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Der "Name": Ein biblisches Äqivalent zu "Identität"?

Der biblische Gedanke, der dem Begriff der Identität am nächsten steht, ist der »Name«. Aber dabei zeigen sich Ähnlichkeiten und Unterschiede. Am wichtigsten: den eigenen Namen bekommt man zugesprochen. Man sucht ihn sich nicht aus. Und wenn man es doch versucht, geht es schief.

Published onFeb 28, 2019
Der "Name": Ein biblisches Äqivalent zu "Identität"?
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Wer eine/r ist und was das Wesen und die Bestimmung eines Menschen ist, wird in der Bibel (auch) mit dem »Namen« ausgesagt: Adam, der Erdling; Eva, die Lebensmutter; Kain, der Erworbene; Seth, der Steckling; Jakob der Fersenhalter; Israel, der Fürst Gottes; Mose, der (aus dem Todeswasser) Herausgezogene. Und wenn sich der Status eines Menschen oder seine Lebenssituation ändern, dann ändert sich nicht selten auch der Name: Abram – Abraham; Sarai – Sara; Naemi – Mara (Ruth 1,20); Simon – Petrus usw.1 Der Name steht in äußerster Konzentration für die Geschichte eines Menschen. Das ist ein zentrales Konzept, das sich vom ersten bis zum letzten Buch der Bibel verfolgen lässt.

»Name« bedeutet Ansprechbarkeit. Indem die Geschichte eines Menschen im Namen zusammengefasst ist, wird sie in erreichbare Nähe gebracht. »Mit dem Namen kann man anreden, rufen, beschwören, Einfluss ausüben, Macht bekommen.«2 Als Adam den Tieren Namen gibt (Gen 2,20), beendet er ihren Status als Naturwesen und setzt sie zu sich in Beziehung.

Eigener vs. geschenkter Name

Zum ersten Mal versuchen Menschen mit dem Bau des babylonischen Turmes sich »selbst einen Namen zu machen« (Gen 11,4). Die Situation ist geradezu klassisch: Es beginnt damit, dass sie »aus dem Osten aufbrachen«: Der Aufbruch an einen neuen Wohnort ist ein Moment der Verunsicherung, des Verlustes von Heimat, der Unbehaustheit. In dieser Situation des Umbruchs soll der große Turm als identitätsstiftendes Symbol für neuen Zusammenhalt sorgen: »Wir werden sonst zerstreut über die ganze Erde.« Aber der identitäre Impuls misslingt nicht nur, er bewirkt gerade das, was er verhindern soll. Die Menschen werden von dem eingeholt, was sie gefürchtet haben. Das Ergebnis ist die Zerstreuung. Denn selbstgewählte Identität braucht ein Gegenüber, um sich abzugrenzen. So ist es nur konsequent, wenn die angepeilte Einheit sich am Ende in viele kleine Identitäten – also Nationen – aufspaltet, die einander nicht mehr verstehen und sich in Abgrenzung voneinander definieren. Und nun bekommt auch die Stadt ihren Namen, der bis zum letzten Buch der Bibel immer wieder auftauchen wird: Babel – Verwirrung.

Nicht zufällig beginnt im nächsten Kapitel die Kontrastgeschichte Abram/Abrahams. Angesichts der identitären Bewegung, die sich um den Turm zu sammeln versucht, beruft Gott Abraham und verspricht ihm nicht zuletzt einen »großen Namen«. Dieser Name ist jedoch ausgerechnet mit dem Verlust genau dessen verbunden, was die Identität eines antiken Menschen ausmachte: Abraham soll sein Land ebenso verlassen wie Familie und Sippe. Das ist ein Bruch, der tiefer kaum gedacht werden kann:

»Nach seinem Selbstverständnis verteidigte der antike Bürger das Land seiner Ahnen, die zugleich seine Götter waren. Seine Vorfahren waren untrennbar verbunden mit dem Boden, auf dem die Stadt stand. Diesen Boden zu verlieren war gleichbedeutend mit dem Verlust der Familiengötter. […] Bei der Verteidigung der Stadt kämpfte der Bürger folglich für den Kern seiner Identität. Religion, Familie und Territorium waren untrennbar verbunden, eine Kombination, die den antiken Patriotismus in eine überwältigende Leidenschaft verwandelte.«3

Gerade weil Abram der neue Name verheißen wird (und damit die neue Geschichte, in die er gestellt wird und die von nun an den roten Faden der Bibel bilden wird), ist er nicht mehr angewiesen auf den Versuch, sich durch aufwendige (in diesem Fall: nationale) Symbole eine Identität aus eigener Produktion zuzulegen. Er bekommt sie ja extra nos, von dem alternativen Gott, der weder die Familie, noch die Kultur, noch das Staatswesen verkörpert und stattdessen den abgeschlossenen babylonischen Identitätskosmos immer wieder aufbricht. Gerade so werden Abraham und seine Nachkommen zum Segen für die Völker werden.

Diese Linie könnten wir nun durch das ganze Alte Testament hindurch verfolgen. Insbesondere die Offenbarung des Gottesnamens wird von hier aus gut verständlich. Wenn nämlich Gott Menschen seinen Namen anvertraut, dann macht er sich einerseits erreichbar und ansprechbar. Er ist nicht mehr unklar, vieldeutig und dunkel, sondern bekommt Konturen. Menschen können mit ihm eine gemeinsame Geschichte haben. Andererseits öffnet dies auch viele Möglichkeiten des Missbrauchs und des Missverständnisses. Menschen können versuchen, Einfluss auf Gott zu bekommen, ihn gezielt misszuverstehen und Macht über ihn zu gewinnen. Wie wir alle wissen, sind solche Versuche eher die Regel als die Ausnahme.

Wir wenden uns aber gleich dem Neuen Testament zu, weil auch dort die Frage nach der Quelle der Identität eine Schlüsselfrage ist.

Die Versuchung des Übermenschlichen

In der Geschichte von Taufe und Versuchung Jesu geht es klar erkennbar um Fragen der Identität, auch wenn das Wort »Name« in dieser Passage nicht fällt. Dass Gott Jesus seinen Namen zugesprochen hat, wird hier nicht behauptet, sondern erzählt. Als er nach seiner Taufe aus dem Wasser auftaucht, hört er die identitätsstiftende Anrede: »Du bist mein geliebter Sohn« (Mk 1,11 et par.).

Auch diese zugesprochene Identität ist mit einem Bruch verbunden, denn die Taufe des Johannes ist eine Aktualisierung der entscheidenden Durchquerungen der Todesgewässer von Schilfmeer und Jordan beim Exodus (vgl. 1 Kor. 10,2). Sie hat damit nicht nur an der Verheißung der Freiheit teil, sondern ebenso am Nein zur Sicherheitsverheißung des pharaonischen Unterdrückungssystems, die den befreiten Sklaven im Rückblick oft so verlockend erschien. Auf die Identifikation Jesu mit dem riskanten Auszug aus dem »Sklavenhaus« in das verheißene Land der Freiheit antwortet Gott mit dem Geschenk eines neuen Namens. Dieser neu verliehene Name muss anschließend seine Kraft bewähren, weil der Versucher – wie seinerzeit im Paradies – sofort danach trachtet, diese für ihn unerreichbare Identität zu untergraben. Jesu Versuchungen kreisen letztlich um die Frage nach Quelle und Art seiner Identität (vgl. Mk 4, Lk 4).

Es ist kein Zufall, dass zwei der drei Versuchungen (wie der babylonische Turm) mit einer auch räumlich erhöhten Perspektive verbunden sind. Der Blick von der Tempelzinne herab auf die winzigen Menschlein im Vorhof trägt in sich schon die Versuchung, das menschliche Maß zu verlieren. Erst recht der Blick von einem »sehr hohen Berg« aus verleitet zum Eindruck, aus göttlicher – oder zumindest kaiserlicher – Perspektive auf »alle Reiche der Welt« herabzuschauen. Die Versuchung besteht hier also nicht nur darin, sich seine Identität vom Falschen geben zu lassen – vom Satan, der biblisch mit dem Gewalt- und Unterdrückungssystem konnotiert ist. Auch inhaltlich taucht hier wieder die alte paradiesische Versuchung des Wie-Gott-sein-Wollens auf.

Name und Macht: Der Name über allen Namen

Auf den Begriff gebracht hat das Paulus im Philipperbrief. Im Christushymnus von Phil 2 zeichnet er zunächst den Weg Jesu in die äußerste Erniedrigung am Kreuz nach. Für den Messias Jesus blieb die Gottessohnschaft dauerhaft ein Geschenk. Er verzichtete darauf, sich das Gott-gleich-Sein als »Raub« anzueignen (Phil 2,6). Damit unterscheidet er sich signifikant sowohl von Adam wie auch vom Caesar, dessen behauptete Göttlichkeit ihre Basis im nicht endenwollenden Beutemachen des Imperiums hat.4 Der Weg des konsequenten Verzichts auf eine solcherart erbeutete Identität führte schließlich ans Kreuz, in die Situation extremer Unbehaustheit, an den tiefsten Punkt menschlicher Erniedrigung.

An dieser Stelle wird sichtbar, dass Name bzw. Identität und Macht auf komplexe Weise zusammenhängen. Es ist der verliehene Name, der Jesus die Macht gibt, den Versuchungen zu widerstehen. Macht entspringt zuerst und zuletzt aus dem Wissen darum, wer man ist. Das Vertrauen in seine zugesprochene Identität befähigt Jesus zu seiner Praxis der Heilung und Befreiung. Auf der anderen Seite steht aber immer noch die Macht der selbst erkämpften gott-losen Identität, die sich im Imperium Romanum (und all seinen Vorgängern und Nachfolgern) konzentriert. Am Kreuz kommt es zum finalen Aufeinandertreffen dieser beiden Konzepte von Identität und Macht.

Dass Christus »sich entäußerte« (Phil 2,7, wörtlich: sich entleerte, ἐκένωσεν), »sich selbst erniedrigte« (Phil 2,8), bedeutet, dass er den verliehenen Namen nicht in eine von ihrem Ursprung unabhängige Macht transformierte, die zu seinem eigenständigen Besitz (»Beute«) und nach seinem Belieben einsetzbar geworden wäre. Er »macht sich« also sogar in dieser Situation absoluter Unbehaustheit selbst keinen Namen, sondern bleibt dauerhaft auf die Bestätigung seines zugesprochenen Status durch Gott angewiesen. Und genau das geschah auch: auf die tiefste Erniedrigung am Kreuz antwortete Gott mit der Erhöhung und dem »Namen, der über allen Namen ist« (Phil 2,9).

Gott wiederholt am Ende des Lebensweges Jesu gleichsam die Namensverleihung vom Anfang dieses Weges, diesmal aber endgültig und unrevidierbar. Jesus bekommt den Kyrios-Titel verliehen und nimmt damit dem Caesar endgültig die Legitimität als Herr der Welt.

Utopische Identität

Schauen wir nun noch voraus ins letzte Buch der Bibel, dann entdecken wir dort einen geheimen Namen, der – natürlich – wieder verliehen wird, nämlich denen, die »überwinden« bzw. »siegen« (über die imperiale Versuchung): »Ich werde ihm einen weißen Stein geben, in den ein neuer Name eingraviert ist, den niemand kennt außer dem, der ihn bekommt« (Offb 2,17). Dieser Name ist noch geheim; auch sein Träger wird ihn erst zu gegebener Zeit erfahren. Damit korrespondiert die Verheißung am Ende der Offenbarung, dass die Bewohner des Neuen Jerusalems den Namen Gottes auf ihrer Stirn tragen.5 Die eigentliche Identität eines Menschen ist also noch verborgen; sie ist eine Verheißung. In einer anderen Begrifflichkeit könnte auch gesagt werden: Sie ist utopisch. Es »gibt« sie noch nicht, sie ist das Geheimnis, das sich erst noch enthüllen wird, und über das auch sein Träger keine Macht hat. Dieses Geheimnis verbindet ihn mit Gott und dem »Lamm«, also Jesus. Sie werden sich am Ende als unauflöslich mit ihm verbunden herausstellen. Und auch dann bleibt es dabei, dass der Name verliehen wird; dass sich einer selbst seinen Namen gibt, ist zu keiner Zeit vorgesehen.

Der verliehene Name markiert die Grenze für jede Übergriffigkeit: Er ist Platzhalter für das unverfügbare Geheimnis des Menschen, das auch für ihn selbst nicht zur Disposition steht. Gott ist Garant für die grundsätzliche Offenheit, Einmaligkeit und Unverfügbarkeit jedes Menschen. Damit ist er die Quelle menschliche Würde. Dass der utopische Name dem verliehen wird, der in der Welt babylonischer Identitäten »überwindet«, also der Versuchung der Selbstdefinition widersteht, ist dann konsequent. Auch persönlich kann der Versuch, das eigene Geheimnis vorzeitig aufzudecken und sich selbst mit einem Namen zu identifizieren, nur mit einer Lüge (und Schlimmerem) enden.

Name als Grundbedürfnis

Aus diesem biblischen Bedeutungsgeflecht ergibt sich, dass die Bezeichnung mit einem Namen zu den elementaren menschlichen Bedürfnissen gehört. Zu wissen, wer man ist und welche Geschichte uns mit wem verbindet, ist grundlegend für die Handlungsmöglichkeiten von Einzelnen wie von Kollektiven. Am deutlichsten drängt sich diese Einsicht für menschliche Kollektive jeder Art auf: Nur wenn sie ihren »Namen« kennen, also ihr Woher, Warum und Wozu, können sie ihre Menschen zu einem gemeinsamen Akteur verbinden. Nur dann können sie sich aber gegebenenfalls auch von der alten Identität lösen und nach einem neuen Namen Ausschau halten.

Weniger deutlich stellt sich dies auf den ersten Blick bei Personen dar. Trotzdem ist die Einheitlichkeit des ja angeblich unteilbaren Individuums gerade eben keine Selbstverständlichkeit. Nicht erst das noch nicht lange bekannte Phänomen multipler Persönlichkeiten weist in diese Richtung. Ob die Identität eines Menschen mehr ist als der Schnittpunkt seiner Rollen und Beziehungen ist ja durchaus eine Frage. Im Zeitalter des sich immer neue Räume erschließenden Marktes steht auch die menschliche Einheitlichkeit zur Disposition. Wenn der Markt Menschen stets selektiv in bestimmter Funktion anspricht, wird das auf die Dauer auch in der Struktur der menschlichen Psyche und in den menschlichen Handlungsmöglichkeiten seine Spuren hinterlassen. Wenn ein Mensch nicht mehr weiß, wer er ist und wofür er steht, ist er schutzlos den gesellschaftlichen und ideologischen Machtverhältnissen ausgeliefert.

Deshalb scheint es ein menschliches Grundbedürfnis nach dem zu geben, was biblisch mit dem »Namen« gemeint ist. Dies ist eine Leerstelle in der gegenwärtigen gesellschaftlichen Debatte über die Suche nach Identität. Daraus erklärt sich die immer neue Verwunderung, dass eben nicht nur ostdeutsche »Looser« ihr Heil in völkischen Orientierungen suchen, sondern auch eher intellektuelle Figuren aus dem Spektrum des ehemals gutbürgerlichen Konservatismus. Aber offensichtlich werden auch diejenigen von der Sorge um die Identität umgetrieben, die materiell nicht unbedingt auf dem absteigenden Ast angesiedelt sind.

Der Markt jedenfalls verleiht gerade keinen Namen. Er kennt keine Vergangenheit und keine Zukunft, und deshalb kennt er auch die Kunden nur in ihrer jeweiligen ökonomischen Funktion. Henry Fords Verdikt »History is bunk«6 hat das prägnant formuliert. Wenn immer mehr menschliche Interaktionen tendenziell nur noch als Warenbeziehungen verstanden werden, werden die zugehörigen Individuen zu namenlosen und austauschbaren Rollen. Sie müssen sich deshalb ihre eigene Identität willkürlich wählen. Sie tun das dann mit einem Rückgriff auf scheinbar natürliche Identitäten wie Volk und Nation oder durch die Konstruktion artifizieller Alleinstellungsmerkmale.

Am Ende baut jede/r sein/ihr eigenes Türmchen.

Bibliographie

Ford, Henry. „History Is Bunk. What Difference Does It Make How Many Times the Ancient Greeks Flew Their Kites?“ The New York Times, 29. Oktober 1921, Abschn. Archives. https://www.nytimes.com/1921/10/29/archives/history-is-bunk-says-henry-ford-what-difference-does-it-make-he.html.

Miskotte, Kornelis Heiko. Biblisches ABC. Wider das unbiblische Bibellesen. Neukirchen-Vluyn: Neukirchener, 1976.

Siedentop, Larry. Die Erfindung des Individuums. Der Liberalismus und die westliche Welt. Stuttgart: Klett-Cotta, 2015.

Comments
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Katrin Juschka:

Hier würde ich mir etwas mehr begriffliche Differenzierung wünschen, um besser verstehen zu können: Welcher Name wird Jesus denn zugesprochen? „Sohn“ ist ein familialer Beziehungsbegriff oder eine Metapher. Wird die Sohnesbezeichnung zum Titel vs. Personen-/Eigenname (nomen proprium) vs. Gottesname? Oder geht es hier um den Jesus-/Jeschua-Namen?

Katrin Juschka:

Die Nationen-Begrifflichkeit ist eine starke Transformation der Erzählung in die Gegenwart. Ist das so gewollt? Die Erzählung selbst bleibt bei der Begrifflichkeit von mehrmals „Sprache“ und einmalig „Volk“. Ein spannender Gedanke, dass das Sich-nicht-mehr-verstehen mit Zerstreuung verbunden ist, die Sprachen also der Grund für Veränderung am Status sind – von „ein Volk“ zu „kein Volk“ mehr.

Katrin Juschka:

Was mit (gezieltem) Missverständnis gemeint ist, wäre interessant zu hören, darunter kann ich mir in Bezug auf die Namenstheologie des Gottesnamens nichts vorstellen. Ein konkretes Beispiel für die Regel und die Ausnahme?