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Für Krone und Corona – Krisendeutungen im Ersten Weltkrieg und heute

Parallelen zwischen den Weltkriegen und Corona werden im Moment gern gezogen. Der Beitrag fragt aus einer historischen Perspektive, mit welchen Strategien kirchliche Akteur*innen 1914 und heute versuch(t)en, die Krise zu bewältigen und Seelsorge und Sinnstiftung zu leisten.

Published onApr 04, 2020
Für Krone und Corona – Krisendeutungen im Ersten Weltkrieg und heute

Für Krone und Corona – Krisendeutungen im Ersten Weltkrieg und heute

„Ein wenig erinnert mich das Ostern-ist alles-vorbei an das Weihnachten-sind alle-Zuhause von 1914.“[1] konnte man vor einigen Tagen auf Twitter lesen. Es war nicht das erste Mal, dass Parallelen zwischen der Corona-Epidemie und einem der beiden Weltkriege gezogen wurden.

Die Bundeskanzlerin bezeichnete in ihrer Ansprache vom 18.03.2020 Corona als „größte  Herausforderung seit dem Zweiten Weltkrieg“, und rief zur Solidarität aller Mitbürger*innen auf, um die Situation zu bewältigen. „Es ist ernst. Nehmen Sie es ernst“ lautete der vielzierte Appell[2]. Andere Staatsoberhäupter wie der französische Staatspräsident Emmanuel Macron verwendeten in ihren Ansprachen die Metapher vom Krieg noch offensiver: „Wir befinden uns im Krieg, in einem Gesundheitskrieg, ganz sicher: Wir kämpfen weder gegen eine Armee noch gegen eine andere Nation. Aber der Feind ist da, unsichtbar, flüchtig, auf dem Vormarsch. Und das erfordert unsere allgemeine Mobilisierung.“[3]

Nicht nur die Rhetorik, auch der Kontext könnte an Ansprachen von Staatsoberhäuptern an ihre Untertanen zu Beginn der Weltkriege erinnern – etwa an die Balkonreden von Kaiser Wilhelm II. an das Deutsche Volk im August 1914: „Ich danke euch für alle Liebe und Treue, die ihr Mir in diesen Tagen erwiesen habt. Sie waren ernst, wie keine vorher! […] Ich kenne keine Parteien und auch keine Konfessionen mehr; wir sind heute alle deutsche Brüder und nur noch deutsche Brüder.“[4] Weitere Vergleiche zwischen der Coronakrise und dem Ersten Weltkrieg drängen sich auf – bis hin zum Ausbruch der Spanischen Grippe 1918, parallel zum Ende des Ersten Weltkriegs. Und sind wir nicht in Deutschland, wieder mal, wie die „Schlafwandler“ in eine Krise – Corona – geschlittert, die vor einigen Wochen keiner so richtig vorhersehen wollte, obwohl doch schon alles darauf hindeutete – so wie es zumindest von einigen Historikern nach Analyse der Ereignisse im Vorfeld auch für den Beginn des Ersten Weltkriegs angenommen wird?[5]

Als Kirchenhistorikerin sollte ich solche Parallelen zwischen dem Ersten Weltkrieg und der Coronakrise nicht ziehen. Geschichte wiederholt sich nicht. Corona ist kein Krieg, sondern ein Virus, und wir leben im Jahr 2020, nicht 1914. Die Kontexte sind völlig anders und auch die Handlungen der beteiligten Akteure lassen sich, wenn man genauer hinsieht, nicht gleichsetzen. Vielleicht helfen mir die Erfahrungen, die wir gerade während Corona machen, aber doch, historische Quellen im Nachhinein besser zu verstehen und anders einzuordnen?

Ich forsche zu deutschen evangelischen Predigten und Erbauungsliteratur aus den Jahren 1914-1918. Wie reagierten Pfarrer auf den Krieg? Welche theologischen Deutungsstrategien und – muster verwendeten sie, um ihren Gemeinden das Geschehen zu erklären? Wie gestaltete sich Frömmigkeit im Krieg und welche Verflechtungen von Theologie und Politik sind in dieser Zeit festzustellen?

Als eine in Westdeutschland aufgewachsene Wissenschaftlerin kenne ich Krisen und Kriege zum Glück nur aus dem Fernsehen und den Erzählungen meiner Großeltern. Die Theologie im Ersten Weltkrieg, wie sie sich aus meinen Quellen erschließt, war für mich bisher in erster Linie eine Kulmination und Vermischung von theologischen und politischen Ideen aus dem 19. Jahrhundert, ein letztes Aufbäumen der alten Theologie des Kaiserreichs, bevor die deutsche Kriegsniederlage 1918 auch theologische Konzepte radikal zu Fall brachte. Ganz so einfach war es nicht. Jetzt, unter dem Eindruck von Corona, frage ich noch einmal neu danach, wie Pfarrer versuchten, die Krise des Ersten Weltkriegs zu bewältigen. Ich lese nicht in erster Linie den Hurra-Patriotismus und die deutsche Überheblichkeit aus den Predigten, sondern versuche, auch die leisen Töne und das, was hinter dem Nationalismus stehen könnte, zu erkennen. Wie reagier(t)en Pfarrer*innen auf eine globale Krise, sei es der Ersten Weltkrieg oder Corona?

Liest man die Predigten unter diesem Aspekt, dann fällt auf, dass sich die „Kriegsbegeisterung“ im August 1914 (die es in dem von der Propaganda suggerierten Ausmaß sowieso nicht gab), eher in Grenzen hielt und ganz andere Themen im Vordergrund standen. Leider weiß ich kaum etwas über die einzelnen Gemeindemitglieder, die mit Pfarrern über ihre Sorgen und Ängste zum Kriegsbeginn sprachen. Man kann einige dieser Sorgen aus Briefen und Tagebüchern rekonstruieren. Kriegspredigten zeigen ein Bewusstsein der Pfarrer gerade auch für diese Unsicherheiten und Ängste der Menschen am Beginn eines Krieges, dessen Ausgang im Ungewissen lag:

„Wie wirds gehen? Werden wir aushalten? […] Welche von denen, die hinausziehen, werden wiederkommen? Und wie werden sie kommen? Und was wird daheim sein? Und was nach dem Kriegssturm? Fragen, Sorgen ohne Ende.“[6] formulierte z.B. der Karlsruher Hofprediger Ernst Fischer in seiner Predigt vom 9. August 1914. Antworten der Pfarrer auf diese drängenden Fragen lassen uns aus heutiger Sicht eher ratlos zurück – verwiesen wurde auf die positiven Projektionen, die der Kaiser in seinen Balkonreden gemacht hatte, auf die Siegesgewissheit der Deutschen und auf Gott, der auf Seiten des deutschen Volkes stünde. Muss mancher unreflektierter Nationalismus in Predigten dieser Zeit vor dem Hintergrund der drängenden Fragen vielleicht auch als Versuch der Seelsorge und Sinnstiftung gesehen werden und nicht nur als Weitertragen der politischen Propaganda? Haben auch 1914, wie heute, Unsicherheiten der Pfarrer selbst, wie mit der Situation umzugehen sei, Aussagen in Predigten provoziert, die heute – in der Rückschau – als theologisch problematisch erscheinen müssen?

Gottesdienste konnten 1914, im Gegensatz zu heute, weiterhin in den Kirchen des Deutschen Reiches gefeiert werden. Es fehlte allerdings ein Teil der Gemeinde, nämlich die Männer, die in den Krieg gezogen waren. Trotzdem wollten Pfarrer für alle Gemeindeglieder – Männer, Frauen, Kinder, Alte – ein Frömmigkeitsleben aufbauen und Alternativen für diejenigen bereitstellen, die sonntags im Gottesdienst nicht anwesend sein konnten. Auffällig ist, dass vor allem 1914 eine Flut an Predigten sehr schnell in kleinen Heftchen, aber auch in ganzen Predigtsammelbänden gedruckt wurde. Die größeren Predigtbände hatten eine klare Intention: Sie sollten für die Nachwelt dokumentieren, wie glorreich sich die Kirche während des Krieges bewährt hatte.[7] Vielleicht ist auch das eine Form der Reaktion auf die Krise: Ein gewisser „Sammeltrieb“ und der Aufbau einer Erinnerungskultur während der Coronakrise ist ja auch heute schon zu beobachten.[8]

Dass daneben auch viele Pfarrer aus kleineren Gemeinden im Ersten Weltkrieg ihre Predigten drucken ließen, kann als übertrieben erscheinen – was wollte man damit bewirken? Wollten Pfarrer zeigen, dass sie die Politik des Kaisers als gute Protestanten unterstützten oder wollten auch sie eine „Erinnerung“ für die Nachwelt schaffen?

Seit ungefähr zwei Wochen sprießen unzählige kirchliche Angebote aus dem Boden, viele im digitalen Raum – initiiert von Landeskirchen, kirchlichen Verbünden, aber auch einzelnen Pfarrern. Sonntags kann man zwischen unterschiedlichen Fernsehgottesdiensten oder Gottesdienst-Live-Streams aus ganz Deutschland wählen, kann Predigten lesen, als Podcast anhören, auf Youtube oder Instagram anschauen. An einigen Stellen wird jetzt schon Kritik laut – man solle sich doch besser organisieren; nicht alles, was gesendet wird, sei „gut“ (sowohl inhaltlich als auch in der technischen Ausführung) und das Angebot sei zu groß und unübersichtlich. Andere Stimmen sprechen dagegen: Es sei gerade wichtig, dass es die Vielfalt gibt, weil Menschen unterschiedlich sind und weil in der Krise vielleicht gerade der Blick auf das Liebgewordene, Vertraute, Regionale hilft.

Mit Blick auf die aktuelle Situation verstehe ich jedenfalls besser, warum im Ersten Weltkrieg plötzlich so viele Predigten veröffentlicht wurden, gemeinsam mit Gebets- und Andachtsheftchen, extra für die Kriegszeit. Pfarrer versuchten, neue Formen der Frömmigkeitsausübung im Alltag zu etablieren, die für die Kriegszeit passend waren und individuell genutzt werden konnten. Predigten und Gebetsheftchen wurden an die Soldaten an der Front verschickt, oftmals verbunden mit persönlichen Grüßen des Gemeindepfarrers. In der Heimat wurden Kriegsbetstunden und Vorträge extra für Frauen angeboten – nicht nur, um die politische Propaganda zu unterstützen und Durchhalteparolen zu liefern, sondern auch um Unterstützung und Halt in der Krise zu bieten. Jetzt, während der Corona-Krise, versuchen Pfarrer*innen ebenfalls, eine neue Frömmigkeit zu vermitteln, die mit Hilfe verschiedener Medien zu den Menschen gebracht wird – dabei entsteht ein Angebot für unterschiedliche Zielgruppen, aus unterschiedlichen Perspektiven und von unterschiedlicher Qualität. Die Aktionen der Pfarrer*innen heute zeigen, dass vieles versucht wird, um die Menschen nicht allein zu lassen – ähnlich wie die Gebetsheftchen und gedruckten Predigten im Ersten Weltkrieg.

Die Nachfrage nach diesen Angeboten war und ist da – weil Menschen Sinn und Trost suchen, heute wie auch im Ersten Weltkrieg. Im Ersten Weltkrieg ist jedoch auch deutlich zu erkennen, dass die Nachfrage nach 1914 zurückging. Beliebte Gebetsheftchen von 1914 wurden immer wieder neu aufgelegt,[9] andere Heftchen und auch viele einzeln veröffentlichte Predigten verschwanden nach der ersten Auflage wieder in der Versenkung. Schuld daran waren in erster Linie vermutlich die stark kontextbezogenen Inhalte – spätestens zu Weihnachten passten die Predigten aus dem August 1914 nicht mehr. Daneben lässt sich aber auch eine zunehmende Skepsis in Teilen der Gemeinden in der Heimat und im Feld gegenüber den kirchlichen Deutungsangeboten feststellen. Der Krieg dauerte länger als ursprünglich angenommen und ein deutscher endgültiger Sieg ließ auf sich warten. Es entwickelte sich parallel eine von den Gemeindegliedern selbst ausgehende Frömmigkeit, die auf traditionelles Volksgut und Formen, die die Kirche womöglich als Aberglauben tituliert hätte, zurückgriff.[10]

Auch die im August 1914 plötzlich wieder stärker besuchten Gottesdienste wurden positiv gedeutet – als Aufblühen einer neuen Frömmigkeit; manche Pfarrer redeten sogar von einem neuen Pfingsten. Sehr schnell war diese erste „Begeisterung“ für die Kirche aber wieder verflogen. Das Leben ging weiter, Belastungen wurden größer und oft konnten die Kirchen eben doch die Erwartungen der Menschen nicht erfüllen und keine Antworten auf die Fragen geben.

Die Frage, ob Kirche tatsächlich von Krisen, von Ausnahmesituationen, profitieren kann oder soll, stellt sich gerade jetzt wieder.[11] Das Beispiel des Ersten Weltkriegs zeigt in jedem Fall, dass in der Krise die Nachfrage nach kirchlichen Angeboten und Deutungen zunächst hoch ist – dass alle Angebote – sowohl in ihrer medialen Form als auch in ihren Inhalten - aber zugleich stark kontextbezogen sind und schnell an Aktualität verlieren können.

Die Kontextbezogenheit zeigte sich im Ersten Weltkrieg übrigens schon in der äußeren Form der Andachtsliteratur: Viele Gebetsheftchen hatten ein Format, das genau in die Hemdtasche eines Soldaten passen sollte, so dass er es immer bei sich tragen konnte. Nach Kriegsende war der Bedarf nach diesem Format zunächst einfach nicht mehr vorhanden.

Schaut man noch einmal genauer auf die Inhalte in Kriegspredigten, so erscheint dort manches zu einfach, zu plakativ und zu stereotyp – reicht ein „Gott mit uns“ aus, um Antworten auf die drängenden Fragen der Menschen zu geben? Im Nachlass eines Feldgeistlichen aus den Jahren 1914-1918 gibt es Predigten, die lange Beschreibungen von Spaziergängen des Pfarrers durch das frühlingshafte Kriegsgebiet enthalten – während parallel dazu die Soldaten aus seiner Etappe ihren Verletzungen erlagen. Auch das habe ich bis jetzt nicht richtig verstanden – heute posten auf Facebook und Twitter viele Theolog*innen Bilder von Blumen und blühenden Magnolienbäumen….

Fast alle Predigten aus dem Ersten Weltkrieg sind voll von einem uns heute fremd erscheinenden Nationalismus, der noch zusätzlich durch theologische Deutungsmuster aufgeladen wurde. Luthers Vers „das Reich muss uns doch bleiben“[12] wurde neu interpretiert und nicht mehr auf ein zukünftiges Reich Gottes, sondern auf ein großes und mächtiges Deutsches Reich bezogen, das unter Gottes Führung den Krieg gewinnen sollte. Zugleich wurde immer wieder das Kollektiv der einigen deutschen Nation beschworen: Je stärker und einheitlicher sich diese Nation im Krieg präsentierte, desto besser könne sie den Krieg bestehen und desto näher käme man auch dem eigentlichen Ziel – der Errichtung des Reiches Gottes auf Erden und damit dem immerwährenden Frieden.

In einer Zeit der Globalisierung sind solche Nationalismen in Predigten weniger präsent. Auffällig ist aber auch, dass heute immer wieder betont wird, dass keiner, trotz Quarantäne und Isolation, allein ist und immer wieder das Wohl von allen beschworen wird (für das jeder Einzelne bestimmte Einschränkungen in Kauf nehmen muss). Nur gemeinsam können wir das schaffen – und es fragt sich, wen das „wir“ einschließt – die Menschen in Deutschland oder auch die außerhalb der Grenzen? Ein Gemeinschaftsgefühl soll durch Zeichenhandlungen, durch das Singen von Liedern zu einer bestimmten Uhrzeit auf den Balkonen, durch das Anzünden von Kerzen oder das Läuten von Kirchenglocken erzeugt werden. Schaue ich auf den Ersten Weltkrieg, dann verstehe ich die vielen nationalistischen Äußerungen in Predigten und Erbauungsschriften auch als Versuch, ein Gemeinschaftsgefühl zu schaffen und Stärke auszudrücken – als Nation können wir es schaffen, auch wenn der oder die Einzelne zurückstecken muss. Gerade hier wurde die Theologie des Ersten Weltkriegs dann aber gefährlich, weil die Nation als Gemeinschaft zu stark überhöht und teilweise auch sakralisiert wurde – aus dem deutschen Volk wurde bei einigen Predigern das neue Volk Israel, Gottes neues erwähltes Volk. Damit verbunden waren theologisch begründete Herrschaftsansprüche über Europa und ein teilweise rassistisches Denken.

Es drängt sich außerdem immer wieder, 1914 und heute, die Frage auf, wo eigentlich Gott in dieser Krise ist. In den Predigten des Ersten Weltkrieg gab es auf diese Frage meist zwei Antworten – entweder wurde Gott als derjenige verstanden, der im Krieg Gericht über die Völker hielt und jede Kanonenkugel nach seinem Willen lenkte oder er wurde (seltener) als der tröstende Gott gesehen, der bei den Leidenden und Sterbenden war.

Die Deutungen des Ersten Weltkriegs als Gericht Gottes übersahen, dass jeder Krieg in erster Linie ein politisches Ereignis ist und von Menschen geführt wird, nicht von Gott. Corona ist ein Virus, ein medizinisches Problem – wo wirkt da Gott? Das Bild des tröstenden Gottes, auf den Menschen auch in der Krise vertrauen können, scheint im Moment in den Predigten zu Corona zu überwiegen. Im Ersten Weltkrieg erschien gerade dieses Gottesbild nicht stark genug – hier wünschte man sich einen Gott, der aktiv für die eigene Nation kämpfte.

Predigten aus dem Ersten Weltkrieg, so wird mir mit Blick auf die Zeit jetzt immer deutlicher, sind auch ein historisches Beispiel dafür, wie Pfarrer in einer Krise Sinnstiftung und Seelsorge leisteten. Sie zeigen, wie Pfarrer relativ schnell auf unerwartete Situationen reagierten und versuchten, ein kirchliches Leben in unsicheren Zeiten aufrecht zu erhalten und neue Formen von Frömmigkeit zu etablieren. Klar wird dabei aber auch, dass es sich bei der Theologie und Frömmigkeit des Ersten Weltkriegs um eine Theologie der Krise handelte, die entscheidend durch ihren Kontext bestimmt wurde – und es handelte sich eine Theologie, die offen war, weil 1914 niemand ahnen konnte, wie der Erste Weltkrieg enden würde. Aus der Rückschau können Historiker*innen diese Theologie heute beurteilen – ganz nachvollziehen, welche Sorgen, Ängste und Zweifel zwischen den Zeilen der Predigten gestanden haben müssen, können wir nicht. Hier kommt die Geschichtswissenschaft an ihre Grenzen – und auch das eigene Erleben einer Krise im Jahr 2020 kann letztlich nicht dazu führen, die Krise 1914 vollständig zu verstehen. Wie werden Kirchenhistoriker*innen in 100 Jahren einmal das Verhalten der Kirchen während Corona beurteilen, wenn sie wissen, wie die Geschichte geendet hat? Was wird von der Corona-Theologie bleiben, wie wird sie bewertet werden? Vieles aus den Kriegspredigten des Ersten Weltkriegs wird heute sehr kritisch gesehen. Nach dem Krieg musste sich vor allem die evangelische Theologie neu orientieren, weil viele Leitbilder nicht mehr tragbar waren. Eine Konsequenz, die ein Theologe aus dem Ersten Weltkrieg gezogen hat, hat bis heute nichts von ihrer Aktualität eingebüßt. Zwei Wochen nach der deutschen Niederlage predigte Albert Schweitzer zum Totensonntag in der Straßburger Kirche St. Nicolas und formulierte hier: „Ehrfurcht vor Menschenleid und Menschenleben, vor dem kleinsten und unscheinbarsten, sei das eherne Gesetz, das hinfort die Welt regiere.“[13]



[1] https://twitter.com/Medgesch/status/1243036849335123968.

[2] https://www.youtube.com/watch?v=TgC2TzvIRY8.

[3] https://www.achgut.com/artikel/corona_text_der_rede_von_emanuel_macron_auf_deutsch. Vgl. zur Kriegsmetapher z.B. https://www.ev-akademie-boll.de/nc/aktuell/kreuz-und-quer/artikel/das-virus-als-metapher.html.

[4] https://wiki.ieg-mainz.de/konjunkturen/index.php?title=Balkonrede_von_Kaiser_Wilhelm_II.,1._August_1914

[5] Vgl. Christopher Clark, Die Schlafwandler. Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog, München 2014.

[6] Vgl. Ernst Fischer, Predigt vom 9.8.1914, in: Ders., Predigten 1914 II. Archiv der badischen LK, Abt. 150.034, NL Ernst Fischer, Nr. 70.

[7] Vgl. z.B. Paul Wurster (Hrsg.), Kriegspredigten aus dem Großen Krieg von verschiedenen Verfassern, Stuttgart 1915, IIIf.

[8] Vgl. aus historischer Perspektive: https://coronarchiv.geschichte.uni-hamburg.de/projector/s/coronarchiv/page/willkommen.

[9] Vgl. z.B. Paul Wurster, Kriegsbetbüchlein für Soldaten im Feld, Stuttgart 1914ff. https://reader.digitale-sammlungen.de//resolve/display/bsb11126162.html.

[10] Vgl. Martin Greschat, Der Erste Weltkrieg und die Christenheit. Ein globaler Überblick, Stuttgart 2015, 12.

[11] Vgl. https://zeitzeichen.net/node/8212; https://eulemagazin.de/die-krise-ist-kein-ort-fuer-wachstumsfantasien/.

[12] Vgl. Michael Fischer, Religion, Nation, Krieg. Der Lutherchoral Ein feste Burg ist unser Gott zwischen Befreiungskriegen und Erstem Weltkrieg, Münster 2014 (Populäre Kultur und Musik 11).

[13] Vgl. Albert Schweitzer, Morgenpredigt Sonntag 24. November 1918, St. Nicolai. Zum Gedächtnis unserer Toten, in: Ders., Predigten 1898-1948, hrsg. von Richard Brüllmann und Erich Grässer, München 2001, 1210.

Comments
2
Adventskalender
Andrea Hofmann:

Jetzt geht es ja tatsächlich um Weihnachten. Das härteste Weihnachten seit Ende von WWII (oder so ähnlich), meinen manche. Aus der historischen SIcht - sicher nicht! Nachkriegsweihnachten waren was ganz anderes….

Lisanne Teuchert:

Das stimmt! Für mich aus meiner komfortablen Perspektiver heraus auf jeden Fall - ich muss nicht um das Leben eines Familienmitglieds fürchten und ich bin auch nicht wirtschaftlich bedroht. Die Frage ist, wenn es jetzt auch auf die Advents- und Weihnachtspredigten zugeht: Was machen wir mit historischen Vergleichen? Welche rhetorische Haltung darf wer gegenüber wem einnehmen? Ein “es war schon viel schlimmer, wir jammern auf hohem Niveau” übergeht diejenigen, denen es wirklich schlecht geht. Ein “auch daraus haben wir es geschafft” ist seltsam optimistisch (geschichtstheologisch auch schwierig). Dein Artikel hier ist in dieser Richtung sehr reflektiert. Wie gehen Sie/ihr in Theologie, Kirche und Schule damit um? Und lässt sich aus Ihrer/Deiner Sicht, Andrea Hofmann, schon etwas nachtragen dazu, wie in diesem Advent auf historische Vergleich Bezug genommen wird?

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Adventskalender
Andrea Hofmann:

Ja, unbedingt! TheoLab?

Thomas Renkert:

Z.B. ja. Aber ich selber bin da ja auch unterwegs und hätte auch Ideen. Aber mit der Notwendigkeit von Digitalisierungen usw. wird das schnell sehr kostenintensiv.

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