Provokative Diskrepanzen. Eine rudimentäre Projektion
Es sind drei einfache Alltagssequenzen, die den Ausgangspunkt meiner Überlegungen zur Zukunft von Theologie und Kirche bilden sollen. Die erste spielt bei der professionellen Zahnreinigung in Halle an der Saale. Was ich beruflich mache, werde ich von der jungen Frau um die 30 gefragt. »Ich arbeite bei der Kirche«, entgegne ich. »Und für welche Religion?« »Für die Evangelische Kirche, die christliche Religion, die Kirche von Martin Luther«, antworte ich – so umfassend es nur irgend geht. Ein paar Sekunden Stille, danach murmelt sie: »Sachen gibt’s, die gibt’s gar nicht ...«
Die zweite Sequenz spielt im mecklenburgischen Neubrandenburg, einer Stadt mit 63.000 Einwohnern. Dorthin ist eine Freundin von mir gerade in den pastoralen Probedienst entsandt worden. Sie hat bisher keine Konfirmand_innen – daher besucht sie alle 30 Jugendlichen im Alter von 12 bis 14 Jahren in ihrem Gemeindegebiet, die selbst oder bei denen zumindest ein Elternteil getauft ist. Von denen, die sie angetroffen hat und die nicht bereits nach ihrer Selbstvorstellung den Hörer der Freisprechanlage aufgelegt haben, könnten sich zwei Jugendliche das theoretisch vorstellen.
Die dritte Sequenz stammt aus meiner Gemeindeseelsorgephase im Vikariat in Hamburg. Mehrmals bin ich dabei auf Menschen getroffen, die sich von der Kraft der Engel haben helfen lassen – durch Menschen, die selbst noch von Ferne über die eigene religiöse Sozialisation mit der Kirche verbunden sind. Ebenso begegneten mir Frauen, die von sich selbst sagen, dass sie Kontakt zu Toten aufnehmen können. Ich war oft fasziniert und verunsichert, wenn ich davon gehört habe – bin ich selbst ausreichend in Kontakt mit dem, was zwischen Himmel und Erde möglich zu sein scheint? In meiner Supervisionsgruppe wurden diese Erlebnisse schnell an die Psychotherapie delegiert – wenn jemand mit Toten sprechen kann und diese als anwesend erlebt, dann begäben wir angehenden Geistlichen uns auf heikles Terrain.
Entfremdung von der Religion innerhalb der Kirche ist vielleicht der bekannteste Nenner, auf den sich alle drei Sequenzen bringen lassen. Für diejenigen, die von dieser Entfremdung betroffen sind, gehen damit nicht selten Vergeblichkeitserfahrungen einher. Der frühere sächsische Landesbischof Jochen Bohl reflektiert dies zum Ende seiner Amtszeit so:
»[... W]ie mag es jemandem ergehen, der sich mit allen seinen Kräften und Begabungen dafür einsetzt, dass Menschen dem Evangelium begegnen und doch erleben muss, dass die Gemeinde und die Kirche kleiner werden? Darüber kann sich ein Schatten auf die Seele legen, zumal es ja unmöglich ist, diese Prozesse zu ignorieren oder sich von ihrer Wirkmächtigkeit ›abzukoppeln‹. Man kann einfach nicht übersehen, dass der Gottesdienst ›früher‹ besser besucht war, dass es mehr Konfirmanden und Christenlehrekinder gegeben hat, Traugottesdienste und Taufen häufiger zu halten waren ... Der Eindruck, das eigene Bemühen sei vergeblich, ist für nicht wenige unter uns stark und belastend. Hinzu kommt, dass niemand den Reaktionen der Kirchenleitung auf diese Prozesse ausweichen kann. [...] Ein Ende dieses steinigen Weges, den unsere Landeskirche geht, ist nicht in Sicht; und insofern ist es von höchster Bedeutung, dass wir uns nicht nur mit Strukturfragen beschäftigen, sondern darüber reden, wie wir geistlich mit der Situation umgehen [...].«
Die Frage, was es eigentlich wirklich bedeutet, in diesen Regionen in einem geistlichen Beruf zu stehen, spielt sowohl in der Universität als auch in der praktischen Ausbildung im Predigerseminar, wie sie mir begegnet, eine eher untergeordnete Rolle. Die Qualifikationsarbeiten und Aufsätze, die geschrieben werden, untermauern in der Regel eher eine selbstreferentielle Gegenwelt. Wie viele Arbeiten existieren, die wirklich Substantielles für die drängenden religiösen und kirchlichen Fragen der Gegenwart austragen und den der Theologie inhärenten Kirchenbezug insofern realisieren?
Das Theologiestudium ist für mich selbst zu einem kaum auszuschöpfenden Bildungserlebnis geworden. Auch die Alten Sprachen, die exegetischen Methoden und dogmatischen Entwürfe habe ich mir mit Eifer zu erschließen versucht. Wie jedoch individuelles und gemeinschaftliches religiöses Leben entfacht, eigenes Leben bestanden und das Feuer in der Einöde brennend gehalten werden kann, steht auf einem anderen Blatt. Auch ob eine Predigt einen Menschen ins Herz zu treffen vermag, hängt eher von der Einfühlungsgabe und Magie der Prediger_in ab als von deren exegetischer oder dogmatischer Brillanz. Im besten Fall kommt es zu der anzustrebenden Synthesis zwischen theologischer Bildung und persönlicher Wirkungskraft.
Wenn ich die kirchliche Praxis der Gegenwart beobachte, dann vermute ich, dass sie in Zukunft entschlossen experimenteller und projektorientierter werden muss. Wie lange wird man sich z.B. noch regelmäßige Sonntagsgottesdienste mit fünf Besucher_innen ›leisten‹ können? Es wird darum gehen müssen, bestimmte Gruppen und interessierte Einzelne zu rituellen Anlässen mit gezielter Vorbereitung einzuladen und im Geiste Jesu auch unabhängig von einer Taufe und der eigenen religiösen Sozialisation christlich zu vergemeinschaften – mittels des eigenen Charismas und der Vernetzung der Gemeinde am Ort. Liturgien werden sich weiter individualisieren, so wie sich auch die Kasualanlässe weiter auffächern werden – um als Kirche in Verbindung zu bleiben mit den Transformationen der sozialen Lebenswelten. Auch das Verständnis der Abendmahlspraxis wird wohl freier und experimenteller werden: von einer kirchlich-sakramentalen Feier im Sonntagsgottesdienst hin zu gemeinsamen Mahlzeiten im Geiste Jesu – wie es sich längst in diakonischen Initiativen andeutet. In einer Zeit, die früher oder später auf den Zusammenfall des bisherigen Systems der Großkirchen, den Plausibilitätsverlust einer konfessionellen Zugehörigkeit und wenigstens auf die Ergänzung der Kirchensteuer hinausläuft, kommt es darauf an, den kirchlichen Nachwuchs im Fundraising als einer »besonderen Form der Beziehungspflege und Partizipation« professionell auszubilden. Ich vermute, dass die Verbeamtung zunächst in ein Anstellungsverhältnis und später dann in eine freie Anstellung in personal gebildeten und örtlich nur noch grob orientierten Gemeinden umgewandelt werden muss. Das Fundraising für die eigene Stelle und die Projekte der eigenen Gemeinde wird dann wohl auch nicht mehr allein auf der Zugehörigkeit durch Taufe und Wohnsitz aufbauen, sondern auf eine personale Identifikation mit den entsprechenden Projekten setzen müssen.
Die praktische Ausbildung im Predigerseminar ist in Zukunft wohl stärker zu regionalisieren, da die religiöse Landschaft insgesamt zu heterogen geworden ist. Ob Konfirmand_innen noch anmeldebereit sind oder es bisher noch bzw. schon gar keine mehr gibt, ist ein so eklatanter Unterschied für die kirchliche Jugendarbeit, dass allgemeine Richtlinien hierfür oft ins Leere zu laufen drohen.
Im Zuge dieser Transformationsprozesse und des Hineingeworfenseins ins Offene wird auch das Lernen an geistlichen Vorbildern immer entscheidender – gerade, wenn es nach dem Studium und Vikariat in die Wüstenei im Sinne einer religiösen Wildnis und Einsamkeit geht: Wie hast Du Dein Leben geistlich bestanden? Welche Ideen hast Du geboren und welche Ideen hast Du warum verworfen? Dieses Lernen an geistlichen Vorbildern müsste sich wohl von den Dozent_innen innerhalb der Universität und im Predigerseminar hin zu den Mentor_innen im Gemeindevikariat erstrecken. Einzelne Initiativen einer geistlichen Begleitung im Studium gibt es ja bereits. Ich betone diese Wichtigkeit aber nicht nur, weil der geistliche Beruf selbst geistlich genährt werden muss, sondern auch weil ich glaube, dass Menschen in oder außerhalb der Kirche heute in allererster Linie lebendige Gotteserfahrungen suchen. Die heutige religiöse Frage lautet m.E.: Wo finde ich Gott in dieser Welt und wie finde ich Gott in meinem Inneren? Wie werden Welt, Körper, Geist und Seele für ihn transparent? Religiöse Resonanzerlebnisse scheinen mir die Gnade zu sein, nach der von allen Menschen auf eigene Art gesucht wird. Daraufhin gilt es die Tradition des Christentums zu erforschen und darzustellen. Rainer Maria Rilke hat diesen Gedanken 1899 unübertroffen in seinem Stunden-Buch in Worte verdichtet:
»Gott spricht zu jedem nur, eh er ihn macht,
dann geht er schweigend mit ihm aus der Nacht.
Aber die Worte, eh jeder beginnt,
diese wolkigen Worte, sind:
Von deinen Sinnen hinausgesandt,
geh bis an deiner Sehnsucht Rand;
gib mir Gewand.
Hinter den Dingen wachse als Brand,
dass ihre Schatten, ausgespannt,
immer mich ganz bedecken.
Lass dir Alles geschehn: Schönheit und Schrecken.
Man muss nur gehn: Kein Gefühl ist das fernste.
Lass dich von mir nicht trennen.
Nah ist das Land,
das sie das Leben nennen.
Du wirst es erkennen
an seinem Ernste.
Gib mir die Hand.«
Mit diesen rudimentären und durchaus etwas kühnen Andeutungen wäre als Ziel der sehr langen Ausbildung in Universität und Predigerseminar m.E. gesetzt, eine eigene exemplarische religiöse Subjektivität auszubilden und damit einhergehend eine tiefe geistliche Praxis zu finden, welche die eigene Persönlichkeit in den Erfahrungen der Wüstenei ausreichend nährt und andere sehnsüchtige Persönlichkeiten ebenso zu nähren vermag. Alle Ausbildung müsste sich noch viel stärker auf an theologischen Traditionen geschulte Elementarisierungsbewegungen (und im zweiten Schritt auch auf deren Darstellungsformate) konzentrieren: Was bedeutet Dir der Tod und das Ewige Leben? Wo erlebst Du das Reich Gottes? Was ist Dein Evangelium? Es geht im geistlichen Beruf m.E. um nicht mehr und nicht weniger als um Selbstentäußerung. An der eigenen geistlichen Subjektivität agieren andere religiöse Subjekte stellvertretend ihre eigenen Fragen, Resonanzen und Anfechtungen aus. Dafür aber muss man innerlich ausgerüstet sein, um in der Wüstenei mutig, kreativ und beseelt geistlich tätig zu sein.