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„Ich lebe in meinem Mutterland Wort.“ Über die Kraft der Poesie

Der Krieg verändert auch die Lebenswelt in Russland. Julia Pasko, Philologin und Germanistin in Moskau, erschreibt sich Hoffnungsperspektiven in unmenschlichen Zeiten. Sie findet Halt in der Poesie – in der russischen und in der deutschen.

Published onJul 04, 2022
„Ich lebe in meinem Mutterland Wort.“ Über die Kraft der Poesie
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Wirklich, wir leben „in finsteren Zeiten“ – so beginnt Bertolt Brecht sein Gedicht „An die Nachgeborenen“ (Brecht 1988, 85–87), und ich erlaube mir genauso meinen Essay zu beginnen. Die Zeiten sind finster, turbulent, erschütternd, und das nicht nur, weil heutzutage „ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen“ ist, nicht nur, weil man sich mitten in „dem Streit der Welt“ befindet, sondern auch aus einem nicht weniger wichtigen Grund: in solchen Zeiten wird der Mensch vergessen. Ein einzelner Mensch zählt nicht mehr, ist kaum was wert, wird weder akzeptiert noch respektiert und ist ganz nah, in Wut, Empörung, Gewalt und Aggression zu versinken und sich selbst zu verlieren. Und man fragt sich: Was gibt Halt? Woran kann man sich anlehnen? Vielleicht ist die Poesie das Letzte, woran man dabei denkt. Ich finde aber, dass die Poesie die größte Kraft des Tröstens in sich trägt.

Poesie ist eigentlich die zugänglichste Kunst von allen, denn sie entsteht aus dem Wort und baut darauf, und das Wort ist etwas, was wir am meisten und am häufigsten benutzen, unser tagtägliches Instrument. „Am Anfang war das Wort“ und es kann alle Menschen erreichen. Das lyrische Wort ist ein Schlüssel, der viele Türen öffnen kann, auch die Welt kann es aufschließen – erinnern Sie sich an Joseph von Eichendorffs „Wünschelrute“ (Eichendorff 1970, 132–133)?

Schläft ein Lied in allen Dingen,
Die da träumen fort und fort,
Und die Welt hebt an zu singen,
Triffst du nur das Zauberwort.

Ein Paradox, nicht wahr? Das Wort – etwas ganz Alltägliches, Gewöhnliches und Magisches, Zauberhaftes zugleich. Worin besteht sein Zauber, sein Rätsel? Das ist wohl die schwierigste Frage. Es gibt aber einen Dichter, der mir geholfen hat, Antworten auf diese Frage zu finden. Es ist Boris Pasternak aus der Epoche des Silbernen Zeitalters, sein Weg zur Dichtung hilft vieles zu verstehen. Er war der Sohn eines russischen Malers, Leonid Pasternak, eines bedeutenden Impressionisten, und es ist sehr verständlich, dass er den künstlerischen Einflüssen seines Vaters nicht entgehen konnte – in seiner Jugendzeit hat er begonnen zu malen. Maler ist er aber nicht geworden. Seine Mutter, Rosalija Kaufmann, war bekannte Pianistin, und die Musik gehörte zu den größten Leidenschaften des jungen Mannes, er fing auch an zu komponieren und fand Anerkennung bei Alexandr Skrjabin, einer der Kultfiguren der damaligen Musikszene. Ein Komponist wurde aus ihm nicht. Als Student war er an Philosophie interessiert und verbrachte einige Zeit in Marburg bei Hermann Cohen, der von Pasternaks Talent beeindruckt war und ihm eine Philosophen-Karriere prophezeite. Seine philosophischen Studien aber brach Pasternak ab. Und wandte sich der Poesie zu, in der er gleichzeitig Maler, Komponist und Philosoph war – denn das Wort gibt uns die Möglichkeit Bilder und Musik zu schaffen und sie mit verschiedenen Sinnen zu füllen. Pasternak verfasste das berühmte Gedicht „Definition der Poesie“, die für ihn buchstäblich in allem auf der Welt und das Leben selbst ist: in jedem Geräusch, in jedem Stern, in jeder Naturerscheinung. Ein_e Dichter_in ist nicht nur Wortkünstler_in, ein_e Dichter_in ist Maler_in, Musiker_in, Philosoph_in. Novalis behauptet sogar, Dichter_innen seien Priester_innen. So ist ein Gedicht mehr als nur Gewebe aus Wörtern und Worten, in seiner Liedhaftigkeit und Schönheit ist es ein richtiges Gesamtkunstwerk, das uns mit der Komplexität der Welt konfrontiert und sie gleichzeitig erklärt. Die Welt selbst sei ein ewiges Gedicht, schreibt Hugo von Hofmannsthal (Hofmannsthal 1979, 85–86):

Was ist die Welt? Ein ewiges Gedicht,
Daraus der Geist der Gottheit strahlt und glüht,
Daraus der Wein der Weisheit schäumt und sprüht,
Daraus der Laut der Liebe zu uns spricht

Und jedes Menschen wechselndes Gemüth,
Ein Strahl ist’s, der aus dieser Sonne bricht,
Ein Vers, der sich an tausend and’re flicht,
Der unbemerkt verhallt, verlischt, verblüht.

Und doch auch eine Welt für sich allein,
Voll süß-geheimer, nie vernomm’ner Töne,
Begabt mit eig’ner, unentweihter Schöne,

Und keines Andern Nachhall, Widerschein.
Und wenn Du gar zu lesen d’rin verstündest,
Ein Buch, dass Du im Leben nicht ergründest.

Und zusammen mit dieser Komplexität wird uns eine besondere Wahrheit mitgeteilt und gezeigt, eine dringend wichtige, die wir selbst nicht sehen können, aber unbedingt kennen müssen. Es ist eine Wahrheit über die Welt und über uns selbst. Am treffendsten hat darüber Olga Sedakova, eine russische Dichterin und Übersetzerin, in ihrem Essay über Paul Celan geschrieben: „Es liegt in der Natur der Poesie, dass man eine Bedeutung wahrnehmen kann, die man vorher nie hätte erkennen können, auf die man scheinbar nicht vorbereitet ist: und ist das nicht der Grund, warum wir sie lieben? Sie erweckt in den Dingen und Worten ihre normalerweise schlummernde Fähigkeit zur Symbolisierung. Sie weckt im Leser die normalerweise schlummernde Fähigkeit, mit Symbolen oder Bedeutungen zu kommunizieren, sie zu erkennen...“ (Sedakova 2010, 506–532) Manchmal ist diese Wahrheit schmerzhaft – ein_e Dichter_in ist nicht immer jemand, der tröstet, es ist jemand, der mehr als andere sieht und in diesem Sehen die ganze Welt und sogar andere Planeten umfasst, wie Marina Zwetajewa in ihrem Manifest-Gedicht „Dichter“ postuliert hat. Manchmal kann es eine Wahrheit sein, die wir vergessen haben und an die wir erinnert werden, wie bei Mascha Kaléko (Kaléko 2018, 22):

Es ist wahr, was sie sagen:
Was kommen muss, kommt.
Geh dem Leid nicht entgegen.
Und ist es da,
Sieh ihm still ins Gesicht.
Es ist vergänglich wie Glück.

Dichter_innen verleihen dem lyrischen Wort durch Metaphorisierung und Kontextualisierung eine besondere Semantik, dank der das Wort seine ursprünglichen Grenzen verlässt, größer wird und Räume schafft, in denen man Zuflucht finden kann. Das lyrische Wort wird selbst zu einem Raum, zu einem Zufluchtsort. „Bau mir ein Haus“, bittet das lyrische Ich sein Gegenüber in Hilde Domins Gedicht (Domin 2020, 20):

Zersäge den Baum
nimm Steine
und bau mir ein Haus.
Ein kleines Haus
mit einer weißen Wand
für die Abendsonne
und einem Brunnen für den Mond
zum Spiegeln,
damit er sich nicht
wie auf dem Meere verliert.
Ein Haus
neben einem Apfelbaum
oder einem Ölbaum,
an dem der Wind
vorbeigeht
wie ein Jäger, dessen Jagd
uns
nicht gilt.

Dichter_innen bauen für uns ein Haus, schenken uns einen Ort, in dem wir uns einige Zeit aufhalten, sogar verstecken und retten können. Nicht umsonst hat Rose Ausländer einmal geschrieben: „Ich lebe in meinem Mutterland Wort“ (Ausländer 1994, 94). Aus welchen Steinen besteht dieses Haus, wenn wir die Metaphorik von Hilde Domin aufgreifen? Aus Gestalten und Melodien, aus Sinn und Gefühl – denn jedes Gedicht ist ein Gefühlsdokument. Der_Die Dichter_in öffnet mit dem Wort-Schlüssel nicht nur die Welt und ihre Geheimnisse, er_sie öffnet auch sich selbst und zeigt sich in seinem_ihrem Wort wie in einem Spiegel, er_sie lädt zum vertraulichen Gespräch ein und sagt uns: „Du existierst. Du fühlst. Du lebst. Du bist da. Ich spreche mit dir.“ Und das Gedicht selbst spricht auch: „Das Gedicht will zu einem Andern, es braucht dieses Andere, es braucht ein Gegenüber. Es sucht es auf, es spricht sich ihm zu“ (Celan 2000, 198). Ein Gedicht ruft in uns Gefühle hervor, gibt uns uns selbst zurück, erinnert uns an uns selbst. Was kann ein besserer Trost sein? So eine starke Wirkung eines Gedichtes ist damit verbunden, dass es „aus tiefsten Tiefen“ der Dichterseele steigt, denn Dichten ist nicht nur Kunst, es ist ein existentielles Bedürfnis, eine ständige Offenbarung: „Meine Existenz ist eine andere, ich existiere nur, wenn ich schreibe, ich bin nichts, wenn ich nicht schreibe, ich bin mir selbst vollkommen fremd, aus mir herausgefallen, wenn ich nicht schreibe“ – so bestätigt Ingeborg Bachmann diesen Gedanken in ihrer Rede zur Verleihung des Anton-Wildgans-Preises (Bachmann 1978, 294). Dichter_innen sind Brückenbauende, sie spannen Bögen nicht nur von einem Menschen zum anderen, sondern verbinden auch Ufer verschiedener Kulturen. Nicht umsonst habe ich vorher Marina Zwetajewa, Boris Pasternak und Olga Sedakova erwähnt. Marina Zwetajewa ist Russlanddeutsche, zusammen mit Russisch war auch Deutsch ihre Muttersprache und das deutsche Wort – ihr Mutterland. Boris Pasternak war der deutschen Kultur, Philosophie und Literatur sehr nah, nicht nur biografisch – das sieht man in vielen Gedichten, bis zu seinem Lebensende. Olga Sedakova ist nicht nur eine Dichterin, sondern eine prominente Übersetzerin (übrigens wie Zwetajeva und Pasternak), die unter anderem Paul Celan auf Russisch erscheinen und erklingen ließ. Dieses Brückenbauen, dieser Über-Setzen auf andere Ufer darf man heute auf keinen Fall weder vergessen noch ablehnen, weil das Vergessen und Ablehnen alle Brücken zerstören wird.

Wenn Dichten und Schreiben existentielle Notwendigkeit darstellen, so sind Lesen und Wahrnehmen der Poesie eine lebensnotwendige Arbeit, – lego ergo sum statt cogito ergo sum – eine harte Arbeit, die sich aber lohnt, besonders heute, hier und jetzt. Denn laut Joseph Brodsky kann uns Poesie eine Möglichkeit geben, „die schwere Last der Existenz zu ertragen“ – und dabei eine aufrechte Haltung zu bewahren, uns selbst in diesem Wirbelsturm nicht zu verlieren. In seiner Vertikalität gleicht ein Gedicht einem Baum, der Oben und Unten verbindet, es hat Wurzeln im Alltäglichsten, was wir kennen – in den Wörtern und Worten, und schaut in das Höchste und Erhabenste, was wir erblicken können, in den Himmel. Deswegen:

ich liebe bäume im frühling
wenn sie noch kein laub haben
sie strecken ihre kahlen äste in den himmel
sie beten
innig leidenschaftlich inbrünstig
alle parks und wälder auf einmal
ein großer gottesdienst
eine stille hallelujah
was für ein wunder dieses gebet
gott hört es ich weiß es genau
er schenkt den bäumen grüne gewänder
die kleider der freude
ich sehe bäume im frühling
und strecke meine arme
in den himmel wie äste
auch ich bete zu dir herr
gib mir kraft
die bäume in ihren wurzeln haben
schenk mir weisheit und hoffnung
ihrer kahlen zweige
füll mich mit liebe
die in ihren kronen im wind raschelt
mach mich zu einem baum

Literaturverzeichnis

Ausländer, Rose. 1994. Sanduhrschritt. Gedichte 1977–1978. Frankfurt am Main: FISCHER Taschenbuch.

Bachmann, Ingeborg. 1978. Werke. Vierter Band: Essays, Reden, Vermischte Schriften, Anhang, Phonographie. München; Zürich: Piper Verlag.

Brecht, Bertolt. 1988. Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe. Band 12: Gedichte II. Sammlungen 1938–1956. Frankfurt a. M.; Berlin: Suhrkamp.

Celan, Paul. 2000. Gesammelte Werke in sieben Bänden. Dritter Band: Gedichte III Prosa Reden. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.

Domin, Hilde. 2014. Sämtliche Gedichte. Frankfurt a. M.: FISCHER E-Books.

Eichendorff, Joseph von. 1970. Werke. Erster Band. München: Winkler.

Hofmannsthal, Hugo von. 1979. Gesammelte Werke in zehn Einzelbänden. Band 1: Gedichte, Dramen. Frankfurt a. M.: FISCHER Taschenbuch.

Kaléko, Mascha. 2018. Die paar leuchtenden Jahre. München: dtv.

Sedakova, Olga. 2010. Werke in vier Bänden. Zweiter Band. Moskau: Russische Stiftung zur Förderung von Bildung und Wissenschaft.

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