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Ad fontes - Offene Quellen als Thema der Theologie. Fundamentaltheologische Überlegungen.

Was bedeutet das protestantische Motto ‚zurück zu den Quellen‘ eigentlich für die Möglichkeit einer Open-Source-Theologie? Ist der Quellcode der Theologie, z.B. der biblische Kanon, offen: zugänglich, veränderbar?

Published onJun 14, 2018
Ad fontes - Offene Quellen als Thema der Theologie. Fundamentaltheologische Überlegungen.
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Der Titel reizt zu Rückfragen. Was sind „offene“ Quellen? Wann und für wen sind Quellen (noch) offen, wann und für wen sind sie (noch) geschlossen? Ist der Gegensatz von „offen“ und „geschlossen“ in diesem Fall überhaupt angemessen? Denn eine Quelle im aquarischen Sinn ist üblicherweise nicht offen oder geschlossen, sondern aktiv oder versiegt. Flüsse entspringen an der Quelle, aber diese Quelle speist sich wiederum aus anderen Ressourcen und lässt sich eigentlich nicht fassen. Digitale Quellcodes hingegen basieren auf festen, unveränderlichen Elementen. Die Metapher der offenen Quelle weist über das englische Wort „Open Source“ hinaus auf eine transitorische Dynamik, die dazu anregt, sie in andere Wissensfelder einzuspeisen.

Damit sind wir mitten im Thema. Denn wenn wir gut reformatorisch das Wort Gottes als Quelle der Theologie bestimmen, dann gilt, dass dieses Wort stets in menschlicher und transitorischer Gestalt auftritt, gerade wenn man mit der Barmer Theologischen Erklärung (sowie Jes 40,8, Ps 119,89 etc.) daran festhält, dass es als Wort Gottes „in Ewigkeit bleibt“. Doch gibt es dabei auch so etwas wie einen Quelltext? Und wer hat ihn verfasst? Die Sache ist komplizierter, als sie erscheint.

1. Open Source als Thema der Theologie

Betrachten wir zunächst die englische Wortschöpfung „open source“, die durch Entwicklungen und Bewegungen im IT-Bereich entstand.1 Dabei ging es um technische Lösungen, die als Free Software oder Open Source Software (OSS)2 nicht proprietär verwertet, sondern mit anderen Programmierern oder Entwicklern geteilt wurden, um auf diese Weise einen gesellschaftlichen Nutzen anstelle eines privaten Profits zu erzielen. Computerprogramme sollten nicht nur ausführbar, wie in kommerziellen Versionen, sondern auch lesbar, kopierbar und verbesserbar sein. Der Gedanke der freien Nutzung war dabei kein Gegensatz zum Verkauf von Softwarepaketen, solange die eigenständige Weiterarbeit am Produkt durch den Käufer gewährleistet blieb. Im Zentrum stand also nicht der kostenlose Erwerb des Produkts, sondern die Freiheit der Informationen, die erworben wurden.3

Für die Entstehung der Open Source Communities spielte das Internet eine zentrale Rolle. Aus der Veröffentlichung des Quellcodes des Netscape Navigator entstand am Ende des 20. Jahrhunderts das Mozilla-Projekt als Konkurrenz zum kommerziellen Microsoft (Internet) Explorer. Inzwischen kommt OSS in vielen Anwendungsbereichen zum Einsatz, z. B. in der Ressourcenplanung und im Projektmanagement oder in der Entwicklung von Tools (MindMapping, Groupware etc.) und Analysewerkzeugen (Online Analytical Processing, Data Mining etc.), die auch im wissenschaftlichen Bereich eingesetzt werden (Bioinformatik, Wirtschaftsinformatik etc.).

Das Phänomen „Open Source“ wird oft verbunden mit einem Ansatz, der Probleme und Planungen nicht mehr einheitlich „von oben“ (top-down), sondern vielfältig „von unten“ (bottom-up) erfasst. Netzwerke sollen an die Stelle bürokratischer Organisationen treten. Allerdings ist umstritten, ob Netzwerke mit ihrer Flexibilität ebenso effizient funktionieren, etwa in Koordinationsprozessen, wie zentrale Organisationsformen. Gleichwohl besitzen die entsprechenden neuen Denkmodelle eine hohe Attraktivität, denn sie rücken zentrale Prozesse der modernen Welt in ein anderes Licht. Die Trennung zwischen Arbeit und Freizeit werde hinterfragt, und es entstehe eine neue Arbeitsethik mit Konnotationen wie Leidenschaft, Freiheit, Offenheit und soziale Bedeutung.4 Die Auswirkungen auf klassische Formen der Lohnarbeit, in der die arbeitende Person von der Ausbeutung ihrer Arbeitskraft abhängig bleibt, sind jedoch gering. Zu beachten ist außerdem, dass „offen“ nicht einfach das bezeichnet, was für alle diejenigen, die über die notwendigen materiellen Voraussetzungen (Stromversorgung, Geräte, Netzanschluss) verfügen, zugänglich ist. Es müssen auch bestimmte Kenntnisse und Fähigkeiten im Umgang mit digitalen Medien vorhanden sein.

Inzwischen ist eine Fülle von Publikationen, die sich mit dieser Entwicklung aus verschiedenen Perspektiven befassen, erschienen. Neben technologisch und wirtschaftsinformatisch orientierten Arbeiten,5 gibt es Studien, die soziologische, ökonomische, juristische und medientheoretische Aspekte thematisieren.6 Theologische oder (religions-)philosophische Beiträge sind bisher selten, zeigen aber bereits, dass das Open Source Phänomen als anschlussfähig für ethische Modelle alternativer Gemeinschaftsformen bewertet wird.

So zielt die feministische Theologin Kate M. Ott im Anschluss an Letty Russels Modell der just hospitality – gerechte Gastfreundschaft als Willkommenspraktik – auf eine humanistisch-emanzipatorische Lebenshaltung mit den Leitbegriffen Gerechtigkeit, Offenheit und Inklusivität.7 Demgemäß besteht die Open Source Praktik darin, dass ein immer größer werdender Kreis von Personen zur Teilnahme an Prozessen kreativer Entwicklung eingeladen wird. Dabei geht es offenbar nicht darum, dass alle dasselbe entwickeln, sondern dass man gemeinsam auf ein bestimmtes Ziel hinwirkt. Außerdem habe das Ideal der Generierung neuen, allgemein zugänglichen Wissens durch kreative, mit-teilende Kooperation positive Effekte für Forschung, Netzwerkbildung und Lehre.8

Tatsächlich wird das „Open Source“ Konzept hier einem anderen Modell angeglichen, um damit dessen Relevanz zu untermauern. Dieselbe Strategie, allerdings mit höherer Differenzierung der konzeptionellen Elemente, verfolgt eine Deutung des Open Source Phänomens als Beleg für die Realisierbarkeit des seit einigen Jahren diskutierten Modells einer Theologie der Gabe.9

In beiden Fällen erhält der Terminus „Open Source“ seine Relevanz durch Anschlüsse an die adjektivische Offenheit, während der Begriff bzw. die Metapher der Quelle und die damit verbundenen Implikationen weitgehend unbeachtet bleiben.

2. Die Ausgangsfrage

Vorweg ist eine Klärung erforderlich. Bei dem Wort „Quelle“ handelt es sich um eine beliebte, in neueren Gebeten und Liedern oft verwendete Metapher für Gott und Gottes Wirken. Sie findet sich bereits in alttestamentlichen Texten, in denen Gott als „lebendige Quelle“ (Jer 2, 13; 17, 13) oder „Quelle des Lebens“ (Ps 36, 10) bezeichnet wird. Im Hintergrund steht die Erfahrung der Errettung aus Todesgefahr, die vor die Wahl zwischen Leben oder Tod stellt (Dtn 30). Für die eine Wahl steht dabei die Metaphorik der Quelle, des Wegs und des Lichts, für die andere Wahl steht die Metaphorik des Dürstens und Verdurstens, des Verirrens sowie der Trennung und Vernichtung.10 In heutigen Liedern und Gebeten, die Gott als Schöpfer und Quelle alles Guten preisen, ist der soteriologische Hintergrund der Lebensbewahrung allerdings oft nicht mehr erkennbar.

Im Neuen Testament ist es insbesondere das Johannesevangelium, das die Metaphorik der „Quelle“ und ihre soteriologischen Implikationen aufnimmt. So spricht Jesus in Joh 3,5 von einer notwendigen Neugeburt „aus Geist und Wasser“ und in Joh 7,37-39 von „Strömen lebendigen Wassers“, die von ihm ausgehen und vom Evangelisten auf die Gabe des Geistes gedeutet werden. Der aquarische Bildgehalt rückt dabei in den Hintergrund, während die Wahl zwischen Leben und Tod, zumindest implizit, erneut eine Rolle spielt. Denn den Geist empfangen nicht alle Geschöpfe Gottes, sondern nur die Menschen, die an Jesus glauben.

Das biblische Motiv der Quelle wird in den weiteren Überlegungen nicht eigens thematisiert. Zentral ist vielmehr die Frage nach den Quellen der (systematischen) Theologie. Metaphorische Verbindungen zwischen „Quellen“ der Theologie und der „Quelle des Lebens“ sollen damit aber keinesfalls ausgeschlossen werden.

Fragen wir also genauer: Was sind Quellen der christlichen Theologie und wie offen sind sie?

Das Wesleyanische Quadrilateral geht von vier grundlegenden Faktoren christlich-theologischer Reflexion aus: Schrift, Tradition, Erfahrung, Vernunft. Diese Faktoren stehen nicht einfach nebeneinander, sondern sind vielfach miteinander verbunden und nicht in demselben Maße normativ. Die ersten zwei Faktoren kann man so zusammenfassen: Die Bibel ist als heilige Schrift die verbindliche Grundlage, auf der kirchliche Bekenntnisse als Teil christlicher Traditionsbildung fußen. Diesen Satz sollten die meisten Theologen unterschreiben können. Umstritten, insbesondere zwischen evangelischen und römisch-katholischen Christen, ist dagegen bis heute die Frage der Autorität in der Traditionsbildung.  Der dritte und vierte Faktor beziehen sich zurück auf die ersten beiden Faktoren. Die Schrift wird stets im Rahmen lebensgeschichtlich geprägter Haltungen und Überzeugungen ausgelegt und angeeignet, die Vernunft kommt als Maßstab subjektiver und intersubjektiver Verständigungsprozesse über Schrift, Tradition und Erfahrung ins Spiel.11

Diese Zusammenhänge sollen nun im Gespräch mit klassischen Positionen neuzeitlicher evangelischer (Fundamental-)Theologie genauer beleuchtet werden und in ein Gespräch mit dem Konzept der offenen Quellen gebracht werden. In zwei Abschnitten orientieren wir uns zunächst an den Anfängen der modernen evangelischen Dogmatik, d. h. an Friedrich Schleiermacher. Dabei geht es um den Ort der Theologie sowie das Verhältnis von Schrift und Dogmatik. Anschließend nehmen wir im Anschluss an Paul Tillich die Frage nach den Quellen und Normen der Theologie genauer in den Blick.

3. Der Ort der Theologie

Der nordamerikanische liberal-katholische Theologe David Tracy bestimmt die Aufgaben der Theologie in der pluralistischen Moderne anhand von drei Adressaten oder Öffentlichkeiten: Kirche, Gesellschaft und Wissenschaft. Christliche Theologie orientiere sich nicht nur an der lebendigen Tradition einer Glaubensgemeinschaft, sondern auch an den Bereichen von Technik, Ökonomie, Politik und Kultur sowie an Diskursen und Forschungen zur Förderung wissenschaftlicher Erkenntnisse.12

Tracy weist den ersten Bereich (Kirche) der Systematischen Theologie zu, den zweiten Bereich (Gesellschaft) der Praktischen Theologie und den dritten Bereich (Wissenschaft) der Fundamentaltheologie. Auch wenn kein Theologe und keine Theologin permanent zu jeder Öffentlichkeit reden könnten, sind sie laut Tracy durch die Teilhabe an allen drei Bereichen geprägt und haben sie zumindest implizit stets im Blick.

Eine ähnliche Dreiteilung ist bereits zu Beginn des 19. Jahrhunderts, also in der vor-pluralistischen Moderne bei Friedrich Schleiermacher zu finden.13 In seiner Enzyklopädie Kurze Darstellung des theologischen Studiums unterteilt Schleiermacher das Fach in historische, philosophische und praktische Theologie. Trotz der Wandlungen des Wissenschaftsbetriebs und offensichtlicher Unterschiede im Blick auf die praktische Theologie, die bei Schleiermacher auf den Kirchendienst und das Kirchenregiment konzentriert ist, bleiben viele Gemeinsamkeiten mit Tracy: So umfasst die historische (Schleiermacher) bzw. systematische (Tracy) Theologie den Bereich der Dogmatik und steht damit nahe an der kirchlichen Lehr- und Bekenntnistradition. Die philosophische Theologie (Schleiermacher) bzw. Fundamentaltheologie (Tracy) bezieht sich auf andere wissenschaftliche Fächer, ohne dabei ihre Bindung an grundlegende christliche Bestimmungen aufzugeben. Und wie Tracy bietet auch Schleiermachers Ansatz eine (bis heute intensiv diskutierte) Vermittlung der kirchlichen und der wissenschaftlichen Aufgabe der Theologie.

Bekanntlich definiert Schleiermacher Theologie als positive Wissenschaft, die sich der „Lösung einer praktischen Aufgabe“14 widmet. Sie vermittelt bestimmte Kenntnisse und Techniken, die für die „zusammenstimmende Leitung“15 einer christlichen Kirche notwendig sind. Die Leitungsaufgabe ist nicht dirigistisch zu verstehen16 und betrifft nicht nur Konsistorien oder Landeskirchenämter, sondern jedes Gemeindemitglied, das in einem Leitungsgremium mitwirkt. Die Einheit der Theologie kommt dabei durch die gemeinsame Beziehung aller theologischen Teildisziplinen auf eine historisch existierende „Glaubensweise“ und eine „bestimmte Gestaltung des Gottesbewußtseins“17 zustande.

Als positive Wissenschaft hat die Theologie eine kritische und eine normative Funktion. Die dogmatische Theologie dient hauptsächlich der ersten Funktion. Ihre Aufgabe besteht darin, die in einer Kirche aktuell geltende Lehre im Zusammenhang darzustellen.18 Der Begriff „geltende Lehre“19 zeigt, dass es dabei eine Differenz zwischen gültigen und ungültigen Aussagen gibt, die von der Dogmatik abzuwägen sind. Beispiele dafür sind Schleiermachers Umformung der klassischen Zwei-Naturen-Christologie und seine problemgeschichtliche Darstellung zur Trinitätslehre. Die Darstellung des geschichtlichen Stoffs erfolgt allerdings nicht aus einer neutralen Sicht, sondern aus der Perspektive des konstitutiven Prinzips der Theologie. Das Ziel besteht darin, mit Hilfe der genauen Kenntnis der gegenwärtigen Situation „richtig und angemessen“ auf „gesunde“ und „kranke“ Entwicklungen einzuwirken.20 Dabei strebt die Darstellung eine Balance zwischen festen und beweglichen Elementen an; sie ist orthodox, indem sie allgemein Anerkanntes und dessen „natürliche Folgerungen“ affirmiert, doch um der Beweglichkeit des Lehrbegriffs willen berücksichtigt sie ebenfalls heterodoxe Aussagen.21 Diese sind indes zu unterscheiden von den „natürlichen“22 christlichen Häresien, die in der Einleitung zur Glaubenslehre als Doketismus, Nazoräismus bzw. Ebionitismus, Manichäismus und Pelagianismus typisiert werden.23

Um den Wahrheitsanspruch dogmatischer Aussagen zu beurteilen, ist es notwendig, normative Kriterien zu benennen. Darin besteht die Aufgabe der philosophischen Theologie, die auf diese Weise zur kritischen Orientierung der christlichen Lehre beiträgt. Das geschieht durch die Bestimmung des eigentümlichen Wesens des Christentums im Unterschied zu anderen Glaubensgemeinschaften. Die philosophische Theologie nimmt ihren Ausgangspunkt „über dem Christenthum in dem logischen Sinne des Wortes.“24 Dabei geht es aber nicht um einen neutralen Standpunkt außerhalb des Christentums, denn die Bestimmung des eigentümlichen Wesens impliziert bereits Urteile über den „Entwicklungswerth der einzelnen Momente“ der Geschichte des Christentums sowie über „Gesunde[s]“ und „Krankhafte[s]“25.

In der Glaubenslehre setzt Schleiermacher die Richtlinien seiner Enzyklopädie um, indem er der dogmatischen Darstellung „Lehnsätze“ aus der Ethik (zum Begriff der Kirche), aus der Religionsphilosophie (zur Verschiedenheit frommer Gemeinschaften) und aus der Apologetik bzw. philosophischen Theologie  (zum Wesen des Christentums) vorschaltet.26 Diese resultieren in der bekannten Definition, das Christentum sei eine „monotheistische Glaubensweise“ und unterscheide sich von anderen solchen Glaubensweisen „wesentlich“ dadurch, dass „alles in [ihr] bezogen wird auf die durch Jesum von Nazareth vollbrachte Erlösung.“27 Ferner sei die einzige Art, „an der christlichen Gemeinschaft Antheil zu erhalten“28, der Glaube an Jesus als den Erlöser.

Die Bestimmung der Theologie in der Einleitung zur Glaubenslehre gehört noch nicht zur Dogmatik, sie ist aber gleichwohl ein Stück theologischer Praxis und keine vor-theologische Bestimmung zur Sicherstellung des wissenschaftlichen Status der Theologie. Sie grenzt sich ab von einer rationalen Theologie als spekulativer Wissenschaft, die zwar auf „Gott“ bezogen wäre, dabei aber weder den funktionalen noch den geschichtlichen Aspekt berücksichtigte.29 Von einer „Auslieferung“ der Theologie an einen „allgemeinen Wissenschaftsbegriff“30 sollte man daher nicht sprechen. Mit der Bestimmung des Wesens des Christentums als Beziehung aller Glaubenssätze auf die durch Jesus vollbrachte Erlösung formuliert Schleiermacher eine ebenso markante wie eigenständige theologische Norm. Die Evaluation christlicher Lehre im Licht dieser Norm wird nicht an andere Wissenschaften delegiert, sondern bleibt die gemeinsame Verantwortung der dogmatischen und der philosophischen Theologie.31

4. Die Aufgabe der Dogmatik und die Stellung der Schrift

Die Aufgabe der Dogmatik besteht für Schleiermacher in der „logisch geordneten Reflexion“32 christlich-frommer Gemütszustände, wie sie sich in Glaubenssätzen darstellen.33 Dogmatische Sätze sind ebenfalls Glaubenssätze, doch sie unterscheiden sich von den Sätzen christlicher Verkündigung und Dichtung durch ihren darstellend belehrenden Charakter, sowie durch das Bestreben, einen möglichst hohen Grad an Bestimmtheit zu erzielen.34 Dogmatische Sätze haben zudem einen kirchlichen und einen wissenschaftlichen Wert. Der kirchliche Wert besteht im Bezug auf die frommen Gemütszustände und vor allem diejenigen „Lebensmoment[e]“, in denen das „höhere“ Selbstbewusstsein und die unterschiedlich ausgeprägte „Beziehung auf Christum als Erlöser“ den bestimmenden Faktor bilden.35 Der wissenschaftliche Wert besteht in der begrifflichen Bestimmtheit und gedanklichen Kohärenz sowie der „Fruchtbarkeit“36 im Hinblick auf eine sinnvolle Gesamtsystematik.

Entsprechend der Wesensbestimmung des Christentums betrachtet die Dogmatik alle Lehraussagen in der Perspektive des Glaubens an Jesus und die in ihm vollbrachte Erlösung. Der christliche Charakter dogmatischer Sätze entsteht durch die Übereinstimmung mit dem Neuen Testament.37 Der spezifisch evangelische Charakter wird durch die Differenz zum römischen Katholizismus ermittelt.38

Im Lehrstück von der Heiligen Schrift entfaltet Schleiermacher diese Überlegungen. Zunächst betont er, dass die Schrift nicht als Begründung des Glaubens an Christus verstanden werden solle. Vielmehr müsse der Glaube bereits vorausgesetzt werden, damit der Schrift ein besonderes Ansehen zugesprochen wird. Die im Protestantismus gebräuchliche Rede von der Schrift als „Quelle“ des Glaubens sei missverständlich und bedürfe der Differenzierung. Sie ist laut Schleiermacher angemessen, wenn man den Begriff des Glaubens nicht als ein durch die Schrift hervorgerufenes Ursprungsgeschehen, sondern als Hinweis auf geschichtlich existierende Glaubensweisen innerhalb der christlichen Gemeinschaften versteht. Gründete der Glaube auf das äußere Ansehen der Schrift, dann müsste dieses Ansehen mit Gründen der Vernunft erwiesen werden. Das würde jedoch zu unzulässigen Abstufungen innerhalb der Glaubensgemeinschaft führen; diejenigen Personen, die für den „kritischen und wissenschaftlichen Verstandesgebrauch“ weniger begabt sind, würden ihren Glauben „nur aus der zweiten Hand“ aufgrund der Autorität der „Sachkundigen“ empfangen, aber das widerspräche dem evangelischen Verständnis von der „Gleichheit der Christen“ im Hinblick auf den „eigentlich selig machenden Glauben“39 Außerdem wäre es dann möglich, nur durch die Anerkennung der Schrift, ohne das Bewusstsein der „Erlösungsbedürftigkeit“ und damit ohne „Buße und Sinnesänderung“, zum Glauben zu gelangen, und das sei nicht der lebendige Glaube in der „wahren Lebensgemeinschaft mit Christo“. Entscheidend für die Autorität der Schrift ist also nicht ihre äußere Beschaffenheit, sondern ihre den Glauben weckende Bezeugung des unmittelbaren Eindrucks der „geistigen Wirkungen Christi“, und daher bezeichnet Schleiermacher die Schrift auch als „auf uns gekommene Predigt“.40 Problematisch ist an dieser Stelle allerdings die Beschränkung des glaubenden Umgangs mit der Schrift auf den Akt des Lesens, ohne Berücksichtigung des Hörens des Schriftworts in der Verkündigung.

Die „heiligen Schriften des Neuen Bundes“ sind für Schleiermacher das „erste Glied“41 und die Norm aller Darstellungen des christlichen Glaubens. Schleiermachers Beschränkung auf das Neue Testament gründet in der damaligen Unkenntnis der komplexen Geschichte der Entstehung des Christentums innerhalb des „formativen Judentums“ (J. Neusner) sowie in einem hierarchischen Modell der Religionsgeschichte.42 Demnach bilde das Christentum die höchste Stufe der drei monotheistischen Glaubensweisen. Menschliche Frömmigkeit habe in der lebendigen Gotteserkenntnis Christi und der stetigen Kräftigkeit und Dominanz seines Gottesbewusstseins in allen Lebenssituationen, d. h. seiner sündlosen Vollkommenheit,43 ihren Höhepunkt und ihr endgültiges Ideal erreicht. Die Dogmatik habe daher ‚jüdische‘ und ‚heidnische‘ Vorstellungen und Maximen möglichst umfassend auszuscheiden, da sie einen „verunreinigenden Einfluss“ ausübten und im „Widerspruch […] gegen den christlichen Geist“, der seinen Ursprung im „Geist des Lebens und der Lehre Christi“44 hatte, stünden.45

Von daher gelangt Schleiermacher zu einer Bejahung der Lehre von der Inspiration des Neuen Testaments und dessen Kanonisierung, insofern es sich bei diesen Prozessen um einen Teil der apostolischen Wirksamkeit bildete: „Das Reden und Schreiben der vom Geist getriebenen Apostel war […] ein Mittheilen aus der göttlichen Offenbarung in Christo.“46 Dieser Vorgang könne indes nicht wissenschaftlich rekonstruiert werden, und daher gelten für die „heiligen Bücher“47 dieselben hermeneutisch-kritischen Regeln wie für  alle anderen Texte.

Neben seiner Funktion als Maßstab des christlichen Glaubens ist das Neue Testament die zureichende „Norm für die christliche Lehre“48. Dabei hat Schleiermacher einerseits die Einwirkung der apostolischen Schriften auf die Bildung christlicher Leitgedanken und Zweckbegriffe, andererseits die Formgebung „für unsere religiöse Gedankenerzeugung“ im Blick. Das Neue Testament sei der „regelgebende Typus“ dieser Produktionen, an dem jede von der Wirksamkeit des Geistes durch die Schrift unabhängig entstandene „Gedankenerzeugung“ zu prüfen sei, und bemerkenswerterweise setze auch die wissenschaftlich-systematisierende Glaubensdarstellung voraus, dass die Autoren und Autorinnen sich dem „in der Schrift wirksamen Geist [als] Organe“ zur Verfügung stellen.49 Insgesamt bewährten dogmatische Sätze sich durch die Zurückführung ihres Gehalts auf das Neue Testament und durch die Zusammenstimmung ihres „wissenschaftlichen Ausdrukks mit der Fassung verwandter Säze.“50

Insgesamt entwirft Schleiermacher ein differenziertes Bild der Dogmatik, das durch seine Sensibilität für die theologische Verantwortung gegenüber der kirchlichen und wissenschaftlichen Öffentlichkeit auch heute noch relevant ist. Dabei weist er der Schrift eine phänomenologische Rolle als „Quelle“ des Glaubens zu. Das Wort „Glaube“ bezeichnet kein durch die Schrift hervorgerufenes Ursprungsgeschehen, sondern bezieht sich auf geschichtlich existierende Glaubensweisen und Gemeinschaften, in denen die Schrift kontinuierlich als „Quelle“ zur Orientierung im Glaubensleben dient. Außerdem bezeichnet Schleiermacher die Schrift – gut evangelisch – als Maßstab und Norm christlicher Lehre.

5. Quellen, Medium und Norm der systematischen Theologie

Zu den Vorzügen von Paul Tillichs Entwurf gehört seine Differenzierung zwischen Quellen und Normen der systematischen Theologie.

Die Grundlage christlicher Theologie als Ganzer ist für Tillich, wie für Karl Barth, die christliche Verkündigung, die er als „Substanz“ und „Kriterium“ theologischer Aussagen bezeichnet.51 Deren „Botschaft“ ist stets lokalisiert in einer „Situation“, die durch „das schöpferische Selbstverständnis“ der menschlichen Existenz und gesellschaftliche Umstände geprägt ist; die theologische Reflexion gilt dem durch diese Umstände hervorgebrachten „geistig-kulturellen Gesamtausdruck“ und dessen Deutungen.52

Als besonderen methodischen Ort nennt Tillich den theologischen Zirkel, durch den sich die Theologie als Wissenschaft von einem nur empirisch-induktiven oder metaphysisch-deduktiven Verfahren unterscheidet. Zu diesem Zirkel gehören vier Faktoren: individuelle Erfahrung, traditionelle Wertungen, das persönliche Bekenntnis und die „konkrete Überzeugung“ des Theologen und der Theologin als „Glied der christlichen Kirche“53. Eine Person befindet sich innerhalb des theologischen Zirkels, wenn sie die christliche Botschaft als ihr letztes Anliegen erkennt und anerkennt.54

Alle theologischen Sätze müssen daher ihren Gegenstand so erfassen, dass dieser „über unser Sein oder Nichtsein entscheidet.“55 Dieses Sein umfasst „das Ganze der menschlichen Wirklichkeit, die Struktur, den Sinn und das Ziel der Existenz“, die entweder „verloren gehen“ oder „gerettet werden“56. Während die Philosophie sich mit der Gestalt des „Seins an sich“ befasst, widmet die Theologie sich der Frage nach dem „Sinn des Seins für uns.“57 Der Bezug auf die Alternative von Sein oder Nichtsein impliziert, dass die Theologie (nicht nur, aber auch) ontologisch denken und fragen muss, um der Wirklichkeit gerecht zu werden. Anders als im Fall der Philosophie ist ihre Erkenntnisquelle – auch in ihrer Antwort auf ontologische Fragen – aber kein universaler Logos, sondern der Logos, der ‚Fleisch wurde‘ und sich in einem bestimmten historischen Ereignis offenbarte.58

Die besondere Aufgabe der systematischen Theologie besteht für Tillich darin, den christlichen Glauben nicht nur auszulegen – das ist die Aufgabe aller theologischen Disziplinen – sondern dessen Inhalte zu erklären, auch zur kritischen Prüfung des kirchlichen Selbstverständnisses. In drei Abschnitten erläutert Tillich sodann (1) die Quellen der systematischen Theologie, (2) das Medium, durch das sie aufgenommen werden und (3) die Norm, nach der sie verwendet werden.

(1) Zu den Quellen rechnet Tillich zuerst und grundlegend die Bibel, wobei er mit einem weiteren und einem engeres Schriftverständnis operiert. Als Altes und Neues Testament enthält die Bibel das ursprüngliche Zeugnis von Menschen, die am Offenbarungsgeschehen partizipierten. Speziell als Neues Testament dokumentiert sie das Zeugnis und derjenigen Personen, die am Geschehen der endgültigen Offenbarung und damit am Urereignis des christlichen Glaubens teil hatten. Dieses Geschehen wird die „Erscheinung des Neuen Seins in Jesus als dem Christus“59 genannt. Durch die Annahme der endgültigen Offenbarung wurden diese Zeugen und ihr Zeugnis ein Teil dessen, das sie bezeugten. Gemeinsam mit anderen Disziplinen der historischen Theologie erschließt die existentiell verfahrende biblische Theologie die Bibel der systematischen Theologie. Dabei warnt Tillich vor einer Gleichsetzung der Bibel mit dem Wort Gottes, betont aber zugleich, dass die Bibel durch die Rezeption der Zeugen an der Offenbarung und damit am Wort Gottes teil hat.60

Eine umfangreichere Quelle ist die Religions- und Kulturgeschichte, beginnend mit der Sprache und der sozial-kulturellen Prägung des Theologen und der Theologin. Dabei kommt den in Kultur und Religion angelegten existentiellen Fragen eine herausragende Stellung zu, denn die Theologie solle auf diese Fragen eine Antwort geben.

(2) Das Medium für die Vermittlung der Quellen ist die Erfahrung, welche die Quellen zum Sprechen bringt. In Abgrenzung zu Schleiermacher und der lutherischen Erfahrungstheologie (J. C. K. Hofmann, F. H. R. Frank) meint Tillich, systematische Theologie könne ihre Inhalte nicht einfach aus dem frommen Bewusstsein oder der Wiedergeburt ableiten. Denn das Ereignis, auf das der Glaube gründe, sei „nicht aus der Erfahrung abgeleitet“, sondern „gegeben in der Geschichte“: Jesus (als) der Christus. Die Erfahrung ist also nicht selber die Quelle, sondern immer Medium, durch das die Inhalte der systematischen Theologie „existentiell empfangen werden“61. Als Medium ist sie immer wieder an dem einzigartigen Inhalt oder Grund des Glaubens zu messen. Das „Ereignis“ Jesus (als) der Christus bleibt daher „in seiner Konkretheit die Norm für jede religiöse Erfahrung“62.

(3) Von daher bestimmt Tillich auch die Norm der systematischen Theologie. Dabei setzt er andere Akzente als die reformatorische und die liberale Theologie. Denn den modernen Menschen bewege nicht die Frage nach dem gnädigen Gott und der Vergebung der Sünden (Reformation) oder nach der religiösen Persönlichkeit und der Christianisierung von Kultur und Gesellschaft (liberale Theologie), sondern die Frage der Selbstentfremdung und ihrer Überwindung, also die Frage der Wirklichkeit der Versöhnung und Wiedervereinigung, der schöpferischen Kraft, des Sinns und der Hoffnung, d. h. des ‚Neuen Seins‘. In der Affirmation der Offenbarung dieses ‚Neuen Seins‘ in Jesus (dem) Christus folgt er der Reformation, in der Differenzierung zwischen der Bibel als Quelle und Jesus (dem) Christus als Norm der Theologie folgt er der modernen evangelischen Theologie. Die Bibel ist demnach nicht selbst die Norm, sondern sie verdankt ihre Normativität der Botschaft, die den Inhalt der Norm oder die materiale Norm darstellt. Die Herleitung der materialen Norm aus der Bibel geschieht dabei in der Begegnung von Kirche und biblischer Botschaft.63

Tillich nimmt also eine zweifache Unterscheidung vor: erstens zwischen Quelle und Norm und zweitens zwischen der Norm und ihrem Inhalt, den er mit dem Grund des Glaubens identifiziert. Doch hinsichtlich der Bibel als „Quelle“ und ihrem Verhältnis zur theologischen „Norm“ bleiben gewisse Unklarheiten. Die Bibel ist einerseits die Grundlage der normierenden Botschaft, andererseits verleiht diese Botschaft der Bibel erst ihren besonderen Rang, ihre Normativität. Tillich betont weiterhin, dass die Erfahrung der Kirche in der Begegnung mit der Bibel keineswegs den Inhalt der Norm, d. h. die biblische Botschaft, hervorbringe. Die Erfahrung der Kirche sei vielmehr, wie jede Erfahrung, das Medium, mit dem die Botschaft aufgenommen und ausgelegt werde.

Die zentrale Frage lautet also: Was macht die Norm zur Norm?64 Ist es ihr „Inhalt“ oder die „Erfahrung“ des Inhalts oder beides zugleich? Hier wäre genauer zu differenzieren zwischen Inhalt und Grund der Norm. Tillich betont ja, dass der Grund des Glaubens – und damit auch der Botschaft – gegeben und damit vorgegeben ist. Der Inhalt der Norm mag aus der Begegnung von Kirche und Bibel entstehen, wenn die „Situation“ von der „Botschaft“ getroffen wird. Doch der Grund der Norm liegt dieser Begegnung stets voraus. Wären Inhalt und Grund identisch, dann läge es nahe, die Bibel als solche aufgrund ihres schriftlichen Inhalts zur Norm zu erklären. Doch Tillich zielt gerade darauf, dass die Bibel für die Dogmatik in indirekter Weise normativ ist. Sie ist nicht selber die Quelle des Lebens, sondern bewahrt das Zeugnis von dieser Quelle. Mit Barth gesprochen ist sie als geschriebener Hinweis auf das gehörte Wort Gottes das besondere Zeichen des Zeichens Jesu Christi oder das Zeugnis des Zeugnisses der Propheten und Apostel. 65

6. Zum Abschluss

Kehren wir zurück zum Ausgangspunkt. Das Wesleyanische Quadrilateral benennt vier Faktoren theologischer Lehre: Schrift, Tradition, Erfahrung und Vernunft. Handelt es sich dabei um vier „Quellen“? Unsere Darlegungen legen nahe, dass diese Redeweise zu undifferenziert bleibt.

Wichtig ist außerdem, ob man das Wort „Quelle“ im weiten, beschreibenden Sinn, wie Tillich, oder im engen, normativen Sinn versteht. Im ersten Fall ist die Bibel die erste, aber nicht die einzige „Quelle“, denn auch der Religions- und Kulturgeschichte kommt eine wichtige Rolle zu. Darin liegt trotz der benannten Unklarheiten eine Stärke, da die Rede von der Schrift als „Quelle und Norm“ zu einer Identifizierung von Schrift, Dogmatik und Offenbarung führen kann. Tillich hält ja daran fest, dass der Schrift eine vorrangige Rolle in der Bestimmung der theologischen Norm zukommt. Und auch Barth betont, gegen jeden Biblizismus, dass der Schrift die normative Funktion nicht aus eigener Kraft zukomme. Normierend ist nicht die Schrift als solche, sondern das von ihr dargebotene Zeugnis von Gottes Offenbarung in Jesus Christus.66 In diesem Sinn ist sie der Maßstab der christlichen Verkündigung.67 Zusammenfassend gesagt: Jesus Christus selbst in der Kraft seines Heiligen Geistes ist die Quelle, die Schrift ist aufgrund ihres Zeugnisses von Jesus Christus das Kriterium der Gotteserkenntnis und damit auch Kriterium wahrer theologischer Rede von Gott.68 Tillichs Position, einschließlich seiner Bestimmung der Erfahrung als Medium, durch das die „Quelle“ zu uns spricht, ist mit dieser Grundüberzeugung Barths durchaus vereinbar.

Für Barth besteht die Aufgabe der Dogmatik in der kritischen Prüfung der Übereinstimmung zwischen der Verkündigung des Evangeliums in menschlichen Worten und der in der Schrift bezeugten Offenbarung Gottes. Diese Übereinstimmung nennt er das „Dogma“, das aber kein Lehrsatz, sondern die bestimmende Mitte aller dogmatischen Sätze ist. Als eschatologischer Begriff bleibt es grundsätzlich unterschieden von der Offenbarungswahrheit.69 Wie die Verkündigung kann daher auch die Dogmatik die Wirklichkeit, auf die sie hinweist, nicht direkt beschreiben; sie nimmt keinen Standpunkt „oberhalb von Verkündigung und Bibel“70 ein. In beiden Fällen bleibt das Kriterium theologischer Wahrheit der menschlichen Verfügungsgewalt entzogen.71 Ähnliches gilt für die Schrift. Als hybrider Kanon72 ist sie nicht unmittelbare, sondern vermittelte Norm und daher nicht norma normans, wie im klassischen Protestantismus, sondern norma normata.73 Zwischen Zeugnis und Bezeugtem bleibt eine generische und nicht nur spezifische Differenz. Es gibt keinen Begriff, in welchem „Zeugnis und Bezeugtes wie unterschiedliche Arten einer identischen Gattung zusammengefasst werden können.“74 Die Abweisung der Zusammenfassung im Begriff impliziert jedoch keine Unbestimmtheit der Beziehung zwischen Zeugnis und Bezeugtem.

Auch das Bekenntnis zu Jesus (dem) Christus ist demnach nicht der „Quelltext“ selber, sondern eine theologische Regel, wie über die „Quelle“, den auferweckten Gekreuzigten, zu reden ist. Paradigmatisch dafür steht die Pfingstgeschichte, in der nicht alle dasselbe hören, sondern alle die Verkündigung der Apostel verstehen können, „jeder in seiner eigenen Sprache“ (Apg 2,6). Was dabei gesagt wird, bleibt unausgesprochen bzw. ungeschrieben. Die anschließende Pfingstpredigt des Petrus deutet das Geschehene, ohne es zu repetieren.

Diese Relativierungen eröffnen der Theologie einen weiten Raum, in dem ihre Fragen und Antworten zu einem lebendigen Gespräch werden.75 In diesem Sinne sollte evangelische Theologie den Begriff des Open Access stark machen, denn dieser vermeidet den Essentialismus eines feststehenden Quellcodes im Open Source Begriff. Der Ansatz des offenen Zugangs zu den Quellen berücksichtigt dabei drei wichtige Einsichten: a. Das Wort des Evangeliums ist kein theologisches Prinzip, sondern eine Kraft Gottes (vgl. Röm 1,16), die auf die Rettung der Menschen zielt;76 b. die heutigen Adressaten der christlichen Schriftverkündigung sind ein „integrierender Bestandteil des von den neutestamentlichen Schriften bezeugten Ereignisses und somit ein Bestandteil der Schrift selbst“77; c. die Schrift bedarf nicht nur fortwährender Auslegung, sondern hinterfragt auch eingespielte hermeneutische Hierarchien. Die neuere Geschichte der deutschsprachigen evangelischen Theologie legt den Eindruck nahe, dass die akademisch-universitäre Schriftauslegung an die Stelle des römisch-katholischen Lehramts getreten ist und sich zur letzten Instanz des ‚richtigen‘ Bibelverständnisses bzw. der Wahrheitsfrage stilisiert hat. Damit kommt es aber nur zu einer Verschiebung der Autoritäten, und der „Zaun um die Bibel“, den Luther mit seinem kirchenkritischen Beharren auf dem Primat der Schrift eigentlich abbauen wollte, bestünde immer noch.78

Der hier favorisierte Ansatz betont daher das Recht aller Glaubenden, ihre „geschöpflichen intellektuellen wie emotionalen Potentiale für die Bibelauslegung fruchtbar werden zu lassen.“79 Daraus folgt die weitere Aufgabe, nicht nur wohlwollend – ob als kirchliches Leitungsorgan oder theologische Fachperson – für, sondern mit den Benachteiligten zu sprechen und die Bibel zu lesen.80 Erst die Kontextualisierung biblischer Texte im täglichen Leben der Rezipienten führt das reformatorische Schriftverständnis an sein Ziel. Das gemeinsame Lesen, Sprechen und Hören ist die notwendige Ergänzung der „Bibellektüre der einzelnen Christen“81 und kann zu neuen Einsichten, etwa im Blick auf strukturelle Sünde oder die gesellschaftliche Stellung von Frauen, führen.82 Grundsätzlich geht es um eine neue Begegnung mit biblischen Texten, in welche die komplexe Welterfahrung der Lesenden integriert wird.

Dass diese Praxis im Milieu sozial marginalisierter Gemeinden in Südafrika andere „readings“ hervorbringt als in bürgerlich-volkskirchlichen Milieus Westeuropas, ist zu erwarten. Zugleich kann sie als Korrektiv einer Lektüre biblischer Texte, in der Welterfahrung auf individuelle Befindlichkeiten reduziert wird, dienen. Dann ist z. B. die Gerichtsrede von Mt 25, 31–46 nicht mehr nur ein „Gleichnis der Ambivalenz menschlicher Identität“83, sondern ein Text, der den christlichen Glauben im Bereich des Sozialen ansiedelt, wie es die traditionelle Rede von den Werken der Barmherzigkeit immerhin geahnt hat, auch wenn sie die Thematisierung sozialer Kämpfe eher vermieden hat.

Zugleich mahnt der Ansatz des offenen Zugangs zu den Quellen zur Wachsamkeit. Spätestens seit den Veröffentlichungen von WikiLeaks und von Edward Snowden wissen wir, dass mit dem „digitalen Zeitalter“ nicht nur Aufbrüche zur Demokratisierung und größeren Transparenz von Wissens- und Erkenntnisprozessen, sondern auch immense Möglichkeiten der Manipulation dieser Prozesse einhergehen. Seit dem 11. September 2001 bringen anhaltende gravierende Einschränkungen von Freiheits- und Grundrechten gerade in westlichen Gesellschaften den „Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit“ (Hegel) zum Stillstand. Umso dringlicher stellt sich die Aufgabe, darauf zu achten, dass ‚die‘ Theologie nicht nur einer kleinen kirchlichen oder akademischen Elite gehört.84

Bibliographie

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Comments
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Adventskalender
Thomas Renkert:

Erinnert mich stark an Derridas "Kette der Supplemente”. Ist das “einfacher zu sagen” im Sinne von Hypothesenökonomie, also Ockhams Rasiermesser, oder ist es (auch) ein autoritativ-autoritärer Spielzug? Und wenn ja, worin ist er begründet?

Rasmus Nagel:

Ist die Schrift selbst das Zeugnis? Oder ist das Zeugnis in der Schrift? Das klingt wie eine andere Formulierungsverschiebung im 20. Jh., dass die Schrift nicht selbst das Wort Gottes sei, sondern das Wort Gottes in der Schrift zu finden ist. Und wenn die Schrift weder einfach identisch mit dem Wort Gottes noch mit dem Zeugnis von ihm ist - wie verhalten sich dann Wort Gottes und Zeugnis in der Schrift?

Oder wäre es nicht einfacher zu sagen, die Schrift ist das Zeugnis von dem in ihr enthaltenen Wort Gottes = Jesus Christus?

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Daniel Reinders:

Die Geschichtswissenschaft steht mit ihrer grundlegenden Methode der Quellenkritik ebenfalls gerne bereit, um Quellen zu beleuchten und zu hinterfragen.

Der Begriff der „Quelle“ wird mir im gesamten Aufsatz zu wenig bzw. nicht abschließend genug geklärt. Was ist „eine Quelle“, wenn es schon so allgemein formuliert wird? Und: Haben wir nun eine Vielzahl theologischer Quellen (wie es manche Passagen im letzten Abschnitt des Textes zu vermuten geben; Vgl.: „Der Ansatz des offenen Zugangs zu >den Quellen< […].“), oder am Ende nicht doch die eine Quelle in unserem theologischen Code implementiert, nämlich den in der Schrift offenbarten und bezeugten Jesus Christus?

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Daniel Reinders:

„Benachteiligten“ bedarf einer genaueren Definition.

Meiner Meinung nach besteht, insb. durch die direkte Gegenüberstellung mit dem „kirchliche[n] […]Organ oder theologische[r] Fachperson“, die Gefahr, dass hier die alte Trennung zwischen Laien und Klerus wieder entflammt, die zum Glück überholt war.

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Maria Nisbach:

Kann jeder Gläubige die Quellen der Theologie angemessen nutzen oder gibt es Kenntnisse und Fähigkeiten, die dazu beitragen?

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Dana Buchholz:

“Um den Wahrheitsanspruch dogmatischer Aussagen zu beurteilen, ist es notwendig, normative Kriterien zu benennen. Darin besteht die Aufgabe der philosophischen Theologie, die auf diese Weise zur kritischen Orientierung der christlichen Lehre beiträgt.”

Wo betreiben wir heute philosophische Theologie in der Universität? Wenn Theologie von der Philosophie schon als Metaphysik bezeichnet wird: Können wir dann überhaupt philosophische Theologie betreiben?

“Anders als im Fall der Philosophie ist ihre Erkenntnisquelle – auch in ihrer Antwort auf ontologische Fragen – aber kein universaler Logos, sondern der Logos, der ‚Fleisch wurde‘ und sich in einem bestimmten historischen Ereignis offenbarte.”

Gibt es in der Philosophie einen universalen Logos? Welcher ist das? Ist der Logos, der "Fleisch wurde" dadurch, dass er Fleisch wurde, nicht doch auch wieder universal?

“c. die Schrift bedarf nicht nur fortwährender Auslegung, sondern hinterfragt auch eingespielte hermeneutische Hierarchien.”

Inwieweit wird in der Theologie wirklich zugelassen, eingespielte hermeneutische Hierarchien zu hinterfragen? Gibt es nicht doch bestimmte Grundannahmen/Prinzipien, von denen nicht abgewichen werden "sollte"? Braucht es nicht sogar gewisse hermeneutische Hierarchien, um Aussagen treffen zu können?

“Grundsätzlich geht es um eine neue Begegnung mit biblischen Texten, in welche die komplexe Welterfahrung der Lesenden integriert wird.”

Inwieweit ist dieser Ansatz praktikabel? Soll er in der Kirche oder in der Uni umgesetzt werden? Darf/Soll wirklich jeder auslegen: Wie gehen wir mit Aussagen/ Interpretationen um, die uns fundamentalistisch/menschenrechtsverletzend erscheinen?

Matthias Gockel:
  1. Der Begriff “philosophische Theologie” in diesem Zusammenhang gehört zu Schleiermacher. Es geht dabei um die Aufgabe der Bestimmung des “Wesen des Christentums”. Schleiermacher fragt; Was ist das Besondere an der real existierenden “frommen Gemeinschaft”, die den Namen “Christentum” trägt? Diese Frage ist immer noch aktuell, auch wenn “philosophische Theologie” inzwischen sehr verschieden definiert wird.

  2. Hier geht es um Tillich und die Frage nach dem “Sein”. Ich denke, es gibt Hinweise darauf, dass auch die Philosophie von einem universalen Logos ausgeht. Wobei dann wieder die Frage ist, wie man “Philosophie” definiert.

  3. “Hermeneutische Hierarchien” gibt es sicher auch in dem Sinne, dass die verstehende Person oder Gemeinschaft an den zu verstehenden Text mit bestimmten Voraussetzungen oder Präferenzen im Verstehensprozesses herantritt (z. B. Was ist mir besonders wichtig? Was ist weniger wichtig? Usw.). Meine Kritik richtete sich gegen den Versuch, einen “Zaun um die Bibel” (St. Alkier) zu bauen.

  4. Ja, jeder und jede darf uns soll auslegen! Darin besteht natürlich zugleich das Problem, das du ansprichst. Aber wir sollten dieses Problem nicht beiseite schieben, indem wir immer schon im Voraus wissen, was “fundamentalistisch” usw. ist. Dazu kommt: “fundamentalistische” Auslegungen errichten ebenfalls einen “Zaun um die Bibel”. Inwiefern Aussagen wirklich “menschenrechtsverletzend” sind, wäre im Einzelfall zu prüfen. Hier ist es m. E. wichtig, stark wertende Begriffe sehr vorsichtig zu verwenden.

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Roland Hummel:

Sehr geehrter Herr Gockel,

über einen Mailverteiler des Vereins "Linux User im Bereich der Kirchen" (luki.org) wurde auf Ihren Artikel verwiesen.

Ich habe Ihren Artikel mit großem Interesse gelesen, weil ich mir davon neue systematische Impulse für den Bereich "Digitale Theologie" allg. und auch für eine von mir verfasste Ausarbeitung zum kirchlichen Datenschutz erhoffte ("Kirchlicher Datenschutz im Perspektivwechsel des digitalen Zeitalters nach Snowden", https://doi.org/10.18452/18859 / https://hu.berlin/kdsns ) .

Da es hier noch keine Diskussion zum Artikel gibt, hoffe ich, diese zu eröffnen, ist nicht unerwünscht, obgleich ich nicht das Gefühl habe, das Gesamtanliegen des Artikels vollständig verstanden zu haben. Da ich es aber für sinnvoller halte, eine Diskussion zum spannenden Thema zu beginnen (und dabei hoffentlich auch offene Fragen zu klären) als zu schweigen, folgen nun meine (eventuell provokanten) Gedanken zum Artikel, die wie gesagt durchaus dem Umstand geschuldet sein können, dass ich hier und da den Artikel nicht verstanden habe.

1. Dafür, dass zumindest in der Unterüberschrift mit "Open-Source-Theologie" mit "Open Source" ein bedeutendes digitalpolitisches Thema angekündigt wird, scheint mir dessen Verzahnung mit dem überwiegenden Teil des Artikels zu gering, denn der Begriff wird nur im ersten Kapitel und danach noch einmal am Ende erwähnt. Problematisch finde ich, dass "Open Source" am Anfang zudem mit "Freier Software" in einen Topf geworfen wird, was vielleicht praktisch keine Relevanz hat, aber mir Kontext des ansonsten hoch wissenschaftlichen Artikels zu ungenau ist (denn Offenheit und Freiheit müssen nicht unbedingt das Selbe meinen, was sich schon daran zeigt, dass es beide Begriffe gibt und diese ja durch einen Disput entstanden sind, der Offenheit und Freiheit unterschiedlich priorisiert - der originäre ist jedenfalls "Freie Software" und aus Sicht derer, die die Bewegung für Freie Software (fsf.org) und damit hinter allem, was heute als "Open Source" bezeichnet wird, gegründet haben, ist "Open Source" kein Begriff, der dem Anspruch an das eigentliche Ziel (Freiheit) gerecht wird, eher im Gegenteil). Die Erwähnung des Begriffs am Ende läuft auf ein für mich unklares Votum hinaus: "Diese Relativierungen eröffnen der Theologie einen weiten Raum, in dem ihre Fragen und Antworten zu einem lebendigen Gespräch werden. In diesem Sinne sollte evangelische Theologie den Begriff des Open Access stark machen, denn dieser vermeidet den Essentialismus eines feststehenden Quellcodes im Open Source Begriff." - Der Begriff "Open Access" sollte also deswegen stark gemacht werden, weil (so lese ich den Satz) der Open Source-Begriff von einem "feststehenden Quellcode" ausgeht? Das kann doch so nicht gemeint sein, denn der Quellcode ist ja bei Open Source (so wie es allgemein verstanden wird) gerade nicht "feststehend" (er kann es in der Kritik der Bewegung für Freie Software zwar sein, weil es durchaus Softwareprojekte gibt, die Einsicht in den Quelltext erlauben, aber keine Freiheit gewähren, ihn beliebig verteilen/verändern/verwenden zu dürfen, was im Kern auch die wesentliche Kritik am Begriff "Open Source" seitens der FreeSoftware-Bewegung ist - ich glaube aber nicht, dass der Artikel diesen Unterschied im Blick hatte, denn dann hätte er die Begriff nicht synonym eingeführt).

2. Desweiteren hinaus muss ich ehrlich zu geben, nicht verstanden zu haben, was die Exkurse um Schleiermacher, Tillich & Co in Bezug auf den angekündigten Begriff und die Frage nach der Bedeutung "Open-Source-Theologie" austragen sollen. Wenn Sie zudem kurz vor der Darstellung von Schleiermacher und Tillich schreiben: "Fragen wir also genauer: Was sind Quellen der christlichen Theologie und wie offen sind sie?" und am Ende darauf hinaus wollen, dass "offener Zugang" (Open Access) wichtiger sei als "offene Quelle", dann frage ich mich, warum dies in der Unterüberschrift nicht besser mit "Open-_Access_-Theologie" thematisiert wurde.

4. In meinem aktuellen Verständnishorizont vereinnahmt der Artikel für mich zu sehr einen informationstechnischen Begriff für ein kirchen- und bildungspolitisches Thema, mit dem der Artikel endet:

"Umso dringlicher stellt sich die Aufgabe, darauf zu achten, dass ‚die‘ Theologie nicht nur einer kleinen kirchlichen oder akademischen Elite gehört." - Und genau zu diesem Punkt hätte ich mir inhaltlich eine ausführlichere Diskussion gewünscht, bspw.: Was kann (Digitale) Theologie zur Problematik einer digitalen Welt (die alle Lebensbereiche menschlichen Daseins bestimmt, so auch die Theologie) beitragen, die zunehmend nicht mehr durch "die User" kontrolliert wird, sondern durch eine immer schwerer zu identifizierende Elite?

Nun muss ein Artikel nicht meine Erwartungen bedienen. Auch finde ich es durchaus spannend, zu fragen, was (offene) digitale "Kreationsprozesse" zu theologischen Disziplinen beitragen können, was mir aber bei dieser Herangehensweise nicht einleuchtet ist Folgendes: Wenn es dem Artikel entsprechend des Abschlussvotums darum geht, theologische Betrachtungsweisen _außerhalb_ des Kreises einer "akademischen Elite" Bedeutung zu verleihen, warum konzentriert er sich mit allen wesentlichen Inhalten so sehr auf (durchaus berechtigte) Probleme _innerhalb_ der Theologie (wie die "Kontextualisierung biblischer Texte im täglichen Leben der Rezipienten", womit ja eine mittlerweile deutliche Minderheit adressiert ist und kaum der überwiegende Teil der (digitalen) Gesellschaft)?

Herzliche Grüße und in jedem Fall vielen Dank Ihren digital-theologischen Artikel, ggf. auch für eine Diskussion desselben

Roland Hummel