1. Einführung: Was ist Apokalyptik?
Der Begriff „Apokalypse“ wurde in der Nachwirkung von Offb 1,1 auf eine Textgattung angewendet, jedoch liegt darin auch das Problem, dass das Genre eine Vielzahl sehr unterschiedlicher Texte vereint, deren kleinster gemeinsamer Nenner schwer festzumachen ist.
Die gängigste Definition, die das trotzdem versucht, wurde in einer Untergruppe der Society of Biblical Literature zur Apokalypse in zwei Phasen entwickelt:
„‚Apocalpyse‘ is a genre of revelatory literature with a narrative framework, in which a revelation is mediated by an otherworldly being to a human recipient, disclosing a transcendent reality which is both temporal, insofar as it envisages eschatological salvation, and spatial, insofar as it involves another, supernatural world ….“ „… intended to interpret present, earthly circumstances in light of the super-natural world and of the future, and to influence both the understanding and the behavior of the audience by means of divine authority.“
In dieser Definition zeigt sich bereits die gegenwärtige Relevanz von Zukunftsvisionen, die wesentlich darauf aus sind, das Verhalten der Rezipierenden und deren konkrete Realitäten zu verändern.
Michael Wolter kritisierte diese Definition, da sie den gemeinsamen Nenner bereits zuvor als Apokalypsen eingestufter Texte definiert. Wolter betont daher die Unterscheidung zwischen Apokalypsen als Textgattungen und einer apokalyptischen Kommunikationsform, die er wie folgt definiert:
„‚Apokalyptisch‘ nennen wir eine Redeform, die wir in solchen Texten vorfinden, deren Autoren die Leser zu Beginn darüber informieren (und zwar in der 1. Person Singular), dass [sie] ihnen etwas mitteil[en], was menschlicher Erkenntnisfähigkeit bisher prinzipiell verschlossen war, weil es nur im Wege einer kognitiven Grenzüberschreitung zugänglich ist. Der vorliegende Text erhebt dabei den Anspruch, diesen Inhalt erstmals in den Bereich der menschlichen Erkenntnis zu überführen und damit bekannt zu machen.“
Apokalyptik als Redeform findet sich unabhängig von der Gattung Apokalypse in unterschiedlichen Textformen. Das Moment der kognitiven Grenzüberschreitung macht es mitunter schwer, diese Redeform mit dem modernen Weltbild in Einklang zu bringen. Ihre bildlichen Welten wirken bisweilen unwirklich, abgehoben und schwer verständlich. Auch vor dem Hintergrund der Klimakrise und einer ökologischen Hermeneutik, die neutestamentliche Texte daraufhin befragt, ob sie „a significant resource for an ecological ethics“ sein können, steht die apokalyptische Redeform in der Kritik, da sie die Bewahrung der Schöpfung weniger zum Ziel zu haben scheint als deren Zerstörung mit dem Ziel einer tiefgreifenden Erneuerung.
Jedoch zeigt das zunehmende Interesse für Apokalyptik in der gegenwärtigen Forschungslandschaft, dass die krisengebeutelte Welt apokalyptisches Denken wieder anschlussfähig macht. Nicht selten werden im Zusammenspiel von Naturkatastrophen, Pandemie, Krieg und Klimakrise die apokalyptischen Reiter am Werk gesehen. Ich wurde mit der Aufgabe betraut, mich – neben einer Einführung in neutestamentliche Apokalyptik – der Frage zu widmen, welche Funktion apokalyptische Texte in der Klimakrise einnehmen können; mit der Präzisierung, „Trost wohl eher nicht“. Und das scheint auf den ersten Blick tatsächlich so. Es muss selbstverständlich vorausgeschickt werden, dass apokalyptische Texte sehr verschieden sind und sie kaum in ihrer Gesamtheit diskutiert werden können. Ich werde daher drei wirkungsreiche Beispiele von apokalyptischer Eschatologie vorausschicken und kurz auf ihren theologischen Mehrwert hin analysieren, um dann genauer auf die Johannesoffenbarung einzugehen. Es handelt sich also weniger um eine Gesamtschau als um einen schlaglichtartigen Überblick über mögliche Anknüpfungspunkte, die in der Frage der Klimakrise relevant sein könnten.
2. Textbeispiele
2.1. Die „synoptische Apokalypse“ im Markusevangelium
„7Wenn ihr aber hören werdet von Kriegen und Kriegsgeschrei, so erschreckt nicht: Es muss geschehen. Aber das Ende ist noch nicht da. 8Denn es wird sich ein Volk gegen das andere erheben und ein Königreich gegen das andere; es werden Erdbeben geschehen hier und dort, es werden Hungersnöte sein: Das ist der Anfang der Wehen […]. 14Wenn ihr aber sehen werdet den Gräuel der Verwüstung stehen, wo er nicht soll – wer es liest, der merke auf! –, alsdann, wer in Judäa ist, der fliehe auf die Berge. 15Wer auf dem Dach ist, der steige nicht hinunter und gehe nicht hinein, etwas aus seinem Hause zu holen. 16Und wer auf dem Feld ist, der wende sich nicht um, seinen Mantel zu holen. 17Weh aber den Schwangeren und den Stillenden in jenen Tagen! 18Bittet aber, dass es nicht im Winter geschehe. 19Denn in diesen Tagen wird eine solche Bedrängnis sein, wie sie nie gewesen ist bis jetzt vom Anfang der Schöpfung, die Gott geschaffen hat, und auch nicht wieder werden wird. 20 Und wenn der Herr diese Tage nicht verkürzt hätte, würde kein Mensch gerettet werden; aber um der Auserwählten willen, die er auserwählt hat, hat er diese Tage verkürzt […]. 24Aber in jenen Tagen, nach jener Bedrängnis, wird die Sonne sich verfinstern und der Mond seinen Schein verlieren, 25und die Sterne werden vom Himmel fallen, und die Kräfte der Himmel werden ins Wanken kommen. 26Und dann werden sie sehen den Menschensohn kommen in den Wolken mit großer Kraft und Herrlichkeit. 27Und dann wird er die Engel senden und wird seine Auserwählten versammeln von den vier Winden, vom Ende der Erde bis zum Ende des Himmels. […] 33Seht euch vor, wachet! Denn ihr wisst nicht, wann die Zeit da ist.“
Diese Passage wird häufig als Reflex auf den sozio-politischen Umbruch gelesen, der mit der Zerstörung des Tempels 70 n. Chr. einherging (Mk 13,1–5). Indem der Text zwischen der krisenhaften Gegenwart (1–5) und der zukünftigen kosmischen Heilsvollendung unterscheidet, wird der Vorstellung entgegengewirkt, dass die aktuelle Lage ein Zeichen für die endzeitliche Rettung ist zugunsten einer stetigen wachsamen Ausrichtung an Gottes Willen. Die eindrücklich bildliche Darstellung wird so begleitet von einem ebenso dringlichen Aufruf zur Wachsamkeit. Denn Vorzeichen sind zwar bemerkbar, aber der Tag des Herrn kommt wie ein Dieb in der Nacht (1 Thess 5,2 u.ö.). Die personale Kontinuität, also die Verheißung, dass Rettung für einige möglich ist, motiviert das Handeln nach dem Willen Gottes. Zeichen der Krise und des Zerfalls sind so auch Zeichen der Verwandlung der bestehenden Welt. Wenn der Zeitpunkt einmal gekommen ist, überhäufen sich die Ereignisse. Die Verkürzung der Zeit zugunsten der Menschen ist wohl so zu interpretieren, dass wenig Zeit bleibt, um noch den falschen Weg einzuschlagen. Das Beispiel von Markus 13 zeigt, wie eng die hier entwickelte apokalyptische Vorstellungwelt mit zeitlichen Strukturen und einer Beschleunigung der Ereignisse zusammenhängt. Außerdem wird deutlich, dass die Ankunft des Messias monströse Züge an sich hat und dass somit die tiefgreifende endzeitliche Transformation der Welt nicht ohne schmerzvolle Prozesse vorgestellt wird.
Für besonders relevant für unsere Fragestellung halte ich an diesem Text, dass er einer simplen Identifikation einer gegenwärtigen Krise mit den Begleiterscheinungen der Ankunft Gottes, die in ihrer kosmischen Dimension diese noch übersteigt, entgegenwirkt. Der Zeitpunkt des tatsächlichen Endes ist für Menschen nicht vorab erkennbar. Aber wenden wir uns einem weiteren neutestamentlichen Text zu:
2.2. Die ἐκπύρωσις in 2 Petr 3,7.10.12
„3Ihr sollt vor allem wissen, dass in den letzten Tagen Spötter kommen werden, die ihren Spott treiben, ihren eigenen Begierden nachgehen 4und sagen: Wo bleibt die Verheißung seines Kommens? Denn nachdem die Väter entschlafen sind, bleibt es alles, wie es von Anfang der Schöpfung gewesen ist. 5Denn sie wollen nichts davon wissen, dass der Himmel vorzeiten auch war, dazu die Erde, die aus Wasser und durch Wasser Bestand hatte durch Gottes Wort; 6dadurch wurde damals die Welt in der Sintflut vernichtet. 7So werden auch jetzt Himmel und Erde durch dasselbe Wort aufgespart für das Feuer, bewahrt für den Tag des Gerichts und der Verdammnis der gottlosen Menschen. 8Eins aber sei euch nicht verborgen, ihr Lieben, dass ein Tag vor dem Herrn wie tausend Jahre ist und tausend Jahre wie ein Tag. 9Der Herr verzögert nicht die Verheißung, wie es einige für eine Verzögerung halten; sondern er hat Geduld mit euch und will nicht, dass jemand verloren werde, sondern dass jedermann zur Buße finde. 10Es wird aber des Herrn Tag kommen wie ein Dieb; dann werden die Himmel zergehen mit großem Krachen; die Elemente aber werden vor Hitze schmelzen, und die Erde und die Werke, die darauf sind, werden nicht mehr zu finden sein. 11Wenn nun das alles so zergehen wird, wie müsst ihr dann dastehen in heiligem Wandel und frommem Wesen, 12die ihr das Kommen des Tages Gottes erwartet und ihm entgegeneilt, wenn die Himmel vom Feuer zergehen und die Elemente vor Hitze zerschmelzen. 13Wir warten aber auf einen neuen Himmel und eine neue Erde nach seiner Verheißung, in denen Gerechtigkeit wohnt […]. 14Darum, ihr Lieben, während ihr darauf wartet, seid bemüht, dass ihr vor ihm unbefleckt und untadelig im Frieden gefunden werdet […].“
Die hier beschriebenen Spötter zweifeln an der Wiederkunft Christi und somit auch am Wirken Gottes in der Welt (V 4b). So wird deutlich, dass es sich hier um eine andere Phase handelt als bei der „synoptischen Apokalypse“. Dort wird die Zeit angesichts der Naherwartung verkürzt, hier wird sie angesichts der ausbleibenden Wiederkunft verlängert, was allerdings damit begründet wird, dass Gott geduldig auf die Umkehr der Menschen wartet. Die Spötter glauben, gemäß antiken Vorstellungen (Plato, Tim. 32–33; Philo, De aeternitate mundi), dass die Welt unzerstörbar sei. Dem setzt der Zweite Petrusbrief eine Zerstörung durch Flut und Feuer entgegen, die Aufschiebung der Ankunft wird durch die besondere Zeitlichkeit Gottes erklärt. In der Forschungsliteratur wird diskutiert, dass es sich um eine Reinigung der Schöpfung von Ungerechtigkeit, also eine Erneuerung, und nicht lediglich um eine Zerstörung handelt. Das Feuer wird dann in seiner reinigenden Funktion gesehen, das Wort λύω in den Versen 10, 11 und 12 im erlösenden Sinne näher definiert und die Neuheit (καινός) als neue Qualität statt als bisher nichtexistentes Neues betrachtet (νέος). Edward Adams argumentiert dagegen, dass es sich hier um eine Reinigung durch die Zerstörung, nicht statt Zerstörung handelt. Die Welt werde zerstört, indem sie in ihr primäres Element, Feuer, aufgelöst werde. Adams vergleicht diesen Prozess vor dem Hintergrund vergleichbarer stoischer Vorstellungen mit Recycling, was jedoch seinem Bild von einer vollständigen Zerstörung widerspricht, denn so handelt es sich um einen Transformationsprozess mit zerstörerischen Aspekten, der jedoch Neues hervorbringt. Die Zerstörung steht im Dienst des Neuen. Trotz aller gewaltvollen Implikationen zeigt sich, dass die apokalyptische Darstellung einem ethischen Anliegen dient, das im „heiligen Wandel (2 Petr 3,11) und Streben nach Frieden (2 Petr 3,14) liegt. Die Schilderung der Ereignisse unterstreicht bildlich die dringliche Mahnung zur Umkehr, die bewirkt, dass die Realität der Erde gerade nicht dem geschilderten Horror-Szenario entspricht, indem Frieden und Gerechtigkeit herrschen. Darin liegt m.E. auch ein möglicher theologischer Anknüpfungspunkt der Passage, die die Frage verhandelt, wo die versprochene Erlösung bleibt.
2.3. Die apokalyptischen Reiter in der Johannesoffenbarung
In der Johannesoffenbarung wird ein Kampf zwischen einer göttlichen und einer widergöttlichen Sphäre inszeniert, aus dem Gott siegreich hervorgeht und der schließlich in der Erschaffung eines neuen Himmels und einer neuen Erde (21,1) resultiert. Der Weg dahin ist teilweise grauenvoll, was besonders die Öffnung der sieben Siegel und die Reiter der Apokalypse in Kapitel 6 zeigen:
„3Und als es das zweite Siegel auftat, hörte ich das zweite Wesen sagen: Komm! 4Und es kam heraus ein zweites Pferd, das war feuerrot. Und dem, der darauf saß, wurde Macht gegeben, den Frieden von der Erde zu nehmen, dass sie sich untereinander umbrächten, und ihm wurde ein großes Schwert gegeben […].7Und als es das vierte Siegel auftat, hörte ich die Stimme des vierten Wesens sagen: Komm! 8Und ich sah, und siehe, ein fahles Pferd. Und der darauf saß, dessen Name war: der Tod, und die Hölle zog mit ihm einher. Und ihnen wurde Macht gegeben über den vierten Teil der Erde, zu töten mit Schwert und Hunger und Tod und durch die wilden Tiere auf Erden […]. 12Und ich sah: Als es das sechste Siegel auftat, da geschah ein großes Erdbeben, und die Sonne wurde schwarz wie ein härener Sack, und der ganze Mond wurde wie Blut, 13und die Sterne des Himmels fielen auf die Erde, wie ein Feigenbaum seine Feigen abwirft, wenn er von starkem Wind bewegt wird. 14Und der Himmel wich wie eine Schriftrolle, die zusammengerollt wird, und alle Berge und Inseln wurden wegbewegt von ihren Orten. 15Und die Könige auf Erden und die Großen und die Obersten und die Reichen und die Gewaltigen und alle Sklaven und alle Freien verbargen sich in den Klüften und Felsen der Berge 16und sprachen zu den Bergen und Felsen: Fallt über uns und verbergt uns vor dem Angesicht dessen, der auf dem Thron sitzt, und vor dem Zorn des Lammes! 17Denn es ist gekommen der große Tag ihres Zorns und wer kann bestehen?“
Diese zerstörerische Passage steht allerdings im Dienst der Leidenden, die sich nach einem Ende der Unterdrückung sehnen „9Und als es das fünfte Siegel auftat, sah ich unten am Altar die Seelen derer, die umgebracht worden waren um des Wortes Gottes und um ihres Zeugnisses willen. 10Und sie schrien mit großer Stimme: Herr, du Heiliger und Wahrhaftiger, wie lange richtest du nicht und rächst nicht unser Blut an denen, die auf der Erde wohnen?“ Die Theodizeefrage und die Frage nach der Gerechtigkeit und dem Eingreifen Gottes sind somit zentrale Auslöser für die Darstellung der kosmischen Ereignisse. Klaus Wengst macht die Frage der Leidenden „Wie lange noch?“ zum Titel seines Kommentars, weil er in ihr die inhaltliche Mitte der Johannesoffenbarung sieht. Das heißt also, dass hier diejenigen, die an Unterdrückung und Ungerechtigkeit leiden, das gewaltvolle Eingreifen Gottes in den Wandel der Welt sogar ersehnen.
Als Zwischenfazit zu diesem einleitenden Überblick bleibt also festzuhalten, dass die gewaltvollen Bilder apokalyptischer Texte zwar gewaltvoll bleiben, allerdings darin auch Ambiguitätskompetenz an den Tag legen. Mit der Frage konfrontiert, wo Gott angesichts von Krise und Leid ist, stellen sie dar, inwiefern Gott entgegen allem Anschein gerechter Herrscher der Welt ist. Das leitende Anliegen ist der Aufruf zur Umkehr, Gerechtigkeit und Frieden, der durch die Darstellung übernatürlicher Ereignisse eine Veränderung der Gegenwart bewirken soll. Insofern sind sie theologisch relevant in der Klimakrise, obwohl sie auf den ersten Blick die Zerstörung der Schöpfung als notwendige und positive Voraussetzung für deren erlösende Verwandlung darstellen. Dies gilt es nun in einem konkreteren Abschnitt darzustellen, der sich mit der Frage von Zeit und Ethik in der Johannesoffenbarung beschäftigt.
3. Dringlichkeit und Umkehr in der Johannesoffenbarung
„Fünf vor zwölf, das ist die Zeit zur Umkehr, nicht zur Verzweiflung.“ Diese Worte können als Johannesoffenbarung in a nutshell bezeichnet werden, denn die Dringlichkeit, die sie beschwört, hat es zum Ziel, die Gegenwart der Adressierten zu verändern. „Es ist fünf vor zwölf“ ist einer der wichtigsten Slogans der Fridays for Future Bewegung. Die an der Uhrzeit orientierte Metaphorik impliziert: Wir gehen auf eine Katastrophe zu, wenn wir den kleinen Zeitraum, der noch Handlungsspielraum lässt, nicht für entscheidende Handlungen nutzen. Ein politisch-ethischer Appell wird hier zeitlich begründet: „Act now“. Ähnliches hält die Neutestamentlerin Barbara Rossing für die Offb fest: „Time is of the essence in Revelation. But, interestingly, the book’s perspective is not simply of time hurtling towards an inevitable end. There is a kind of rolling sense of urgency in this book. Revelation puts great emphasis on the importance of the present moment as a moment for decision and repentance […].“ Die enge Verknüpfung von Zeit und Ethik ist gegenwärtigen auf die Klimakatastrophe bezogenen Diskursen und der Offb gemeinsam. Darin könnte ein Grund für deren wiedergewonnene Aktualität liegen. Die Rolle menschlichen Handelns und das „Jetzt“ sind in der Offenbarung durch den nahen herangerückten Kairos (1,3) bedingt. Menschliches Handeln bleibt allerdings auf die Ewigkeit des kommenden Gottes verwiesen. Es ist entscheidend, bewirkt aber nicht die Erlösung. In der Offb macht nicht menschliches Verhalten das Ende zum Anfang, sondern Gott, der Anfang und Ende ist, stiftet durch die Krise hindurch einen Neuanfang. Das gilt es nun durch eine Analyse relevanter Zeitbegriffe zu untermauern: Die zeitliche Struktur des Kairos, sowie der zentralen Gottesprädikation „der Kommende“ werden im Mittelpunkt der Ausführungen stehen und auf menschliches Handeln bezogen.
3.1. Der Kairos
Der Kairos-Begriff erscheint fünf Mal in der Offb, in 1,3; 11,18; 12,12.14 und 22,10. Der griechische Kairos bezeichnet den richtigen Moment, eine Gelegenheit, eine rechte Maßnahme (lat. occasio) und ist somit ein qualitativer Zeit-Begriff, der den Chronos als quantitative Zeitspanne ergänzt und im Laufe der Zeit mit ihm gleichbedeutend wird. Personifiziert als Mann mit einem Haarschopf an der Stirn und einem kahlen Hinterkopf, beschreibt der Kairos die jetzt zu ergreifende Gelegenheit: „Wenn ich erst einmal mit meinen geflügelten Füßen vorbeigelaufen bin, wird mich niemand mehr von hinten festhalten, auch wenn er es noch so sehr wünscht.“ John Smith bietet eine passende Definition des antiken Kairos-Begriffs und seiner Nuancen:
„It means, first the ‚right time‘ for something to happen […]. Second, kairos means a time of tension or conflict, a time of ‚crisis‘ implying that the course of events poses a problem which calls for a decision at that time. Third, kairos means a time when an opportunity for accomplishing some purpose has opened up as a result of the problem that led to the crisis.“
Die erste Bedeutung von Kairos als „rechte Zeit“ trifft auf Offb 11,18 zu, wo die Zeit des Gerichts über die Toten ausgerufen wird. Die zweite Bedeutung als Krisenzeit, die zu einer Entscheidung herausfordert, passt zu Offb 1,3 und 22,10. Die Verse bilden eine Klammer um den Text der Offenbarung, da in beiden die gleiche Formulierung, „die Zeit ist nahe“ (kairos eggys) verwendet wird. Als Teil von Incipit und Epilog enthalten sie zentrale Leseanweisungen für das ganze Buch. Die Offb wird in der Forschung seit Längerem als Antwort auf eine Krise beschrieben. Die Krisenhaftigkeit liegt allerdings nicht nur an der weltlichen Situation der kleinasiatischen Gemeinden, sondern der Kairos als Krise besteht im Einbrechen von Gottes Wirklichkeit in die menschliche, das ein Zeitfenster für das richtige ethische Verhalten lässt und somit zur Entscheidung drängt. Sehen wir uns die Kairos-Passagen genauer an:
- In 1,3 ist die Seligpreisung derjenigen, die die Worte des Buches halten, durch einen Kausalsatz aufs Engste mit dem Kairos verbunden (ho gar kairos eggys). Der Inhalt des Buches ist somit gleich einleitend als wesentliche Überbrückung für die Zeit, die bleibt, dargestellt. Zugleich wird deutlich, dass es Verhaltensaufforderungen enthält, die dem Kairos angemessen sind.
- In 22,11–12 folgt direkt auf die Aussage, dass der Kairos nahe ist, ein ethischer Dualismus: „Wer Böses tut, der tue weiterhin Böses, und wer unrein ist, der sei weiterhin unrein; aber wer gerecht ist, der übe weiterhin Gerechtigkeit, und wer heilig ist, der sei weiterhin heilig (11). Siehe, ich komme bald und mein Lohn mit mir, einem jeden zu geben, wie sein Werk ist (12).“ Dieser Dualismus am Ende der Offb könnte bedeuten, dass es angesichts der schon erlangten Gottesherrschaft bereits zu spät ist, auf die richtige Seite zu wechseln (vgl. 11,15). Das „Jetzt“ der Offb ist kein „Apocalypse now“, sondern das arti/„jetzt“ der göttlichen Machtergreifung in 12,10. Der Chronos, der in 2,21 im Sinne einer „Verzögerungsfrist“ noch Umkehr bewirken soll, ist nicht mehr, denn in 10,6 wird das Ende der Zeit (Chronos) im Sinne einer Verzögerungsfrist verkündet. Interessant ist, dass der Epilog, dessen Teil die dualistische Formulierung in 22,11 ist, trotzdem wesentlich von Komm-Rufen geprägt ist. Der Gedanke, dass es zu spät für Umkehr ist und der kontinuierliche Ruf nach Gottes Kommen stehen hier also nebeneinander. Die Offb durchzieht die Spannung zwischen Determinismus und menschlicher Entscheidung, die auf die Spannung zwischen göttlicher Allmacht und menschlicher Ethik verweist.
- In 11,18 wird der Kairos des Gerichts über die Toten mit Ethik verbunden, denn dort heißt es: „[…] es ist gekommen dein Zorn und die Zeit, die Toten zu richten und den Lohn zu geben deinen Knechten, den Propheten und den Heiligen und denen, die deinen Namen fürchten – die Kleinen und die Großen –, und zu vernichten, die die Erde vernichten.“ Das Ende derer, die die Erde vernichten, kann sowohl auf Satan als auch auf das Römische Reich, die zudem miteinander assoziiert werden, bezogen werden:
Satans Zeit ist begrenzt, ihm bleibt nur ein kleiner Kairos, um auf der Erde sein Unwesen zu treiben (vgl. 12,12.14). Hier wird der Begriff ohne Artikel im Sinne einer „Zeitstrecke“, also gleichbedeutend mit Chronos, verwendet, was auch an der vergleichbaren Passage in 20,3 („Danach muss er losgelassen werden eine kleine Zeit“) deutlich wird, wo der Chronos-Begriff aufscheint.
Antiimperiale Lesarten der Offb betonen, dass in 11,18 imperiale Machtstrukturen gemeint seien, zeige der Vers doch, dass das Ziel der Apokalypse keineswegs die Zerstörung der Erde sei, sondern das Ende derer, die die Erde zerstören: „God will no longer tolerate Rome’s destruction of the earth, despite Rome’s own claim to rule forever (‚Roma Aeterna‘) […] God’s kairos moment puts an end to Roman imperial oppression.“ Martin Karrer und andere betonen, dass die Offb Kritik an einem Wirtschaftssystem übe, das zwar Reichtum und Luxus bringt, aber zugleich Mensch und Erde schadet. Er schreibt, dass die Offb „über die Kritik der materiellen Werte und des Luxus am Ende das antike Wirtschaftssystem und den Herrschaftsanspruch Roms [geißelt], weil die römische Macht und der römische Friede den Luxus politisch ermöglichten und förderten.“ Hier ist vor allem Offb 18 im Blick, wo der Handel mit Luxusgütern und der Sklavenhandel Teil einer groß angelegten Unheilsprophetie über Rom sind. In der Offb ist Rom nicht Roma Aeterna, sondern zeitlich begrenzt, „denn in einer Stunde ist verwüstet solcher Reichtum!“ (18,17; vgl. 18,10.19). Damit einher geht der Ruf, der wiederum die zeitliche Dringlichkeit mit einer Handlungsaufforderung verknüpft: „Geht hinaus aus ihr, mein Volk, dass ihr nicht teilhabt an ihren Sünden, und hinaus aus ihren Plagen, damit ihr sie nicht empfangt!“ (18,4). Der Kairos Gottes begrenzt die Wirksamkeit derer, die der Erde schaden und impliziert daher die Aufforderung zur Umkehr. So formuliert Barbara Rossing: „Revelation places the Christian community at an ethical crossroads – a kairos moment – facing a choice between Babylon/Rome or citizenship in God’s New Jerusalem. The book’s urgent call to renounce empire and participate in God’s healing and renewal gives a model for responding to the climate change crisis as a crisis of ‚empire‘ today.“ Rossing zeigt hier, dass eine Aktualisierung der Offb in der Gegenwart durch deren Zeitbegriff möglich ist: Auch die Klimakrise stellt sich als eine Krise angesichts einer kurzen verbleibenden Zeitspanne für wirksame Handlungen dar. Außerdem ist die Imperiumskritik der Offb anschlussfähig an aktuelle Fragen des Ausstiegs aus imperialen Machtgefügen, die angesichts der Klimakrise vor allem in einem nicht auf Nachhaltigkeit ausgerichteten Wirtschaftssystem bestehen.
Der unmittelbaren Nähe des Kairos entspricht auf menschlicher Seite nicht nur Umkehr und Ausstieg aus den Mechanismen des Imperiums, sondern auch die hypomonē (vgl. 1,9; 2,2–3.19; 3,10; 13,9; 14,12). Es verwundert also nicht, dass Elisabeth Schüssler Fiorenza diesen Begriff als „main Christian virtue“ der Offb beschreibt. Martin Karrer übersetzt hypomonē im Einklang mit der jüdisch-hellenistischen Tugend der Tapferkeit und der Etymologie des Wortes, das von menō („bleiben“) abgeleitet ist, als „Ausdauer“. Die häufige Wiedergabe mit „Geduld“ setzt eine eher passive Haltung voraus, die insbesondere Jeffrey D. Meyers nicht im Begriff hypomonē impliziert sieht. Er versteht hypomonē als eine Form von „nonviolent resistance“, also aktiven, aber gewaltfreien Widerstand. Der Begriff, der in der LXX mit Hoffnung und Warten auf Gott (vgl. etwa Hiob 14,19; Ps 39,8; Jer 14,8) assoziiert wird, ist in 4 Makk 1,7–11 als Möglichkeit über diejenigen zu siegen, die Leid verursachen, dargestellt und steht im Neuen Testament (vgl. etwa Röm 5,3–4; 2 Kor 1,6; Kol 1,11) im Zusammenhang mit Leid, Hoffnung und Stärke. Da „Ausdauer“ näher am Wortsinn von hypomonē orientiert ist, bleibe ich bei dieser Übersetzung, betone allerdings das in diesem Begriff enthaltene aktive Moment, das als gewaltfreier Widerstand inhaltlich bestimmt werden kann. Ebenso entspricht dem Nahen des Kairos die Aufforderung zu wachen, ein mit der synoptischen Apokalypse geteiltes Moment (3,3: „Wenn du nicht wachen wirst, werde ich kommen wie ein Dieb, und du wirst nicht wissen, zu welcher Stunde ich über dich kommen werde“; vgl. 16,15). Ein weiterer wichtiger Begriff angesichts des bevorstehenden Kommens Gottes ist das Festhalten (vgl. 2,25: „was ihr habt, haltet fest, bis ich komme“; vgl. auch 3,11). Die menschliche Antwort auf den nahen Kairos Gottes ist ein aktives Warten, das aktiven Widerstand, Wachheit und den Kraftakt des Festhaltens erfordert.
Die Nähe des Kairos impliziert zeitliche Begrenzung in zweierlei Hinsicht: Zum einen ist die Wirksamkeit widergöttlicher Mächte wie diejenige Satans und des Imperiums mit einem Endpunkt versehen. Zum anderen bleibt für die Menschen eine begrenzte Zeit, sich aktiv gegen widergöttliche Machtstrukturen zu entscheiden, um im göttlichen Gericht auf der richtigen Seite zu stehen.
Der begrenzte menschliche Handlungsspielraum und die klare zeitliche Begrenzung der Wirksamkeit Satans und Roms stehen in starkem Kontrast zur Ewigkeit Gottes.
3.2. Der kommende Gott
Eine zentrale zeitlich verfasste Gottesprädikation in der Offb ist ho ōn kai ho ēn kai ho erchomenos („der Seiende und der der Er-War und der Kommende“) in 1,4. Diese Formel taucht im Laufe der Offb in Variationen immer wieder auf (vgl. 1,8; 11,17; 16,5). In 1,7 („Siehe, er kommt mit den Wolken“) wird auch Christus als der, der kommt, näher beschrieben. Das Motiv enthält sowohl eine präsentische, als auch eine futurische Ausrichtung, denn der Ausdruck „der Kommende“ ist nicht bloß eine Aussage über das zukünftige Ankommen Gottes, sondern beschreibt einen Prozess, der bereits in der Gegenwart wirksam ist. Ein Blick in Aristotelesʼ Gedanken zu den Zeitebenen zeigt (vgl. Phys 4,10–14), dass das Präsens „er kommt“ im antiken griechischen Zeitempfinden „unter der Perspektive des jetzigen Eintreffens zu sehen“ ist. Die Formel unterscheidet sich durch die Betonung des präsentischen Aspekts von anderen antiken Dreizeitenformeln wie z.B. Zeus ēn, Zeus estin, Zeus essetai („Zeus war, Zeus ist, Zeus wird sein“; Paus. 10,12,10). Es fällt daher auf, dass die Wiederaufnahme der Formel in 11,17 und 16,5 den Titel „der Kommende“ weglässt und ein „zweigliedrige[s] Syntagma der Zeitlichkeit Gottes“ bleibt. Der Prozess des Ankommens ist dort abgeschlossen, Gott erscheint zum Gericht: „Gott [ist] mit dem Anbrechen des Gerichts schon nicht mehr der Kommende, auch wenn das Gericht noch nicht vollständig durchgeführt wurde und der Umzug Gottes vom Himmel auf die Erde noch nicht vollzogen wurde.“ Gott ist bereits Pantokrator, lässt jedoch seinen Widersachern noch einen Kairos, in dem den Menschen Zeit bleibt, auf die richtige Seite zu wechseln oder von dieser abzufallen. Wieder wird direkt im Anschluss an die Gottesprädikation menschliches Handeln thematisiert (Offb 11,17–18 und 16,5–6). Die alle Zeiten umfassende Gottesprädikation wird mit seinem gerechten Richten verbunden.
Trotz der schon realisierten Herrschaft Gottes, die am Wegfallen des Prädikats „der Kommende“ in 11,17 und 16,5 deutlich wird, bleibt die Offb auf eine Zukunft ausgerichtet, in der Gott auf der Erde gegenwärtig ist, denn das Buch der Offb nimmt die Erlösung aus der Bedrängnis „im Akt des Sehenhörens“ vorweg, „um mit der Gewißheit ihrer zukünftigen vollständigen Lösung in den Konflikten der Gegenwart zu bestehen“. Der Text ist also eine performative Veranschaulichung dessen, was passiert, wenn Gott ankommt. Der Epilog (22,6–20) motiviert, angesichts des Gelesenen bzw. Gehörten in die „Komm“-Rufe einzustimmen. In 22,7 heißt es: „Siehe, ich komme bald. Selig ist, wer die Worte der Prophetie in diesem Buch bewahrt.“ Das Kommen Gottes wird zu einer Aufforderung an die Menschen, zu ihm zu kommen und selbst den Wunsch nach seiner Präsenz auszurufen: „Und der Geist und die Braut sprechen: Komm! Und wer es hört, der spreche: Komm! Und wen dürstet, der komme; wer da will, der nehme das Wasser des Lebens umsonst“ (17). Das Buch der Offb endet mit einem hymnischen Dialog. Der Satz „Es spricht, der dies bezeugt: Ja, ich komme bald“ wird von der Gemeinde mit „Amen, komm, Herr Jesus!“ (20) beantwortet und um einen allgemeinen Gnadenwunsch ergänzt: „Die Gnade des Herrn Jesus sei mit allen!“ (21). Der französische Philosoph Jacques Derrida, der sich in seinem Text Von einem neuerdings erhobenen apokalyptischen Ton in der Philosophie mit der Offb und vor allem mit der Struktur der Komm-Rufe beschäftigt, verortet diese im Bereich der différance, der Aufschiebung von Bedeutung, denn in ihnen ist „die Ankunft [..] stets das Kommende.“ Sie stellen die „Gegenwart einer Zu-kunft [à-venir]“ dar, ein Futur 2 („‚Der kommt‘ wird hier im Lateinischen übersetzt durch venturus est.“), in dem eine erwartete Zukunft schon realisiert ist, die aber im Präsens nicht vollständig benennbar ist. Die Komm-Rufe bestimmen Gott inhaltlich als den, der gekommen sein wird und lassen gerade dadurch etwas offen. Das Ereignis der Ankunft hat nicht stattgefunden, was zum Beispiel an dem Bild in 19,7 deutlich wird: Das Hochzeitsmahl ist bereitet. Diejenigen, die geladen sind, werden seliggepriesen. Das heißt, das Ereignis hat noch nicht stattgefunden. Insofern die Komm-Rufe Gott als den darstellen, der gekommen sein wird, werden sie, um es mit Derrida auszudrücken, „kein Gegenstand, Thema, keine Repräsentation“. Sie verhalten sich daher auch quer zu jeder Ethik, denn die in ihnen enthaltene Zukünftigkeit bewirkt trotz aller ethischen Implikationen der Offb ein Moment des Unbestimmten. Anders gesagt: Die Offb repräsentiert als Text das Kommen Gottes, was dieses für die Erde und diejenigen, die auf ihr wohnen, bedeuten würde und welche Verhaltensweisen ihm entsprechen. Da dieses Kommen aber stattgefunden haben wird, steht seine letzte Realisierung und somit die Gewissheit, wie es tatsächlich vonstattengehen wird, aus. Gottes tatsächliche Ankunft ist nicht repräsentierbar. Dementsprechend ist, was sich bei dieser Ankunft als Gut und Böse erwiesen haben wird, „not a closed body of content but an open space of possibility“. Diese Bewegung sieht Derrida in den Komm-Rufen am Werk. Das geforderte Einstimmen in die Komm-Rufe der Braut und des Geistes begründet aber, trotz oder gerade wegen ihrer Offenheit auf die Zukunft hin, eine ethische Haltung, nämlich ein „radical, irruptive opening to and for the other, otherness“. Insofern stehen die Komm-Rufe quer zu jeder Ethik, indem sie die letztgültige Sicherheit über die Unterscheidung von Gut und Böse offenlassen. Menschliches Handeln, das der Struktur der Komm-Rufe entspricht, richtet sich an dem aus, was vor dem Kommen Gottes Bestand gehabt haben wird, ohne dies mit letzter Sicherheit sagen zu können: „Es gilt jene Regel zu (er-)finden, die das hier und jetzt ins-Werk-zu-Setzende als ein der Zukunft angemessenes, von der Zukunft her bestimmtes Handeln ausgewiesen haben wird.“ Insofern kann aus der Offb keine moralisierende Unterteilung der Welt in Gut und Böse begründet werden, wohl aber ein Messen menschlichen Verhaltens an seiner Offenheit für die Zukunft Gottes. Die Offb enthält klare dualistische und deterministische Tendenzen, doch bewirkt gerade das Moment der Zeitlichkeit, das in der Idee des kommenden Gottes als Ausrichtung an einer schon jetzt sich vollziehenden Zukunft bestimmt ist, eine Aufweichung dieses Dualismus.
3.3. Fazit: Die Aktualität der Johannesoffenbarung
In ihrem Papier zur Johannesoffenbarung „God Laments with Us,“ das eindrücklich vorführt, wie eine ökologische Hermeneutik des Neuen Testaments aussehen könnte, betont Barbara Rossing Elemente der Johannesoffenbarung, die angesichts der Klimakrise Trost spenden können: (1) Die Wehe-Rufe angesichts des Untergangs Roms sind eigentlich Ach-Rufe Gottes, der in das kosmische Leiden angesichts des Untergangs einstimmt. (2) Offb 11,18 zufolge sollen diejenigen zerstört werden, die die Erde zerstören, d.h. die gewaltvollen Implikationen des Textes richten sich gegen diejenigen, die Gewalt ausüben und deren Wirken ein Ende bereitet wird. So wird dem Ruf „Wie lange noch?“ der Leidenden entsprochen. (3) Die geschilderten Warnungen sind als das zu interpretieren, was passieren kann, wenn sich nichts verändert, nicht als tatsächliche Ereignisse. Rossing betont außerdem, dass der Kairos die Elemente von Hoffnung und Dringlichkeit eng aneinander bindet. So krisenhaft also das monströse Einbrechen der göttlichen Wirklichkeit in die menschliche vorgestellt wird, so sehr ist sie doch von der Hoffnung getragen, dass Gott durch die Krise hindurch einen Neuanfang stiften kann. Das „Act Now“ der Johannesoffenbarung ist also ein Aufruf dazu, gegenwärtiges Leben an der bereits jetzt wirksamen Zukünftigkeit Gottes auszurichten. Der Text verdeutlicht zudem, wie schwer es ist, den allumfassenden Machtstrukturen zu entkommen, die eine solche Ausrichtung verhindern. Göttliches Eingreifen erscheint somit als eine mögliche Lösung für dieses Problem.
Mit dem Liedtext „Wir rufen dich, Galaktika“ schrieben Dota Kehr und Francesco Wilking die Anrufung einer entfernten Himmelsmacht. Angesichts der ausweglosen Situationsbeschreibung der Gegenwart sehen sie im Eingreifen einer jenseitigen Macht die einzige Möglichkeit zur Veränderung. Der Text verdeutlicht, inwiefern die apokalyptische Redeform doch Trost spenden kann:
„So viele Grabenkämpfe, soviel verschwendete Energie
So ermüdend und öde, so klappt es nie
Ich seh’s ein und geh trotzdem demonstrierʼn
Für die bessere Welt, wie auch immer die sei,
aber insgeheim wünsche ich eine einfache Lösung herbei
Zum Beispiel eine lila Fee, die kommt und uns raushaut
Die uns alle erlöst, denn wir haben Mist gebaut
Wir rufen dich, Galaktika (2x)/
Renk es ein, mach dass es geht
Von deinem Stern Andromeda/Von deinem fernen Stern Andromeda
Bitte komm bald, es ist noch nicht zu spät
[…] Stiftest Frieden, bringst die Lösung/Oh, du säkularer Engel
Wann kommst du?/Bitte verzeih, dass ich dränge
[…] Wir wollen irgendeine Art Revolution,
aber dass sie uns was wegnimmt, wollen wir nicht
Wir wollen Komfort ohne Reue, das Schicke und Neue
und die bleiben, die wir sind,
einfach Privilegien für alle und Rettung bevor es weh zu tun beginnt.
So lange machen wir einfach hier weiter – was soll es auch bringen –
und irgendwann muss der Bundestag halt fraktionsübergreifend aufstehen und singen:
Wir rufen dich Galaktika […]
Ich weiß, du kommst natürlich nicht
und, ja, das heißt, wir sind nicht aus der Pflicht.
Aber, ach, lasst mir diesen Moment in ihrem lila Licht...“
Der säkulare Frieden stiftende Engel wird mit Komm-Rufen angefleht, die Krise durch einen erlösenden Rausschmiss zu beenden und damit die Menschen von sich selbst zu erlösen. Auch in diesem Text wird deutlich, dass der Verlust von Komfort und das Einsetzen von Reue die negative Seite einer notwendigen Veränderung sind. Die knappe Zeit wird ebenso betont wie die Möglichkeit, dass sich die ersehnte Ankunft hinauszögert bzw. dass sie nie stattfindet. Die Anrufung der transzendenten Figur führt somit letztlich, wie in der Offb, zu einem ethischen Appell. Dennoch wird das „lila Licht“ der imaginierten Ankunft zu einer tröstenden Ermöglichung dieses neuen Handelns. Insofern denke ich, dass dieses Beispiel aus dem aktuellen kulturellen Kontext zeigt, welche positive Rolle apokalyptisches Denken erfüllen kann: Die Vorstellung einer transzendenten und in ihrer Entrücktheit fast unwirklichen Realität, die verändernd auf die Gegenwart einwirkt, verhilft dazu, die Gegenwart in neuem Licht wahrzunehmen und den Blick auf die Möglichkeiten, die noch bestehen, zu lenken, so unwirklich sie auch scheinen.