Heilers mit Ifá-Orakel, der böse Taten begangen habe und daher aus dem Heilverein ausgeschlossen worden sei. Um nicht der Magie verdächtigt zu werden, müssten Heilpraktizierende laut Yunus ›modern‹ wirken. Er selbst trage darum auch nicht traditionelle Kleidung, sondern solche, die allenthalben auf seine muslimische Identität (kürzere Hosen z. B.) hinwies. Auch Orakeltätigkeiten wurden häufig von Heilpraktizierenden heruntergespielt. Meist betonten sie, dass sie mit Kräutern heilten. Alle Heilpraktizierenden, mit denen ich sprach, verwendeten jedoch auch eine Form von Orakel, das die meisten als ›Diagnoseform‹ zu legitimieren versuchten.
Die Betonung des Kräuterheilens und der öffentlichen Verdrängung von Orakeltätigkeiten lässt sich dabei auf die bereits oben erwähnten globalen Debatte gegen Esoterik zurückführen. Allerdings spielt hier auch die globale Debatte um Gesundheitspolitik, Entwicklung und Medizin eine bedeutsame Rolle, die in der späten Kolonialzeit ihren Anfang nimmt. Heilvereine, wie sie heute von Heilpraktizierenden als Legitimation ihres Berufsstandes herangezogen werden, entstanden in den 1920ern in Nigeria. Es handelte sich um die Zeit, als die britische Kolonialregierung begann, eigene Krankenhäuser für die einheimische Bevölkerung zu öffnen bzw. einzurichten (vgl. Washington-Weik 2009, 47). Einheimische versuchten dort offizielle Stellen wie ›Apotheker‹ oder ›Arzt‹ zu bekommen, wurden jedoch in den Kolonialkrankenhäusern abgewiesen. Daraufhin gründeten sich Heilvereine, die erst nach und nach von der Kolonialregierung als wirtschaftliche, nicht als medizinische Vereine anerkannt wurden (vgl. ebd., 49.210). Ab den 1960ern gerieten Heilpraktizierende wiederum in den Fokus von Gesundheits- und Entwicklungspolitik, weil die Krankenhäuser in Nigeria nicht genug Zuspruch aus der Bevölkerung erhielten (MaClean 1984; MaClean 1969; MaClean 1971; Leighton et al. 1963). So versuchte beispielsweise die schottische Ärztin Catherine MaClean in eine Kooperation mit nigerianischen Heilpraktizierenden zu treten, wo sie als »religiöse« und »psychotherapeutische Beratung« Seite an Seite mit »Schulmedizin« existieren könnten (vgl. MaClean 1969, 182). So werden heute Menschen in Ibadan aus Krankenhäusern an traditionelle Heilpraktiken verwiesen, wenn das Problem »nicht-physischer Natur«20 sei. Es handelt sich dabei um ein Nebeneinander, das jedoch wiederum die christlichen und reformmuslimischen Heilungs- und Befreiungsdienste als ›nicht ursprünglich einheimische‹21 ausschließt. Heilung spielte jedoch parallel zur Entstehung der traditionellen Heilpraktiken auch in Christentum und Islam in Nigeria eine immer wichtigere Rolle (vgl. Reichmuth 1998, 239; Quaas 2011, 57; Peel 1968, 116). Auch das von Asymmetrie geprägte Verhältnis von Gesundheitspolitik und traditionellen Heilpraktiken basiert demnach auf einer Abgrenzung.
Dämonologie in Form von Hexerei-Theologien ist im Christentum in Nigeria sehr verbreitet. Bei genauerem Hinsehen zerfällt diese Gemeinsamkeit, dass Hexerei als dämonisch eingeordnet wird, jedoch in bedeutungsschwere ›Detail‹-Debatten um die Interpretation und Gewichtung einzelner Bibelstellen, die Formen und Instrumente des Befreiungsdienstes und vieles mehr. Dabei erweisen sich Abgrenzungen gegenüber den gleichfalls prominenten Heilpraktiken als so relevant, dass sie sogar innerhalb des Christentums angewendet werden und so beispielsweise die Weiße Gewänder-Kirchen manchen Gläubigen als ›gefährliche Orte‹ gelten. Die Abgrenzung zu den traditionellen Heilpraktiken verläuft somit nicht am Rande des Christentums, sondern mitten durch es hindurch. Bei dieser Abgrenzung gibt es relevante Überschneidungen mit den reformmuslimischen Moscheen vor Ort, insofern diese sich dabei auch in erster Linie gegen muslimische Heilpraktiken verwahren, die sich selbst zum Islam zählen. Die Bedeutung der Abgrenzungen wird umso größer, wenn wir genealogisch untersuchen, woher die heutige Relevanz der Dämonologie in Form von Hexerei-Theologien in Nigeria kommt. Dabei ist ersichtlich, dass Dämonologien in Nigeria aus dem globalen Christentum und globalen Islam angeregt sind, in die sie wiederum zurückspielen, um sich global als ›christlich‹ oder als ›muslimisch‹ zu verorten. Im globalen Christentum und globalen Islam dominieren seit den 1980ern Abgrenzungen gegenüber dem New Age, dessen Praktiken als ›okkult‹ betitelt werden.
Mit traditionellen Heilpraktiken wurden auch muslimische Heilpraktiken aus dem Islam und der Befreiungsdienst in Weiße Gewänder-Kirchen aus dem Christentum in Nigeria ausgegrenzt. Dabei reagierten diese wiederum mit Ansprüchen auf die Überlegenheit ihrer Heilpraktiken auf die Ausgrenzungen. Deutlich war auch, dass Menschen kirchen- und moscheenübergreifend traditionelle und muslimische Heilpraktiken aufsuchten und dass Weiße Gewänder-Kirchen mit den großen Pfingstkirchen um Mitglieder konkurrierten. Traditionelle Heilpraktiken hingen dabei genauso in globalen Verflechtungen wie diejenigen, die sich von ihnen abgrenzten. Die meisten Heilpraktizierenden führten ihre Tätigkeit auf die 1980er zurück, wo auch die globale Dämonologie-Debatte auf Nigeria übergriff. Auf Verdächtigungen, Besessenheit durch ›Magie‹ zu erzeugen, reagierten die Heilpraktizierenden damit, dass sie auf die Mitgliedschaft in öffentlich anerkannten Heilvereinen als Legitimation ihrer Profession verwiesen und die Nutzung von Orakeln hinter der Betonung von Kräuterheilen verschwinden ließen. Mit diesen Reaktionen bildeten sie ebenfalls einen Teil der globalen Debatte um Esoterik. Zudem sind traditionelle Heilpraktiken in globale Gesundheits- und Entwicklungspolitik verstrickt. Heilvereinen blieb zunächst die Anerkennung als ›Medizin‹ durch die britische Kolonialverwaltung verwehrt. Ab den 1960ern wurden sie dann im Gegenüber zu christlichen und muslimischen Heilungs- und Befreiungspraktiken als ›einheimischer‹ Teil des Gesundheitsapparates gewertet. Ziel war es dabei, im Sinne globaler Entwicklungspolitik über die traditionellen Heilpraktiken mehr Menschen für die Gesundheitsversorgung in Krankenhäusern zu erwärmen.
Nun mag der Gedanke naheliegen, dass es ohne die ganzen Abgrenzungen viel besser ist und dass Aufklärung, wie sie in der deutschsprachigen Theologie bekräftigt wird, gegenüber der Dämonologie erstrebenswert sei. Dies ist jedoch auch keine Position außerhalb der globalen Dämonologie-Debatte, sondern ist mitten in ihr zu verorten. Es mangelt jedoch noch an dem Bewusstsein dafür, dass genau dieser Entzug aus den Abgrenzungen der Dämonologie-Debatte nicht möglich ist. Innerhalb der Interkulturellen Theologie besteht zwar das Bewusstsein für die globale Dimension von Dämonologie. Es fehlt jedoch noch an Aufmerksamkeit für die konkreten globalen Verflechtungen, die lokale Dämonologien durchziehen, auch und insbesondere solche, die den deutschsprachigen Raum nicht als vermeintliches Sonderfeld behandeln, in dem allein ›wahre Aufklärung‹ gesiegt habe. Aus dem Fehlen dieser Aufmerksamkeit für globale Verflechtungen ergibt sich m.E. in der deutschsprachigen Öffentlichkeit und Theologie mitunter leichter als andernorts eine Überheblichkeit, (christlichen) Menschen des Globalen Südens den ›richtigen‹ Umgang mit Dämonen beibringen zu können. Anna Quaas zeigt, welche Probleme mit dieser Überheblichkeit für das Christentum in Deutschland einhergehen. Über Pastor_innen nigerianischer Pfingstkirchen in Deutschland schreibt sie, dass diese »sich meiner Ansicht nach zu Recht [fragen], wie dem Auftrag Jesu, in seinem Namen böse Geister auszutreiben (Mk 16,17), in den deutschen Großkirchen nachgekommen werde« (Quaas 2015, 55). Die Abgrenzung als ›aufgeklärt‹ ist also um den Preis erkauft, die Pluralität des Christentums in Deutschland und weltweit ignorieren zu müssen. Die deutschsprachige Theologie droht aber mit diesem Verhalten global ins Abseits zu driften – wenn sie sich nicht schon dort befindet. Es bedarf daher in Zukunft einer realistischen und ehrlichen Selbstaufklärung über die historischen Hintergründe und gegenwärtigen politischen Interessen, die mit dieser Abgrenzung einhergehen, wenn die deutschsprachige Theologie weiterhin ihrem Anspruch gerecht werden will, über das gegenwärtig verfasste, also das globale Christentum zu sprechen.
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