Gottesdienstliche Praxis in Krisen-Zeiten digitaler Kommunikation. Beobachtungen und Reflexionen im Zusammenhang der CONTOC-Studie 2020.
Einführung
Ist während der Corona-Pandemie durch die neu inszenierten digitalen Gottesdienstformen aus Sicht von Pfarrerinnen und Pfarrern ein Wandel in der Bedeutung gottesdienstlichen, liturgischen und verkündigenden Handelns eingetreten? Welche Folgerungen zieht das pastorale Personal aus den eigenen Erfahrungen dieser Zeit – und dies auch im Blick auf das professionelle liturgische Rollen- und Selbstverständnis? Ist damit zu rechnen, dass aufgrund dieser Erfahrungen und Einschätzungen die gottesdienstliche Praxis nicht nur mittel- und langfristig deutlich auf eine Ausweitung digitaler Formate hin transformiert werden wird, sondern der Gottesdienst selbst wieder in das Zentrum pastoralen und gemeindlichen Bewusstseins rückt? Und was gilt es dann für einen solchen sozusagen doppelten Transformationsprozess aus praktisch-theologischer Perspektive zu bedenken?
Diese Fragen sollen im folgenden Beitrag – dem ein Impuls im FEST-Workshop „Digital – parochial – global” am 16.10.2020 zugrunde liegt, anhand erster, zentraler Ergebnisse der sogenannten CONTOC-Studie („Churches Online in Times of Corona“ – www.contoc.org) näher beleuchtet und ekklesiologisch bedacht werden. Bei dieser Studie handelt es sich um eine internationale und ökumenische Erhebung insbesondere digitaler kirchlicher Angebote unter den Bedingungen der pandemiebedingten Kontakt- und Versammlungsbeschränkungen, bezogen auf die erste Welle im Frühjahr und Frühsommer 2020. Die CONTOC-Studie wurde von den Lehrstühlen für Praktische Theologie an den Universitäten Zürich, Würzburg und St. Georgen, das Schweizerische Pastoraltheologische Institut St. Gallen (SPI) sowie das Sozialwissenschaftliche Institut der EKD (SI) initiiert und gemeinsam mit akademischen und kirchlichen Kolleg*innen in insgesamt 22 Ländern durchgeführt.
An der überwiegend quantitativ ausgerichteten Umfrage (mit rund 50 quantitativen und weiteren fünf offenen Fragen, die eine qualitative Studie ermöglichen) nahmen im Befragungszeitraum von Ende Mai bis Mitte Juli 2020 insgesamt knapp 6500 Pfarrerinnen und Pfarrer teil, davon rund 5000 aus dem Bereich der evangelischen und katholischen Kirchen in Deutschland, der Schweiz und Österreich. Die Rückläufe aus diesen drei Ländern und die damit verbundene statistische Aufarbeitung erlaubt es zumindest für die deutschsprachigen Kontexte (ohne die ebenfalls beteiligte französischsprachige Schweiz) von einer repräsentativen Studie zu sprechen.
Im Rückblick auf die Zeit von Ostern bis Pfingsten 2020 gaben die Teilnehmenden Auskunft über ihre Erfahrungen und Einsichten zu den Handlungsfeldern Gottesdienst, Seelsorge, Bildung, Diakonie und kirchliche Kommunikation. Zudem konnten sie Einschätzungen in Hinsicht auf die eigene pastorale Rolle sowie die möglichen längerfristigen Folgewirkungen digitaler kirchlicher Praxis vornehmen.
Eines der Hauptziele der CONTOC-Studie besteht darin, auf der Grundlage der erhobenen Ergebnisse danach zu fragen, ob und wenn ja, in welchem Sinn diese auch längerfristig sowohl die digitale Ausgestaltung kirchlicher Praxis wie auch das pastorale Selbstverständnis beeinflussen. Damit verbindet sich die weitergehende Frage, welche möglichen Auswirkungen sich daraus für die kirchlichen Angebotsstrukturen sowohl im Bereich gemeindlicher Arbeit wie auch im Bereich kirchlicher Aus- und Weiterbildung ergeben.
Im Folgenden werden erste Einsichten der Studie zur Thematik gottesdienstlichen Handelns präsentiert und zugleich mit praktisch-theologischen Reflexionen verbunden – und dies unter Berücksichtigung zentraler, von der FEST für den damit verbundenen Workshop vorgelegten Thesen. Schon bei der Konzipierung der Studie war uns als Verantwortlichen bewusst, dass die Schwerpunktsetzung und Konzentration auf die Pfarrpersonen nur einen Teil der Akteur*innen der faktisch realisierten digitalen Praxis im genannten Zeitraum abzubilden vermag. Gleichwohl liefern die – im Folgenden auf den Bereich des evangelischen Pfarrpersonen in Deutschland und der Schweiz fokussierten – zunächst in erster Auswertung erhobenen quantitativen Ergebnisse wichtige Einblicke in diese Praxis. Ausführliche Ergebnisse und Interpretationen der CONTOC-Studie werden im Lauf des Jahres 2021 in unterschiedlichen Tagungsformaten diskutiert sowie publiziert werden.
Zum Verständnis von Gottesdienst und gottesdienstlicher Kommunikation
Bevor sogleich erste Ergebnisse der CONTOC-Studie aufgezeigt werden, ist im Sinn eines für die spätere Interpretation wichtigen Framings mit einigen ekklesiologischen Grundbemerkungen einzusetzen. Für das evangelische Gottesdienstverständnis gilt: Die Gemeinde konstituiert sich im Gottesdienst durch Wort-, Tauf- und Abendmahlsgeschehen und manifestiert dies in resonanten Formen des Singens, Betens, Redens und Helfens. Sie stellt sich damit unter den Segen Gottes, in dem die Zuwendung Gottes zur Welt vergegenwärtigt wird und sich ereignet. Die Gemeinde vergewissert sich so ihres christlichen Glaubens und ihrer Identität sowie der Zusage und Verheißung göttlicher Gemeinschaft. Im Gottesdienst ist die Gemeinde in ein Zeitkontinuum vergangener, gegenwärtiger und zukünftiger Perspektiven der Auslegung und Inszenierung des Evangeliums eingebunden.
Erlebt werden kann dabei eine architektonisch gestaltete, historisch gewachsene und aktuell zum Klingen gebrachte sich räumlich ausbreitende geistliche Atmosphäre, und damit durch die vielfältigen Kommunikationsformen des Evangeliums im Gottesdienst ein Sich-Ereignen horizontaler und vertikaler Resonanzen, die in der Tradition als manifeste Wahrnehmungsmöglichkeit der Gegenwart des göttlichen Geistes bezeichnet worden sind (Paul Tillich). Im besten Fall führt das Erleben individueller Teilhabe zu veränderten Wahrnehmungen, einer neuen Aufmerksamkeit für das Leben und zu einer Anerkennungspraxis in Beziehung auf sich selbst, zum anderen, zur Welt und zu Gott. Der evangelische Gottesdienst kann so als „Zentrum des Lebens der ganzen Gemeinde“ (K. Barth) zum umfassend wirkenden leibkörperlichen Ereignis werden, in dem eine neue Wirklichkeit aufscheint.
Diesen theologischen Geltungsanspruch hat allerdings mindestens der Sonntagsgottesdienst seit den 1960er Jahren sozusagen in empirischer Hinsicht deutlich eingebüßt: „Der klassische agendarische Gottesdienst erscheint … als Zielgruppengottesdienst, der nur für einen Bruchteil der Kirchenmitglieder attraktiv ist.“ (Liturgische Konferenz, Kirchgangsstudie 2019. Erste Ergebnisse, Hannover 2019, 1). Und so stellt sich angesichts der unverkennbar raschen ‚Umstellung‘ auf digitale Gottesdienste in der Oster- und Pfingstzeit 2020 und auch der damit verbundenen öffentlichen Debatten nicht zuletzt auch um die Schließung von Gottesdiensträumen und Kirchen die Frage, ob der Gottesdienst und die damit verbundenen Zielvorstellungen angesichts der Corona-Krise möglicherweise zurück ins Zentrum der Gemeinde treten und damit möglicherweise jetzt für den ursprünglichen Geltungsanspruch im wahrsten Sinn des Wortes neuer Raum entsteht. Damit verbinden sich die grundsätzlichen Fragen und Herausforderungen, ob und wenn ja, in welchem Sinn digitale Kommunikationsformen dieses Grundverständnis des Gottesdienstes auf spezifische Weise zu reinszenieren vermögen. Es kündigt sich hier, vorsichtig gesprochen, eine unter Pandemiebedingungen erzeugte Verfremdung des Blicks auf den Gottesdienst an, der durch digitale Kommunikationen neu erlebbar geworden ist. Dies schließt keineswegs kritische Resonanzen auf die digitalen Kommunikationsformate aus, z.B. auf das, was möglicherweise im Blick auf den genannten Inszenierungs- und Ereignischarakter eben nicht oder kaum eingelöst werden konnte oder prinzipiell nicht eingelöst werden kann.
Beobachtungen in Krisen-Zeiten – Einblicke in die CONTOC-Studie
Erste Einblicke
Deutlich wird in den Antworten der beteiligten Pfarrpersonen, dass vor dem Versammlungsverbot fast 95% der an der Studie Teilnehmenden keine eigenen digitalen Gottesdienstformate angeboten hatten. Dies bedeutet mit anderen Worten, dass sich viele Pfarrpersonen in Deutschland und der Schweiz für ihr gottesdienstliches Handeln erstmals auf diese technische Option eingelassen haben. Deutlich wird in den Ergebnissen, dass rund 50% derer, die gottesdienstliche Angebote gemacht haben, ein Angebot pro Woche durchgeführt haben. Unter dem verschiedenen Formen wurden „Wortgottesdienst/ Wort-Gottes-Feier/ Predigtgottesdienst“ bei 59% der schweizerischen und 47% der deutschen Pfarrpersonen, „Andacht/ geistlicher Impuls/ alternative Form“ bei 59% der schweizerischen und 65% der deutschen Pfarrpersonen durchgeführt. Dies deutet schon darauf hin, dass für viele der Anbietenden jedenfalls die ‚klassische Form‘ des Sonntagsgottesdienstes nicht die einzige, ja wohl nicht einmal die prioritäre Form war. Digitale Abendmahlsfeiern notieren 14% der schweizerischen, hingegen nur 5% der deutschen Pfarrpersonen.
Im Blick auf die konkreten Erfahrungen mit dieser digitalen Praxis, deren Einschätzungen sowie den möglichen Konsequenzen zeigt sich im Antwortverhalten zum einen eine positive Wahrnehmung, zum anderen wird manchem Aspekt aber auch mit Zurückhaltung und Skepsis begegnet (zitiert wird aus der noch unveröffentlichten Evaluation zum statistischen Material):
So sind rund 70% der Pfarrpersonen in beiden Ländern „mit meinen Online-Gottesdienstformen und ihrer Wirkung“ zufrieden bzw. sehr zufrieden. Jeweils rund zwei Drittel der Befragten in beiden Ländern bejaht die Einschätzung, dass Online-Gottesdienstformen Menschen erreichen, zu denen „wir sonst keinen Kontakt hätten“ und über die Hälfte stimmt der Aussage zu, dass „Online-Gottesdienste mehr Menschen erreichen als lokale Gottesdienste“. 67% der reformierten schweizerischen und 58% der deutschen Pfarrpersonen notiert, dass durch diese Angebote „mobil beeinträchtige Personen besser erreicht“ werden. Erstaunlich erscheint hingegen, dass nur jeweils rund ein starkes Drittel notiert, „aufgrund von Rückmeldungen meine Online-Gottesdienstformen angepasst“ zu haben. In der Schweiz 35% und in Deutschland 45% stimmen der Aussage zu, „zukünftig mehr alternative Gottesdienstformen des gemeinschaftlichen Feierns und Betens anbieten“ zu wollen. Interessant ist übrigens hier auch das Ergebnis, dass bei rund 60% der Befragten „die digitalen Angebote „mit einem Team gemeinsam entwickelt“ wurden.
Eine gewisse skeptische Haltung gegenüber den digitalen Gottesdienstangeboten zeigt sich darin, dass eine Zweidrittelmehrheit bejaht, dass Online-Gottesdienstformen Menschen ausschließen, „denen die digitalen Medien fremd sind“. Über 80% stimmt der Aussage zu, dass sie im Blick auf den Gottesdienst „die Resonanz mit der Gemeinde (z.B. beim Singen) vermisst“ haben. Dass Online-Gottesdienstformen „gemeinschaftliches Feiern ersetzen“ können, wird in beiden Ländern von rund 90% verneint. Zugleich verstehen jeweils über 80% aller befragten Pfarrpersonen Online-Gottesdienstformen nur als ein ergänzendes Angebot.
Im Blick auf die Frage „Wie sich das Verständnis gottesdienstlichen Handelns in Zeiten von Corona verändert hat (und dabei wurde bewusst nach der ganzen Vielfalt von Liturgie- und Gottesdienstformen, Andachten und Impulsen gefragt), sagen fast 50% in beiden Ländern, dass der traditionelle Gottesdienst „für mich an Bedeutung gewonnen hat“, zugleich aber auch jeweils 60% „Ich habe neue Formen von digitaler Präsenz für das gottesdienstliche Handeln entdeckt“. Für eine Förderung „von digitalen kirchlichen Gemeinschaftsformen“ sprechen sich hingegen in der Schweiz 42%, in Deutschland knapp 52% aus.
Ob neue Formen digitaler Präsenz gefunden wurden und auch ein authentisches Ausdrücken der eigenen Rolle im digitalen gottesdienstlichen Handeln erfolgt ist, darüber gehen die Einschätzungen auseinander. Zwar stimmen 75% der Pfarrpersonen in der Schweiz und 70% in Deutschland der Aussage zu: „Meine Rolle hat sich nicht verändert, nur die Form der Präsenz.“ Aber interessant ist, dass in der Schweiz 57% und in Deutschland 50% die Auskunft geben, dass es ihnen gelungen sei, „meine Rolle im digitalen gottesdienstlichen Handeln authentisch auszudrücken.“ Ob und inwiefern man „als Person sehr stark im Mittelpunkt des Online-Gottesdienstes“ steht und damit „die Rolle an Bedeutung gewinnt“, wird noch weniger eindeutig beantwortet: für einen solchen Bedeutungsgewinn der Rolle sprechen sich nur jeweils rund ein Fünftel der Befragten aus.
Hypothesen
Im Anschluss an diese quantitativ gewonnenen Ergebnisse lassen sich einige Hypothesen dazu bilden, ob bzw. in welchem Sinn Pfarrpersonen die Digitalisierungsprozesse innerhalb von Kirche (für die eigene Praxis und für die Gesamtkirche) wahrnehmen. Diese werden in den weiteren Auswertungsschritten noch empirisch genauer zu prüfen sein, sollen aber hier schon einmal ansatzweise formuliert werden:
Hypothese 1: Bei dem (befragten) pastoralen Personal ist es – im Zusammenhang mit den jeweiligen Bedingungen vor Ort, aber auch abhängig von der persönlichen Affinität zu digitalen Medien - zu einer unterschiedlich starken digitalen Erprobungspraxis gekommen, die zugleich deutlich über die klassischen Formate des Sonntagsgottesdienstes hinausging.
Hypothese 2: Eine erhöhte Problemwahrnehmung der gegenwärtigen kirchlichen Kommunikation (z.B. bzgl. der Einschätzung traditioneller Gottesdienste) führte verstärkt zu einer Hinwendung zu digitalen Angeboten.
Hypothese 3: Diejenigen Befragten, die bei der Angebotsentwicklung digitaler Formate auf eine Teamarbeit und die Integration von Freiwilligen gesetzt haben und die zugleich auch besonders positive Erfahrungen geltend machen, setzen auch auf den anderen gemeindlichen Handlungsfeldern stark auf partizipatorische Strukturen.
Hypothese 4: Bei denjenigen unter dem (befragten) pastoralen Personal, die sich auf die digitalen Möglichkeiten eingelassen haben und deren Wirkungen positiv einschätzen, besteht zugleich ein hohes Interesse an zukünftiger theologischer Reflexion und Kriterienbildung und zugleich ein verstärktes Interesse an Aus- und Weiterbildungsangeboten zum Erwerb digitaler Kompetenzen.
Die oben angeführten empirischen Erkenntnisse und Hypothesen sind, wie bereits oben gesagt, in weiteren Schritten der Auswertung der Studie genauer zu prüfen. Sie lassen sich aber schon jetzt mit den FEST-Workshopthesen in Verbindung bringen. Dies soll im folgenden Abschnitt exemplarisch erfolgen.
Verbindungen zum FEST-Workshop-Thesenpapier
These 3 des Workshop-Papiers lautet: „Digitale Gottesdienst und andere Verkündigungsformate sind in der Regel jedem zugänglich und können eine potentielle größere Zielgruppe erreichen. Die notwendigen Transformationen geben nicht nur weiten Gestaltungsraum, sondern können auch Kreativität und Potentiale für Gottesdienste vor Ort freisetzen.“
Tatsächlich gehen viele der in der CONTOC-Studie befragten Pfarrpersonen davon aus, dass die Reichweite ihrer digitalen Gottesdienstangebote größer ist als die der analogen Angebote. Auch in anderen Studien der ersten Corona-Phase wird mit Blick auf die Klickzahlen von einer solchen Reichweitenverstärkung ausgegangen (vgl. Midi-Studie). Ob dies auch zu einem dauerhaften Tatbestand werden wird, kann gegenwärtig nicht eindeutig gesagt werden. Inwiefern durch digitale Formate und – wenn wir es richtig verstehen, durch Reichweitenerhöhung und die Gewinnung neuer Zielgruppen – neue gottesdienstliche Formen entstehen, ist aus den bisherigen empirischen Einsichten der CONTOC-Studie natürlich ebenfalls weder sicher belegbar noch eindeutig vorauszusagen. Jedenfalls ergibt sich aus der Erhöhung von Reichweite und Zugangszahlen nicht notwendigerweise auch eine die digitalen Medien tatsächlich in ihren innovativen Möglichkeiten nutzenden Veränderung des klassischen Angebots, denn in der ersten Krise sind viele digitalen Angebote selbst mehr oder weniger ‘klassisch’ geblieben, indem sie z.B. ein Online-Format eines Offline Gottesdienstformates angeboten haben.
These 6 des Workshop-Papiers lautet: „Digitale Medien begünstigen partizipative Gemeinschaften und netzwerkartige Strukturen. Verkündigung kann und muss nicht linear und frontal, sondern responsiv und partizipativ gedacht werden. Dadurch kann das Priestertum aller Gläubigen auf eine neue Art realisiert werden.“
Diese These lässt sich vor dem Hintergrund der Ergebnisse der CONTOC-Studie einstweilen nicht eindeutig erhärten. Dies mag zum einen daran liegen, dass in die Studie selbst eben nur Pfarrpersonen integriert waren, so dass die möglichen Wahrnehmungen und Partizipationsaktivitäten von anderen Gemeindeverantwortlichen und Engagierten sowie der Gottesdiensteilnehmenden nicht abgefragt wurden. Zugleich erlauben die gewonnenen Daten keinen genauen Schluss darauf, ob durch die Entwicklungsdynamiken in der ersten Corona-Krise ein partizipativer Gemeinschaftscharakter und gar netzwerkartige Strukturen wirklich durchgängig befördert wurde. Denn es konnte bei vielen Gottesdiensten, die online zugänglich wurden, beobachtet werden, dass kommunikative Deutungsmacht nicht (nur) geteilt, sondern auch oftmals auf digitale Weise „top down“ inszeniert wurde. Häufig wurde – zumindest in der Anfangszeit – gerade nicht die Vielfalt gemeindlichen Lebens abgebildet.
Könnte es also sein, dass durch bestimmte pastoral-gottesdienstliche digitale Kommunikationsformen der gemeindliche wechselseitige Austausch über Wirklichkeitsdeutungen sogar beeinträchtigt oder stillgestellt wurde und damit die gottesdienliche Inszenierungs- und Ereignisdimension gerade keinen angemessenen Raum erhalten hat? Dahinter steht natürlich zum einen die viel weiterreichende Frage, ob sich überhaupt über digitale Medien ein solcher gemeinsam, leiblich erfahrbarer Gesamtraum inszenieren und erleben lässt – und zweitens im Blick auf das pastorale Selbstverständnis, welche Rollen-Präsenz in diesen Fällen vom pastoralen Personal beansprucht und eingenommen wird. Es wäre zu überprüfen, welche Teilnehmenden während der Pandemie in Online-Gottesdiensten der eigenen Einschätzung nach Gemeinschaft finden konnte und welche nicht: Die Hypothese, dass dies vor allem Personen sind, die auch an offline- Gottesdiensten schon häufig teilgenommen haben, liegt nahe. Frühere Analysen zu Fernsehgottesdiensten stehen hinter einer solchen Annahme. Neue Gottesdienstformen, die mit ausdrücklich partizipativen, interaktiven Elementen von Kommunikation arbeiten, könnten hier eine andere Selbsteinschätzung hervorrufen. Doch genau diese Zusammenhänge sind allererst genauer zu analysieren.
Im Blick auf beide hier näher betrachteten FEST-Thesen ist jedenfalls festzuhalten, dass diese stärker einen prognostisch-hoffnungsvollen Zug enthalten als dass dies schon den bisherigen empirischen Erkenntnissen eindeutig belegt oder festgemacht werden könnte. Insofern zeigt sich hier natürlich ein auch durchaus berechtigtes Wunschdenken, dass aber durch die bisherige digitale Praxis jedenfalls noch nicht wirklich eingeholt ist. Insofern können die durch CONTOC bisher gewonnenen Einsichten digitaler Gottesdienstpraxis und des pastoralen Rollenverständnisses nicht schon gleich als eindeutiger Beleg für eine bereits unmittelbar bevorstehende ganz und gar neue gottesdienstliche Praxis samt einer Neuauslegung pastoraler Präsenz verstanden werden. Ein anderer Gewinn der Studie ist vielmehr nicht zu unterschätzen: Die Akzeptanz und die Distanz, mit der über digitale Verkündigung kirchlich diskutiert wird, sind in noch nicht erfasster Ausdifferenzierung sichtbar geworden.
Vorläufiges Fazit
Ob es im Blick auf den Gottesdienst und seine pastoralen Akteur*innen zu einem umfassenden Digitalisierungsschub verkündigenden und liturgischen Handelns und gar zu einer Art pastoraler „digital literacy“ gekommen ist oder zukünftig kommen wird, muss angesichts der bisherigen Ergebnisse unserer CONTOC-Studie einstweilen offenbleiben.
Ohne Frage sind diese Ergebnisse höchst anregend, um sich einerseits das zweifellos breit vorhandene Innovationspotenzial im Blick auf den Gottesdienst vor Augen zu führen. Unter den befragten Personen zeigt sich eine überwiegend positive Haltung zu den in Corona-Zeiten erprobten Online-Kommunikationsformen und damit ein hohes kreatives und innovatives Potenzial, was eine gute Voraussetzung für die weitere Digitalisierung kirchlicher Praxis darstellt. Andererseits sind die kreative theologische Reflexion und pastorale „digital literacy“ im Blick auf das gottesdienstliche Handeln und das professionelle Selbstbild zukünftig viel stärker zu fördern.
Denn letztlich stellen sich bei allen digitalen Angebotsformaten entscheidende ekklesiologische Fragen nach dem inhaltlichen Sinn verkündigender und feiernder Gottesdienstpraxis, die selbst bei einem höchstprofessionellen Einsatz technischer Möglichkeiten eben keineswegs erledigt sind. Durch digitale Kommunikationsformen lediglich die Reichweite gottesdienstlicher Aktivitäten erhöhen zu wollen, kann ekklesiologisch gesehen jedenfalls nicht das prioritäre Ziel sein. Die Gründe jener Befragten, die sich mit Distanz zu digitalen Gottesdienstformaten geäußert haben, müssen zukünftig intensiver gehört werden: Beziehen sie sich primär auf mangelnde Digitalkompetenz oder sind es gerade solche hier genannten theologischen Überlegungen und Einsichten bzw. Haltungen zum Thema Gottesdienst, die doch fester Bestandteil der Berufssozialisation vieler Pfarrpersonen sind. Spielt die Frage nach Digitalkompetenz im Pfarrberuf und in der Kirchengemeinde die theologische gegen die technische Kompetenz aus? Es ist als ein äußerst spannender Forschungsaspekt zu erkunden, wie beide zueinander im Verhältnis stehen.
Denn es muss für den Ausbau der technischen Möglichkeiten im Bereich kirchlicher Kommunikation gelten, dass diese an die eingangs genannten Inszenierungs- und Ereignisdimensionen sowie die damit verbundenen Resonanz- und Anerkennungspraktiken zu binden sind. Diese bilden wesentliche Kriterien für die Sondierung theologischer Angemessenheit digitaler Gottesdienstpraxis.
Konkret sind hier auch in digitaler Hinsicht Formate anzustreben, die solche Raum-Erfahrungen ermöglichen, die den Blick auf das Leben wohlwollend verändern, bei denen die Aufmerksamkeit auf die Würde des Menschen und allen Lebens im Zentrum steht und die mit Praktiken verbunden sind, die das in einer digitalen Kultur wichtiger werdende (Selbst-)Vertrauen aller am Gottesdienst beteiligten Personen stärken.
Ob der Ereignischarakter der Kommunikation des Evangeliums durch digitale Formen und Formate so gefördert werden kann, dass leibkörperliche Resonanzräume eröffnet werden, in denen Menschen einander anerkennend begegnen können, muss dabei eine bewusste, immer wieder selbstkritische Frage theologisch-professioneller Reflexion bleiben. Erst unter dieser Voraussetzung erfahren die zukünftigen Gestaltungen digitaler Praxis und die damit möglich werdenden Transformationsprozesse ekklesiologischen Tiefensinn.
Prof. Dr. Ilona Nord ist Professorin für Evangelische Theologie mit dem Schwerpunkt Religionspädagogik und Didaktik des Religionsunterrichts am Institut für Evangelische Theologie, Religionspädagogik und kulturwissenschaftliche Religionsforschung der Julius-Maximilians-Universität Würzburg.
Prof. Dr. Thomas Schlag ist Professor für Praktische Theologie mit den Schwerpunkten Religionspädagogik, Kirchentheorie und Pastoraltheologie an der Theologischen Fakultät, Leiter des Zentrums für Kirchenentwicklung (ZKE) und Direktor der Universitären Forschungsschwerpunktes „Digital Religion(s)“ der Universität Zürich.