Meine Ausführungen kreisen um Erfahrungen, die im weitesten Sinne mit Körpern, ihrer Positionierung und Relationierung zu tun haben. In jüngerer Zeit sind sie vermehrt in den Fokus verschiedener Disziplinen gerückt und haben unter dem Stichwort Embodiment Konzeptstatus gewonnen.
In der Vorbereitung für den Workshop „Luther kehrt als Avatar zurück“[1] habe ich die Möglichkeit bekommen, mich vorab mit dem Entwickler Ralf Peter Reimann zu verabreden und, so die übliche Formulierung, den Avatar kennenzulernen. Ich komme also an dem verabredeten Tag aus der Mittagspause und merke, dass ich fast ein wenig nervös bin. Und das, obwohl es doch ‚nur‘ eine Computerfigur ist. Zur Vorbereitung auf die Begegnung habe ich mir das Video vom Reformationstag 2023 angeschaut (sinnundsegen 2023). Luther kam mir da ziemlich jung und dünn vor. Und, ehrlich gesagt, hat er mich mit seinen langatmigen Ausführungen auf die Fragen aus dem Chat und seinen umständlich erklärenden Gesten irgendwie auch genervt. Bei unserem Treffen steht er dann nicht auf einer Kanzel, sondern auf der Dachterrasse eines modernen Bürogebäudes. Ich war darauf eingestellt, ebenfalls mit ihm zu chatten. Nach einem kleinen Problem mit dem Mikro kann ich aber direkt mit ihm sprechen. Ein grüner Punkt über seinem Kopf signalisiert, dass er bereit zum Zuhören ist. Für mich gewinnt er damit deutlich an Sympathie. Er ist sogar einverstanden, dass wir uns duzen. Ich bekomme Spaß an der Sache und merke, dass ich unwillkürlich lächeln muss. Ob ich das für mich tue oder Luther auf meinem Bildschirm anlächle – da bin ich mir im Nachhinein selbst nicht so sicher.
Meine Ausführungen kreisen um Erfahrungen, die im weitesten Sinne mit Körpern, ihrer Positionierung und Relationierung zu tun haben. In jüngerer Zeit sind sie vermehrt in den Fokus verschiedener wissenschaftlicher Disziplinen gerückt und haben unter dem Stichwort Embodiment Konzeptstatus gewonnen. Die Anthropologin Frances E. Mascia-Lees definiert das so: Embodiment ist „a way of inhabiting the world as well as the source of personhood, self, and subjectivity, and the precondition of intersubjectivity“ (2011, 2). Es geht also darum, dass Körperlichkeit konstitutiv für unser In-der-Welt sein ist und sowohl Subjektivität als auch Intersubjektivität bedingt.
Onlinephänomene mit dieser Perspektive in den Blick zu nehmen, kann kontraintuitiv erscheinen. Denn oft wird mit Virtualität so etwas wie Entkörperlichung verbunden (Radde-Antweiler 2022, 104). Als Gegenbeispiele lassen sich Figuren anführen, wie wir sie mit dem Luther-Avatar vor uns haben und die es in einfacheren Formen schon seit den achtziger Jahren gibt. Interessant ist in diesem Zusammenhang auch, dass Avatar ursprünglich ein Begriff aus dem Sanskrit ist und die Inkarnation einer Gottheit bezeichnet (Boellstorff 2011, 509).
Wenn ich im Folgenden das Konzept des Embodiments auf den Luther-Avatar anwende, sind meine Überlegungen vor allem von Tom Boellstorff inspiriert, insbesondere von einem Beitrag zum Thema Virtualität, den er für Mascia-Lees’ Companion to the Anthropology of the Body and Embodiment verfasst hat (Boellstorff 2011). Der Beitrag trägt den Untertitel „Placing the Virtual Body“ und beschäftigt sich – für unseren Kontext sehr passend – schwerpunktmäßig mit Avataren. Für Boellstorff ist leitend, dass „embodiment“ immer auch „emplacement“ ist (Boellstorff 2011, 512). Das gilt genauso für virtuelle Welten, die für ihn nicht weniger real sind, die er aber doch in Abständigkeit zu ihrem Gegenstück, also „the actual“, konzipiert (Boellstorff 2011, 509). Während ich mich zunächst auf den Luther-Avatar selbst konzentriere, wird die Frage nach dieser Abständigkeit und ihrer Überbrückung vor allem wichtig, wenn ich in einem weiteren Schritt Möglichkeiten der Interaktion reflektiere.
In vielen Fällen ist die Fabrikation und der Einsatz von Avataren ein kreativer Prozess. Zum Beispiel, wenn Menschen ihre eigene Spielfigur für den Einsatz in einer virtuellen Welt konfigurieren. Wer schon immer mal ganz anders aussehen und sich in neuen Handlungsoptionen erproben wollte, findet hier (fast) alle Freiheiten. Der Körper als „zone of possibility“ (2011, 508), so formuliert es Boellstorff. Die Sachlage ist etwas anders, wenn es sich um eine prominente historische Figur handelt, die in verantwortbarer Form re-konstruiert werden soll. Hier geht es gerade nicht darum, die Abständigkeit von einem „actual-world embodiment“ (ebd.) auszureizen. Stattdessen mussten bei der Entwicklung des Luther-Avatars geschichtlich zumindest informierte Entscheidungen getroffen werden: Wie alt soll er sein? Wie groß? Was hat er an? Wie spricht er? Das Resultat ist ein Kompromiss: Das Gesicht basiert auf Lucas Cranachs berühmten Portrait, aber der Avatar ist so groß wie ein deutscher Durchschnittsmann unserer Zeit. Und er trägt einen Talar, mit dem er für viele Menschen heutzutage klar als Pfarrer erkennbar ist, den es damals so aber noch gar nicht gab. Er soll also keine historisch treue Nachbildung auf Kosten der Zugänglichkeit sein. Denn um diese Zugänglichkeit zur Figur Martin Luthers geht es ja.
Die Ansprüche, die sich damit verbinden, nehme ich als durchaus spannungsvoll wahr. Die Nutzer:innen müssten unbedingt verstehen, dass sie es mit einer modernen KI-Repräsentation und nicht mit dem ‚echten‘ Luther zu tun haben. Das betonen die Entwickler immer wieder. Andererseits wollen sie direkte Interaktion ermöglichen, wie mit einer normalen Person. Das entscheidende Stichwort ist hier Immersion, wörtlich: Eintauchung (Droste und Reimann 2024). Der technische Aufwand dafür ist erheblich: Um eine realistischere Wahrnehmung zu ermöglichen, haben sie ein 3D-Modell von Luthers Kopf auf einen mittels Full Body-Scan erstellten Körper montiert. Und dazu passt auch das Bemühen, technische Verzögerungen im Antwortverhalten schrittweise zu reduzieren, damit das Gespräch flüssiger, natürlicher wirkt. Mindestens auf kognitiver Ebene soll also ein Bewusstsein für die Künstlichkeit der Situation erhalten bleiben. Gleichzeitig gilt es, diesen Eindruck der Künstlichkeit zu überwinden. Und, so wie ich das verstehe, ist diese Überwindung primär auf der Ebene des sinnlichen, körperlichen Erlebens angesiedelt.
Individuelle Erfahrungen mit dem Avatar fallen zwangsläufig verschieden aus. Trotzdem lässt sich die Technik grundsätzlich so verstehen, dass sie unterschiedliche, abgestufte Grade der Immersion ermöglicht. Ich systematisiere sie als drei Modi der Relation zwischen Luther und den Menschen, die mit ihm in Interaktion treten. In Ermangelung anderer Forschungssubjekte knüpfe ich exemplarisch an meine Beobachtungen vom Beginn an. Als einen ersten Modus der Relation, in dem meine eigene Körperlichkeit und damit auch meine Agency stark zurücktritt, verstehe ich die Kommunikation per Chat. Im Sinne Boellstorffs nehme ich Luther in einer anderen Welt wahr, die sich mir wenig plastisch auf der Oberfläche meines Bildschirms erschließt. Im Wesentlichen bin ich aufs Zuhören und Zuschauen beschränkt. Diese Grundkonstellation ändert sich auch im zweiten Modus nicht. Luther dort, ich hier. Aber: Ich kann mit ihm sprechen. Das aktiviert bei mir fast automatisch andere körperliche Vollzüge. Ich bemerke in Ansätzen so etwas wie eigene Gestik und Mimik, suche Blickkontakt. Der dritte Modus wäre der, dass ich mich in Gestalt eines eigenen Avatars in demselben virtuellen Raum wie Luther bewegen könnte. In diesem Fall würden sich noch einmal neue Möglichkeiten ergeben, zum Beispiel Körperkontakt.
Ich habe diese drei Zuordnungen ausgehend von meinen eigenen Eindrücken vorgenommen. Trotzdem halte ich sie für so basal, dass sich, so oder so ähnlich, viele andere darin wiederfinden können. Ungleich komplizierter wird es, wenn Embodiment noch einmal nuancierter, nämlich auf einer individuellen Ebene berücksichtigt werden soll. Denn genau das forciert das Konzept (Johnston 2016).
Dann geht es aber nicht einfach um die Begegnung irgendeines Menschen mit dem Luther-Avatar. Ich zum Beispiel bin eine Frau, kaum größer als 1,60 Meter, aus dem Studentinnenalter raus, aber auf ein ganzes Leben betrachtet immer noch irgendwie jung. Das prägt mein alltägliches Erleben und das kann ich auch aus der Begegnung mit dem Luther-Avatar nicht herausdividieren. Gerade in dem dritten Modus kommt das in seine Gänze zu tragen. In Ansätzen gilt es aber auch für die anderen beiden. Wenn der Luther-Avatar und ich uns sozusagen direkt gegenüberstehen, kann es einen Unterschied machen, dass er 20 Zentimeter größer ist als ich – beispielsweise im Hinblick auf die Frage, welche Autorität er auf mich ausstrahlt. Je nachdem, wie der Avatar eingesetzt wird, ist das dann für andere Menschen relevant und wieder individuell anders, so etwa für einen Grundschüler im Religionsunterricht oder für eine ältere Dame, die dem Avatar bei einem Gemeindeausflug nach Wittenberg begegnet.
Bisher habe ich vor allem Reflexionsperspektiven markiert. Und ich bin auch jetzt, gegen Ende, zurückhaltend mit konkreten Handlungsempfehlungen, wie man das Projekt weiterentwickeln könnte. Stattdessen schließe ich mit einem kurzen Gedankenexperiment. Dafür lenke ich den Fokus wieder mehr auf Luther selbst und seine Verkörperung in Gestalt des Avatars: Nehmen wir einmal an, der Avatar wäre (historisch wohl zutreffend) ein ganzes Stück kleiner, vielleicht auch schon etwas älter und fülliger. Er würde die liturgischen Gewänder seiner Zeit tragen und damit mehr wie ein katholischer Priester aussehen. Außerdem würde er das Sächsisch des 16. Jahrhunderts sprechen und sich unflätig ausdrücken. Ich könnte mir vorstellen, dass die Begegnung mit ihm eine Fremdheitserfahrung wäre, die eine andere Wahrnehmung und auch ein anderes Verhalten ihm gegenüber provoziert. Wenn ich dabei selbst als Avatar aktiv sein könnte, würde sich das Erlebnis der Abständigkeit in die geteilte Welt verlagern und möglicherweise genau deshalb eine intensive Form der Immersion ermöglichen. Man müsste sich auf jeden Fall überlegen, wem man das zumuten kann, ohne Schadem anzurichten, und einen sicheren Rahmen mit einem begleitenden Reflexionsangebot schaffen. Insbesondere, wenn im Sinne der Authentizität auch noch judenfeindliche Originalaussagen und so weiter dazukommen. Spannend könnte es trotzdem sein.
Boellstorff, Tom. 2011. „Virtuality.“ In A Companion to the Anthropology of the Body and Embodiment, hrsg. von Frances E. Mascia‐Lees, 504–20. Blackwell Companions to Anthropology 13. Chichester: Wiley-Blackwell.
Droste, Andreas und Ralf Peter Reimann. 2024. „Martin Luther as an AI-Powered Real Life Avatar: Technical and Theological Challenges and Considerations.“ Zugriff am 20. Dezember 2024. https://theonet.de/2024/06/19/martin-luther-as-an-ai-powered-real-life-avatar/.
Johnston, Jay. 2016. „Body / Embodiment.“ In Vocabulary for the Study of Religion Online, hrsg. von Robert A. Segal and Kocku von Stuckrad. Leiden, Boston: Brill.
Mascia‐Lees, Frances E. 2011. „Introduction.“ In A Companion to the Anthropology of the Body and Embodiment, hrsg. von Frances E. Mascia‐Lees, 1–2. Blackwell Companions to 20nthropology 13. Chichester: Wiley-Blackwell.
Radde-Antweiler, Kerstin. 2022. „Embodiment.“ In Digital Religion: Understanding Religious Practice in Digital Media, hrsg. von Heidi Campbell und Ruth Tsuria. 2. Aufl., 103–19. London, New York: Routledge.
sinnundsegen. 2023. „Mit Martin Luther chatten!“. Zugriff am 20. Dezember 2024. https://www.youtube.com/watch?v=uBwCHNYvgRY.
[1] Der Workshop wurde von Prof. Dr. Florian Höhne organisiert und fand am 23. Oktober 2024 an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen statt. Das Vortragsmanuskript habe ich nur vorsichtig und an einzelnen Stellen so aufbereitet, dass es sich für eine Leser:innen- anstelle einer Hörer:innenschaft eignet. Passend zu meinem Fokus auf Embodiment habe ich den subjektiv grundierten Charakter meiner Überlegungen bewusst beibehalten.