Nico Ballmann ist Pfarrer in Köln-Bickendorf. Mit einem Stellenanteil von 25%, ist der Pfarrer für digitale Kirche im Kirchenkreis Köln-Nord. Nico Ballmann ist Mitglied im EKD-Netzwerk der Sinnfluencer:Innen „Yeet“ und Mitglied im ökumenischen Content-Netzwerk „Ruach.Jetzt“. Unter @einschpunk bietet er verschiedene Innovative Glaubensformate, digitale Seelsorge und geistlichen Input auf Instagram an.
Die Frage, ob es so etwas wie Gemeinschaft oder ein Gefühl von Gemeinschaft im Netz geben kann, ist einfach zu beantworten: Ja. Es gibt sie und es gab sie schon seit Beginn dessen, was wir heute als „digitale Kirche“ beschreiben. Dazu ist festzuhalten, dass die Erscheinungsform einer Netzgemeinde, die sich selbst den Hashtag #digitalekirche gegebene hat, keine Neuerfindung ist, die im Zuge eines Copingmechanismus innerhalb der Corona-Pandemie entstanden ist, sondern die schon länger existiert. Genau genommen, seit es ein paar Menschen gab, die im Internet ihr „Christ-Sein“ miteinander geteilt und gelebt haben. Mag dies noch in Zeiten vor den großen sozialen Netzwerken wie MySpace (der Vorgänger der uns heute bekannten sozialen Netzwerken), Facebook und Co., noch in Form von Homepages, Foren oder Blogs geschehen sein, so lässt sich doch festhalten, dass der persönliche Glaube schon sehr früh mit ins Digitale gewandert ist.
Aufgrund der Erfahrungen der vergangenen Jahrzehnte und Tausenden von Menschen, die regelmäßig an spirituellen Onlineangeboten partizipieren1, lässt sich sicher sagen, dass Gemeinschaft online sehr wohl zu finden ist und wie selbstverständlich nicht nur im christlichen Kontext erfahren wird.2
Was die Qualität dieses Gemeinschaftsgefühls betrifft, mögen sich die Dynamiken im Vergleich zu kohlenstofflichen Gemeinschaftserlebnissen sehr wohl unterscheiden3, sie sind allerdings nicht defizitär bzw. werden nicht als solche empfunden. Der Fußballfan, der Zuhause am Fernseher das Spiel verfolgt und nachher seine Freunde trifft und behauptet: „Wir haben gewonnen“, ist ein gutes Beispiel. Auch er kennt die Spieler persönlich nicht, er selbst spielt in diesem Spiel nicht aktiv mit. Dennoch ist er beseelt von einem "Wir-Gefühl".
Gemeinschaft bezeichnet in diesem Sinne weniger spezifische Sinneseindrücke, die zur Gemeinschaft notwendig sind, wenngleich sie auch förderlich sein mögen, sondern elementar die Verbindung mehrerer Personen mit einem gemeinsamen Anliegen und Ziel. Im Falle des Fußballfans wäre dies das Gewinnen des eigenen Teams. Im Falle des Online-Gottesdienstes wäre es das gemeinsame Anbeten Gottes als Teil der Christenheit.
Dennoch verhält es sich hier ähnlich wie beim Fußballfan. Es gibt persönliche Präferenzen, die je nach Lebenssituation, Sozialisation und Vorlieben variieren. Wir beobachten weiterhin, dass es Menschen gibt, die eher geneigt sind, an digitalen Angeboten zu partizipieren und Menschen gibt, die eher geneigt sind, an analogen Angeboten teilzunehmen. Es ist also nicht möglich zu sagen: Dieses digitale Angebot ist besser als jenes analoge - es ist und bleibt individuelle Präferenz. Diese Erkenntnis sollte letztlich dazu führen, dass wir innerhalb der Kirche aufhören sollten, digitale und analoge Angebote gegeneinander auszuspielen.
Allerdings und das mag gerade in der heutigen Zeit der Kirchenaustritte von Interesse sein, stelle ich in meiner Arbeit fest, dass viele Menschen den Erstkontakt oder die erneute Anknüpfung an die Kirche digital vollziehen. Das mag vielleicht an der Niederschwelligkeit digitaler Angebote liegen, vielleicht aber auch dem Zeitgeist geschuldet sein. Gerade die jüngere Generation (bis 35 Jahre) ist durch „On-Demand“ Angebote gerade dahingehend sozialisiert, Angebote zu den ihnen passenden Zeiten in Anspruch zu nehmen und gleichzeitig die Möglichkeit zu erfahren, auszuwählen und sich ggf. wieder zu distanzieren. In diese Lebenswirklichkeit spielt die #digitalekirche letztlich voll hinein. Gleichzeitig sind die Angebote unmittelbarer (durch die Kamera spreche ich den Menschen direkt an) und leichter zugänglich. So muss nicht erst der Tag komplett organisiert, der Weg zur Kirche eingeplant, die Kinder versorgt werden etc. Durch die zunächst vorherrschende Anonymität scheint die Möglichkeit, sich Kirche zu nähern oder zu entfernen, durchaus einfacher. Wobei ich wiederholt beobachte, dass durch verschiedenste digitale Formate wiederholt Vernetzungen und Freundschaften entstehen - die Menschen also immer wieder auch aus der Anonymität heraustreten.
Wird die digitale Kirche also die analoge ersetzten? Die Frage an sich ist schon falsch gestellt, denn sie sieht die digitale Kirche als ein vergleichbares Gegenüber der analogen Kirchen. Das ist nicht der Fall. Digitale Kirche ist eine Erscheinungsform von Kirche, sowohl der Amtskirchen als Institutionen als auch der communio sanctorum. So wie Jugendarbeit, Seniorenarbeit und Erwachsenenbildung nicht allein „die Kirche“ sind, so ist auch die digitale Kirche nicht „die Kirche“, sondern ein Netzwerk aus Erscheinungsformen von Kirchen (katholisch, evangelisch, freikirchlich etc.). Dementsprechend sollte uns folgende Frage eher beschäftigen: „Wann wird digitale Kirche als normales Arbeitsgebiet unserer Landeskirchen gesehen? Wann werden Menschen gesucht, die die verschiedenen Medien bedienen können? Welche neuen Stellen werden zukünftig schaffen müssen?“
Allein auf Instagram sind in den letzten paar Jahren über tausend verschiedene Angebotsformate entstanden, die nach Bedarf ausgewählt werden können. Sie sind Knotenpunkte einer großen Network-Church innerhalb der digitalen Church-Bubble. Die Auswahl ist groß und für jede Altersstufe etwas zu finden.
So ist es nicht verwunderlich, dass mir immer wieder Menschen begegnen, die Rückmelden, dass sie nach langer Zeit sich nun wieder näher mit Kirche und ihrem Glauben beschäftigen wollen bzw. mit dem Gedanken spielen, wieder in die Kirche einzutreten.
Das mag letztlich viel mit der Art des Angebotes zu tun haben, letztlich aber auch mit dem, was wir als „Bruch mit Kirchenvorstellungen“ bezeichnen. Dieser Bruch tangiert sowohl das, was Menschen allgemein über Kirche denken, vor allem aber auch das, was Menschen von Pfarrpersonen allgemeinhin erwarten.
Hier merke ich sehr deutlich, dass viele Accounts gerade von Pfarrer:Innen mit diesen Vorstellungen bewusst brechen und gleichzeitig ein neues, modernes Pfarrbild prägen.4 Hier wird das Amt entweder in den Vordergrund gestellt, um bewusst mit ihm zu brechen bzw. es zu aktualisieren oder eben genau in den Hintergrund, um den Menschen hinter dem Amt hervorzuheben. So findet man digital Pfarrer:Innen, die sich bewusst stylish klerikal geben und modebewusst sind, über ihren neuen Audi erzählen oder über ihre Lebenswirklichkeit als Mutter/Vater berichten und damit Amt und Person verknüpfen, über das Frau/Mann-sein diskutieren, über Alltagsrassismus und die Zukunft der Kirche. Interessant ist, dass die teilweise bewussten Provokationen nicht Zentrum der jeweiligen Accounts sind, sondern immer wieder an teils klassischen christlichen Themen anknüpfen und sie aufgreifen.5 Dies mag für viele nicht digitale Menschen teils verstörend wirken, entspricht aber zumindest auf Instagram, den Regeln des Mediums. Instagram funktioniert nun mal dann am besten, wenn der Eindruck entsteht, man könne am Leben einer anderen Person partizipieren und teils etwas voyeuristisch „hinter die Kulissen“ schauen. Das hinter diesen Profilen bisweilen sehr kluge Contentpläne und ein hohes Maß an Reflexion hinsichtlich der Frage, was gepostet wird und was nicht stehen, ist im Idealfall nicht erkennbar.
Neben diesen digital ‚verkündenden‘ Pfarrpersonen stehen auch viele andere Accounts von nicht theologisch geschulten Personen. Hier wird die Frage spannend: Was ist letztlich Verkündigung und was ist Glaubenszeugnis? Alle Gliedkirchen der EKD stellen die öffentliche Verkündigung unter einen besonderen Schutz. Nur aus- oder fortgebildete Personen dürfen nach vorheriger Prüfung öffentlich verkündigen. Wie verhält sich dies aber nun im digitalen Raum, in der Beiträge relativ schnell eine hohe Anzahl an 'Views' erreichen, die jeden gut gefüllten Weihnachtsgottesdienst vor Neid erblassen lassen? Kann man eine Kirche regulieren, die in sich keinen offensichtlichen Strukturen außer den Regeln des Mediums folgt? Muss es so etwas wie Sanktionen geben, wenn nicht geschulte Verkündiger: Innen dazu aufrufen, sich ihren Mann unterzuordnen, weil „das so in der Bibel steht“? All diese Fragen werden letztlich auch von den Gliedkirchen behandelt werden müssen, die sich momentan noch teilweise verhalten, sehr engagiert oder absolut uninteressiert geben.