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Collage kritischer Theologie. Systematisch-theologische Erkundungen

Ausgehend von Corona-Protesten in Sachsen erkundet der Text Möglichkeiten und Facetten theologischer Arbeit als Kritik und skizziert einen Stil offener Theologie.

Published onApr 30, 2021
Collage kritischer Theologie. Systematisch-theologische Erkundungen
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1. Aus aktuellem Anlass: Corona-Kritik in Sachsen

Zuletzt konnte man bei den Querdenken-Demonstrationen in Leipzig und Dresden die Verwendung religiöser Symbole, Gesten und Sprache beobachten.1 So wurden beispielsweise Kruzifixe neben Plakaten in die Menge gehalten und unter Rekurs auf christlich konnotierte Werte wie Nächstenliebe und Geschwisterlichkeit gegen die Einschränkung von Grundrechten im Zusammenhang mit den Corona-Maßnahmen demonstriert. Diese Kommunikation (mit teils religiösen Symbolen) ist aus Sicht der Protestierenden verbunden mit einer kritischen Praxis. Sie sehen sich als die eigentlich „kritische Öffentlichkeit“.

Zunächst kann man Argumentationsmuster wiedererkennen, die an wissenschaftliche Gesellschafts- und Erkenntniskritik erinnern: die Relativierung wie Offenlegung von Wissens- und Machtansprüchen, die Artikulation von Gegennarrativen zu aktuellen Machtverhältnissen, die Anklage von Asymmetrien und Ausschließungen aus Diskursen. Zudem entstehen auch spezifisch theologische Fragen, da in diesen Formen des „Widerstands“ Bezüge zu Glauben, Religionsgehalten und -gesten, Hoffnungen und Ängsten aufgenommen werden, die die Gegenwart prägen. Welche Formen von religiöser Symbolik werden hier in Anspruch genommen und verkörpert? Und welche Funktion erfüllen diese Symbole in der zum Ausdruck gebrachten Kritik?

Bei diesen, aber auch schon bei früheren Protesten (bspw. Pegida) wird das Narrativ eines totalitär geprägten Wissensnetzwerkes entworfen, das sich nicht mehr produktiv irritieren lässt. Dieses „stabile“, weil nicht mehr irritierbare, Wissen wird zudem unkritisch mit politischen Forderungen und Machtansprüchen verknüpft. Damit wenden die Protestierenden die „Waffen” der Kritik gewissermaßen gegen diese selbst und stellen das Selbstverständnis kritischer Ansätze infrage.

Als Theolog:innen in Sachsen beschäftigen uns spätestens jetzt, aber auch mit Blick auf Pegida seit 2015, die Proteste, die Religion und religiöse Sprache für eine „kritische“ Opposition in Anspruch nehmen. Man könnte dieser Irritation entgehen, indem man die Vertreter:innen einfach als „dumm“, „verrückt“ oder „irrelevant“ verurteilt. Man kann sich aber auch durch sie und die mit ihnen verbundenen Phänomene herausfordern lassen, kritisch und kreativ, ohne zugleich der Gravitation ihrer politisch-kritischen Inszenierung nachzugeben. Denn wir nehmen ebenfalls Anschluss an kritische Theorien, die es tatsächlich erlauben, verdeckte Wissens- und Machtgefüge zu offenbaren und zu dekonstruieren. Wir stehen ebenso in der Tradition einer religiösen Sprache. Diese Nähe sorgt für Unbehagen – fordert unsere Arbeit heraus. Es ist Zeit zu fragen, was wir unter kritischer Theologie verstehen wollen, angesichts einer selbsternannten „kritischen Öffentlichkeit“, die durch ihre teils religiöse Sprache und Symbolik sowie durch ihre (zumindest hier in Dresden) Koalition mit der Gruppe „Christen im Widerstand“ eben auch zu einer Herausforderung für Theologien wird.

2. Die Anfänge kritischer Theologie: Wo und wie entsteht Kritik?

Als denkende, handelnde und fühlende Menschen finden wir weder tabula rasa vor oder befinden wir uns in völlig flexiblen Strukturen. Unser Sprechen, Denken, Handeln und Darstellen unterliegt spezifischen Ordnungen, die wenigstens bis zu einem gewissen Maß entscheiden, was sich als erkennbar zeigt, gesagt werden kann, handhabbar oder darstellbar wird. Alltägliche Situationen sind voll von solchen Koordinierungsprozessen bzw. Ordnungen: ein Bus hält gemäß einem Fahrplan; unsere Sprache folgt eigenen Regeln, und wer diese allzu oft nicht oder nicht ausreichend beherrscht, rückt im Kommunikationsraum an den Rand. Solche Ordnungen ermöglichen und begrenzen Denk-, Sprech-, Handlungs- und Erscheinungsweisen von etwas oder jemandem; dabei verrichten sie ihre Ordnungsarbeit oft routiniert, selbstverständlich und damit in einer unterschwelligen Weise.

Kritik ist nun eine Aktivität, die diese Wirksamkeit oder Arbeit von Strukturen erhellt, aufdeckt und fraglich werden lässt. Sie ist in diesem Sinn eine Aktivität, die Grenzen sichtbar macht und skeptisch befragt, inklusive deren möglicher Überschreitung. Sie lenkt nicht nur Aufmerksamkeit auf herrschende Ordnungen bzw. Strukturen sowie die ihnen innewohnenden Macht- und Kräfteverhältnisse, die Leben regulieren. Sie wirft auch die Frage auf, ob diese Strukturierungen so selbstverständlich sind wie bisher eventuell vorausgesetzt wurde, oder ob sie anders möglich wären. Das heißt: Kritik bringt uns mit der Kontingenz herrschender Ordnungen in Kontakt, eingeschlossen ihrer Mechanismen der Unterwerfung, Subjektivierung und Sozialisierung, und fragt kreativ nach Alternativen. Was lässt sich hier, wo die Kontingenz aufscheint, gegebenenfalls entdecken, auffinden, erfahren oder entwickeln? Was muss hier womöglich auch an Verlust und Neubeginn riskiert werden?

Eine erste für uns relevante Frage an diesem Punkt ist: Woher kommt diese kritische Aktivität? Wo beginnt die Kritik? Eine mögliche, tendenziell eher mit der Aufklärung verbundene, Antwort darauf war es, dass subjektive Innen der einzelnen Menschen als eine Quelle der Emanzipation (des selbstbestimmten Handelns) zu bestimmen, von dem geleitet dann Kritik beginnt, das heißt ein Herausgehen aus selbstverschuldeter Unmündigkeit. Damit verband sich eine Reflexion über Grenzen, innerhalb derer (auch Religion) vernünftigerweise verbleiben sollte, um nicht durch falsche Schwärmerei oder Spekulation sozial abträglich zu werden.

In dem Maße, wie diese moderne Souveränität des einzelnen Menschen (im linguistic turn oder in Anbetracht konstitutiver Körperlichkeit etwa) fraglich wurde, traten andere Antworten auf die Frage auf, wo Kritik entsteht:

  • In praktischer Hinsicht etwa entsteht Kritik, wenn Handlungsroutinen unterbrochen werden oder fehlschlagen, weil sich etwas Unvorhergesehenes einstellt und die bisherigen Muster nicht mehr greifen.

  • In dialektischer Hinsicht tritt Kritik auf, weil eine Handlung oder Bewegung sich selbst überschreitet, bisherigen Strukturen entgegentritt und beginnt, eine andere Ordnung geltend zu machen.

  • In performativer Hinsicht tritt etwas Kritisches im (Re-)Produktionsprozess selbst auf: Die Reproduktion von bestehenden Normen führt sie in neue Kontexte, so dass sie sich dadurch in Raum und Zeit ausdehnen, aber zugleich dem Risiko aussetzen, anders gesehen, modifiziert, unterlaufen zu werden.

  • In Interaktions- und Kommunikationsprozessen treten grundsätzlich kritische Momente zutage. Das Andersvernehmen erzeugt (ungewollt) Differenzen, durch die sich die Grenzen dessen, was bisher gesagt wurde oder gesagt werden konnte, zeigen, und sich somit Sinn vervielfältigt und neue Bedeutungen entstehen. 

Alle diese Momente, in denen Kritik aufbricht, haben etwas gemeinsam: Eine Struktur wird nicht etabliert oder bestärkt, sondern im Gegenteil: Innerhalb gegebener Ordnungen des Denkens, der Sprache, des Handelns und der Sichtbarkeit tritt ein Riss, Bruch, eine Irritation bzw. eine Differenz auf. Wie durch einen Spalt fällt Licht auf eventuell bisher verborgene Ordnungen und Strukturen, und wie in einem Spiegel treten eventuelle Regulative hervor. Mit deren Kontingenz taucht zugleich die Frage nach ihrer kreativen Veränderung auf. Dort, in der Erfahrung der Differenz, liegt (formell betrachtet) ein möglicher Anfang von Kritik.

Es handelt sich dabei nicht einfach um eine zeitlich-konsekutive Reihenfolge; also zuerst Ordnung, dann Aufbruch von Differenz, dann gegebenenfalls kritisch-kreative Umstellung. Die Differenzerfahrung lässt sich präziser so verstehen, dass sie der Einsicht in die Ordnung – allgemeiner der Kenntnis von „etwas“ – vorausgeht. Differenz kann in diesem Zusammenhang als eine Art konstitutives Strukturphänomen verstanden werden. In Bezug auf Personen und ihre Identitäten bedeutet das: Ich kann von mir erst reden, wenn ich weiß, dass es auch etwas Anderes gibt. Das Andere ist insofern Grundlage für alles, was ich mit mir assoziiere. Dieser Umstand wird mir natürlich insbesondere dann klar, wenn ich eine Erfahrung mache, die feste Bilder meiner Identität infrage stellt und ich plötzlich sehe, wovon diese schon immer abhängt. Eine grundsätzliche Möglichkeit mit dieser Differenzerfahrung umzugehen, ist eine kritische – eine hinterfragende, die sich auch dem Schmerz in solchen Erfahrungen stellt. Aber es ist dann eben nur eine Möglichkeit, denn man kann ebenso gut daran scheitern, sozusagen seine Identität verlieren, oder aber das, was man für sein eigenes Selbst hält, verhärten und sich so gegen Irritationen immunisieren.

Neben dem Aufbrechen von Kritik in Differenzerfahrungen lässt sich vor diesem Hintergrund eine weitere Erfahrung oder Komponente benennen, die mit Kritik zu tun hat und für sie gegebenenfalls auch maßgeblich ist: die ruhige Distanz. Eine theoretische Betrachtung des Anfangs von Kritik braucht vielleicht gar nicht erst Erfahrungen differentieller Art. Ist nicht eine ruhige Distanz notwendig, um kritisch reflektieren zu können? Differenzerfahrungen sind aber von Grund auf unruhig. Kritik kann sich auf Differenz reflexiv beziehen, muss aber nicht (mehr) in die Differenzerfahrung involviert sein. Dann ist es aber auch denkbar, dass man sich ganz ohne die Erfahrung von Differenz in der Einsicht in die Differenz üben kann. Etwas polemisch: Das Phänomen der Differenz – als eine andere Seite von Identität – kann man auch verstehen, ohne erst durch eine Identitätskrise zu gehen. Das Nachdenken muss nicht zwingend durch eine solche Erfahrung bedingt sein. Damit wäre die Frage nach dem Woher der Kritik wieder offen, obwohl wir einen Weg, die Erfahrung von Differenz, skizzieren konnten. Es deutet sich aber auch an, dass der Anfang von Kritik nicht allein in Differenzerfahrungen liegt.

Schaut man mit einem differenztheoretischen Verständnis von Kritik auf Theologien, wird sichtbar, dass letztere eine eigene kritische Qualität besitzt und kritische Dynamiken entfachen kann. Denn Theologien nehmen Bezug auf Gott als das ganz Andere, wobei Gott menschlichem Denken stets voraus ist und dieses übersteigt. Für Theologien ist daher zunächst Selbsttranszendenz charakteristisch. In Worten, Handlungen und Gesten bedeutet Gott stets mehr und anderes als das, was dargestellt ist. Die Bezugnahme überschreitet, relativiert oder öffnet sich selbst.

Damit verbindet sich ein zweites Charakteristikum: ein Überraschungsmoment. Wenn Gott nicht „ausgedacht“ wird oder werden kann, dann gibt es in Bezugnahmen zu Gott eine Unverfügbarkeit, die sich positiverweise in ein Überraschungsmoment übersetzt. Gott kann nicht abschließend gefasst werden, stellt sich im Denken und Leben aber möglicherweise überraschend ein bzw. teilt sich mit. Die Selbsttranszendenz der Sprache, Praxis und Gestik der Bezugnahme auf Gott ist verwoben mit der überraschenden Ankunft bzw. dem Aufbrechen eines Anderen inmitten der eigenen Aktivität des Sprechens und Handelns selbst.

Insofern Theologie sich in diesem Sinn auf Gott als das Andere bezieht bzw. sich von dort her ergibt, gehört zu ihr maßgeblich ein Differenzmoment; Theologie verbindet sich mit einer Erfahrung von Differenz. Gottesbezüge verschieben sich stets hinsichtlich ihrer eigenen Praxis und – grundlegender – riskieren eine Annäherung an eine unendliche, unverfügbare Differenz, die gegenwärtige Strukturen aufbricht. Darin steckt eine Dynamik der Kritik. Denn in Bezug auf Gott wird eingeräumt, dass eigene Sprech-, Sicht-, und Handlungsweisen relativ sind; deren Grenzen treten hervor, und es wird die Frage aufgeworfen, wie hier nun anders gesprochen werden kann oder muss. Diese Erfahrung ist dabei mit einer Unverfügbarkeit verbunden, welche die Planbarkeit und Machbarkeit dieser Veränderung durchkreuzt.

Die Eigentümlichkeit christlicher Theologie ist dabei, dass sie nicht esoterisch verfährt, das heißt das Andere gerade nicht in Form einer Entweltlichung oder einer Bewegung „aus der Welt hinaus“ verfolgt. Der Modus ihrer Bezugnahme auf Gott ist vielmehr inkarnativ. Gott als das ganz Andere wird nachgefolgt in Bewegungen aus dem eigenen Innenraum hinaus, in die Welten und Wirklichkeiten, hinein in ihre überraschende Mannigfaltigkeit und ihren Detailreichtum. Gottes Spur steckt nicht in abstrakten Universalien, sondern in konkreten Details und Situationen gegenwärtiger Lebensbedingungen.

Das Aufbrechen von Differenz, die die christliche Theologie in ihrer Dynamik prägt, ereignet sich innerhalb gegebener Ordnungen, Diskurse, Regularien und Strukturen des Lebens und ist verbunden mit einer stets neuen und gegebenenfalls tieferen Bewegung in diese Welten und ihre Beziehungen hinein. Christliche Theologie als inkarnative Dynamik entfaltet so situationsbezogene kritisch-kreative Prozesse, in denen herrschende Strukturen in ihrer Relativität und Partikularität sichtbar werden und eine Sensibilität für alternative Lebensweisen entsteht.

Vor dem Hintergrund dieser kritischen Dynamik, die in theologischem Denken als reflexiver Praxis angelegt ist, stellt sich die Frage nach dem Wie: In welchen Formen wird die Entdeckung und Gestaltung dieser kritisch-kreativen Offenheit möglich? Die folgenden Überlegungen sammeln in Form einer unabgeschlossenen Collage verschiedene Denk-, Gestaltungs- und Bewusstseinsweisen, in denen sich die vorausgehende kritische Dynamik von Theologie weiter konkretisieren und ausdifferenzieren lässt. Darin lassen sich auch Normen finden, die eine kritische Sicht auf aktuelle Formen politischen Protests und deren Verwendung von religiösen Traditionsbeständen und Argumenten ermöglichen.

3. Charakteristika kritischer Theologie

3.1. Kontextualisiertes Hören, Sprechen, Darstellen

Eine kritische Theologie ist davon überzeugt, dass Theologie nie zeit- und kontextlos betrieben wird. Sie legt offen, von welcher „Warte“ her sie spricht und welche Perspektive sie einzunehmen und zu vertreten beabsichtigt. Daraus folgt, dass sich eine kritische Theologie als stets im Wandel seiend begreift; unruhig und neugierig ist, ohne dabei Unbekanntes endgültig „erschließen“ zu wollen.

Will sich Theologie als eine spezifische Form von Kritik verstehen, braucht sie eine tiefe Einsicht in die Verwobenheit von Diskursen, Macht und Identität. Will sie aber kritisch an diesen gesellschaftlichen Diskursen teilnehmen, muss sie nicht nur kritikfähig bleiben, sondern auch ihren eigenen Standort kennen und verfolgen, wie dieser sich verändert. Einer kritischen Theologie geht es nicht darum, alles nur normativ zu kritisieren, sondern die „bessere“ deskriptive Analyse anzubieten.

Sie geht davon aus, dass andere ihr etwas zu sagen haben – zuvorderst jene, von denen „Theolog:innen“ („wir“!) gelernt haben, dass sie uns nichts zu sagen haben. Insofern kann eine kritische Theologie niemals neutral sein. Kritisch zu sein heißt zum einen, die Veränderungsbedürftigkeit von „Welt“ als Grundüberzeugung verinnerlicht zu haben, zum anderen, an dieser Veränderung aktiv mitwirken zu wollen. Es ist illusorisch, Theologie vom Standpunkt einer „neutralen Beobachterin“ heraus betreiben zu wollen. Es gibt keine Forschung aus der Vogelperspektive, sondern nur „situated knowledge“.

Daher verschränken sich in kritischer Theologie drei Grundpraktiken: Hören in einem Kontext bzw. auf einen Kontext, Sprechen und (auch non-verbales) Darstellen innerhalb gegebener Situationen. Womöglich ist Theologie zunächst eher eine hörende als sprechende Disziplin. Dennoch sollte es nicht beim Hören allein bleiben, und wird es auch nicht, sobald aus den Kontexten, in denen sich Theologie befindet, Anfragen oder Anliegen formuliert werden oder sobald sich dort Problemlagen zeigen, denen man nicht mehr ausweichen kann. Aus dieser Erfahrung heraus kommt eine kritische Theologie nicht umhin, sich auch zu äußern. Diese Äußerungen können sehr vielschichtig sein und verschiedene Charakterzüge annehmen: anerkennend, wertschätzend, fühlend, spiegelnd, fragend, analysierend, wertend, ermahnend, kritisierend, zurückweisend. Eine hörende Theologie ist eher dazu fähig, die eigene Rolle in einem gesellschaftlichen Geflecht zu verstehen und ihre Macht auch einzuschränken, wenn andere darunter leiden. Die sprechende Theologie kann von dieser Erfahrung berichten und eine ethische Urteilskraft entfalten, die zuerst von Demut bestimmt ist statt von Hochmut. Darstellende Theologie kann in den Lebenslagen, aus denen sie entsteht, etwas zum Ausdruck bringen, das selbst unsagbar bleibt.

3.2 Hegemoniekritik

Eine kritische Theologie ist machtkritisch. Dies zeigt sich mitunter darin, dass sie sich gegen Vereindeutigungen wehrt (Queer Theologies), beispielsweise indem sie nicht primär/ausschließlich kanonisierte Quellen sucht (vgl. Oral History, Postcolonial Theologies). Sie weiß darum, dass sie Erbin einer kolonialen, androzentrischen, anthropozentrischen und weißen Theologie ist, innerhalb derer erlernt wurde, wer nichts zu sagen hat. Ein aktives Ver-Lernen ihrer theologischen Prämissen identifiziert sie als „Zeichen der Zeit“.

Kritische Theologie zeichnet sich durch eine hohe Sprachsensibilität aus. Auch hier geht es darum, unsichtbar Gemachtem zu Sichtbarkeit zu verhelfen. Dies muss sich auch in ihrer konkreten Gottesrede ausdrücken. So könnten sie das Bilderverbot – z. B. in Anlehnung an Magdalene Frettlöhs These – als Ein-Bild-Verbot verstehen („Du sollst Dir nicht ein Bild machen.“), als Warnung vor einer Ver-ein-deut-igung der Welt. Frettlöh sagt (sinngemäß): Überall dort, wo wir es zulassen uns irritieren zu lassen, wo wir irritiert werden, fällt uns Gott ins Wort. Das ist der Bildersturm Gottes. Theologie muss sich gegen Vereinseitigungen und gegen Vereindeutigungen wehren. Das bedeutet nicht, dass sie sich gegen die Möglichkeit von aktuellen Konsensen oder geteilten Werten wehrt. Aber ein Bild repräsentiert niemals die Wirklichkeit – weder die menschliche noch die göttliche. Kritische Theologie – als Theo-Logie – ist nicht selbstgenügsam, sondern weiß um ihre „intersektionelle Bedürftigkeit“.

Eine kritische Theologie ist sich dabei bewusst, dass es nicht einfach „die richtige“ Seite einer Debatte gibt. Sie ist aber vielleicht in der Lage, präzise zu analysieren, was auf welcher Seite schiefläuft. Theologie hat das reale Potenzial, ihre Ergebnisse aus einem begrenzten intellektuellen Radius zu exportieren. Theologie hat seit jeher den Anspruch an Alltagssprache anzuknüpfen. Ihre Nähe zu einem gelebten Glauben stößt sie immer wieder auf die Notwendigkeit, einen wissenschaftlich ausgefalteten Gedanken zu vermitteln. Christlich-religiöse Sprache lebt von sedimentierter Theologie (z. B. die alltagsreligiöse Rede vom theologischen Konzept der Trinität) und bietet deshalb ein breites Feld für Anknüpfungspunkte. Diese Möglichkeit eröffnet ihr auch eine kritische Perspektive auf kritische Theorien, die keinen Weg aus einer schwer verständlichen Sprache zu finden scheinen, ohne ihr kritisches Potenzial zu veräußern. Ein Problem kritischer Theorien scheint hingegen eine grob falsche populistische Wendung ihrer erkenntniskritischen Thesen: ‚Wenn alles Wissen sozial konstruiert ist, wenn also jeder seine Wahrheit haben kann, dann darf ich auch an die große Weltverschwörung glauben. Das ist halt meine Wahrheit.‘ Ein weiteres Problem ist eine weniger relativistische, sondern eine gesellschaftskritische Haltung, die beispielsweise von einigen Demonstrierenden bei Corona-Protesten instrumentalisiert wird. Sie konstruieren das Bild einer Mediendiktatur, von der die Gesellschaft – gerade durch die Entschleierung der eigentlichen Wahrheit – zu befreien sei. Deshalb hatten Vertreter:innen kritischer Theorien immer wieder Bedenken bei einer positiven politischen Wendung von Kritik. Mit Blick auf eine solche aktuelle Verfremdung ist die Angst vor einer zu einfachen Sprache durchaus gerechtfertigt. Aber ohne eine verständliche Sprache hat Theorie keine Chance, dem eigenen Anspruch entsprechend gesellschaftlich wirksam zu werden. Mit diesem Problem wiederum kennt sich Theologie aus, weil sie es gewohnt ist, zwischen einem akademisch-reflektierenden und alltäglichen Kontext zu vermitteln.

3.3 Selbstkritik

Eine Theologie, die sich als kritisch versteht, ist sowohl kritikfähig ad extra als auch ad intra. Fremd- und Selbstkritik bedingen sich für sie gegenseitig. Eine Theologie, die wirklich kritisch sein möchte, kann dies nur sein, wenn sie sich auch selbst immer wieder Kritik aussetzt und diese zulässt. Mehr noch: Sie fordert diese geradezu stetig ein. Der Grund hierfür liegt darin, dass sie gesellschafts- und gegenwartsbezogene Kritik als eigene, ihr immanente Dynamik und Qualität erkannt hat, die sich in ihrem Gottesbezug in Jesus von Nazareth selbst ergibt. 

Sie hat ein Bewusstsein dafür entwickelt, dass Irren nicht nur menschlich ist, sondern Normalität darstellt, da sie nie davon ausgehen kann, bereits alles erforscht zu haben. Etwas, das heute als wahr gilt, kann in kurzer Zeit überholt sein. Damit ist eine kritische Theologie vor allem gute Wissenschaft: Das heißt, sie ist offen dafür, sich auch irren zu können. 

Kritisch Theologie zu treiben bedeutet deshalb ebenfalls, sich der Grenzen dessen bewusst zu sein und/oder zu werden, was gedacht werden kann (epistemologische Grenzen, kognitive Grenzen – Bewusstsein für „Selbstüberschätzung“). Sie reflektiert also ihre eigenen Grenzen und ist sich somit der begrenzten Gültigkeit und Anwendbarkeit ihrer eigenen Ergebnisse bewusst. Universalistischen Aussagen, expliziten und impliziten normativen Ansprüchen sowie kontextlosen Aussagen gegenüber ist sie skeptisch (ohne dabei in ein „Anything goes“/Beliebigkeit zu verfallen) – wissend, dass ihre Kritik selbst nicht frei von normativen Ansprüchen ist. Kritische Theologie bedenkt ihren eigenen Standort und legt diesen offen. 

Diese Transparenz klärt darüber auf, wer hier weshalb und aus welcher Situation heraus theologisiert. Zugleich wird theologisches Denken dadurch angreifbar und verwundbar (Konkretes kann man viel leichter angreifen als Abstraktes). Womöglich wird ihr ihre Selbstdeutung immer wieder entzogen, indem andere den eigenen Standpunkt anders interpretieren, als sie es selbst tun würde.

Indem der eigene Kontext offengelegt wird, ist dieser für Interpretationen durch andere freigegeben. Vielleicht ist auch eine gewisse Risikofreude mit dieser Form von Theologie verbunden. Auch wenn diese Art des Äußerns/Theologie Treibens angreifbar macht, bringt sie eine Offenheit, die einen Austausch fördert und fordert.

Eine solche Transparenz verlangt auch Aufmerksamkeit für die eigenen Schwächen: Wo geht es mir nicht wirklich um sachliche Argumente, sondern um die Stärkung der eigenen Position oder um die Verteidigung der Wirkmacht eigener Prämissen?

3.4 Zuwendung zum Lebendigen und seiner Fragmentarität

Theologie wendet sich von einem gläubig-religiösen Standpunkt „dem Lebendigen“ zu. In anderen Worten: Kritisch im Sinn von „das Prekäre benennend“ und „sich in dieses involvieren lassen“ kann sie nur sein, weil und insofern sie überzeugt ist, dass sich der Sinn und das Ziel jedweden Daseins nicht im Hier und Jetzt erschöpfen können. Aus dieser Überzeugung schöpft sie die Kraft, Abgründiges in den Blick zu nehmen und ins Wort zu fassen. So kann sie immer auch eine lebensbejahende Stimme sein – „bejahend“ nicht im affirmativen Sinn (nicht „gut-heißend“), sondern als „Leben (an)erkennend“. Bestrebungen, nur bestimmtes Leben als relevant (für die Gesellschaft, Marktwirtschaft, Kirche/Glauben/Religion, Gemeinschaft etc.) anzuerkennen, widerspricht sie zugunsten einer Anerkennung und „In-Blick-Nahme“ von Vitalität (vgl. die Ansprüche einer „Option für die Armen“ und einer „Option für die Schöpfung“ sowie die Ansätze von Befreiungstheologien, Post- und Dekolonialen Theologien, Womanist Theologies, Indigenous Theologies, Theologien der Behinderung, Black Theologies, Latinex Theologies u. v. m.). 

Kritische Theologie idealisiert das Leben nicht, sondern weiß um je individuelle Kontext- und Biografiegebrochenheit. Es kann ihr nicht darum gehen, lebensweltliche „Brüche“ glätten, negieren, auflösen oder einebnen zu wollen; damit steht sie in einem gewissen Kontrast zum Programm vieler pastoraler Ansätze und im Kontrast zu vielen wissen(schaft)s-biografischen Darstellungen. Kritisch fragt sie nicht nur nach den Objekten kritischer Theologie (also nach dem „Forschungsgegenstand“), sondern auch nach deren Subjekten (nach uns!): Wer bin ich, die ich mich als „kritisch“ verstehe? Wer bist du, die sich als „kritisch“ versteht? Wie inszeniere ich mich? Wie inszenierst du dich? Wie „schreibe“ ich mein Leben? Wie „schreibst“ du dein Leben? Wie „schreibe“ ich dein Leben – wie „schreibst“ du meines? Wie gehe ich mit eigenen Brüchen, Verletzungen, der eigenen Vulnerabilität um? Wie geht ihr mit eigenen Brüchen, Verletzungen, der eigenen Vulnerabilität um? Und wie gehen wir gegenseitig damit um? Welches Wissenschaftsszenario entwerfe ich und weshalb? Welches Wissenschaftsszenario entwerfen wir und weshalb? 

Man könnte sogar so weit gehen und eine Explikation des Zusammenhangs von eigener Biografie und Forschungsabsicht zunächst in den Mittelpunkt rücken. Solch eine Theologie ist zwar bislang unüblich für den deutschsprachigen Wissenschaftskontext, trägt aber der Tatsache Rechnung, dass es keine „neutrale“ Forschung gibt und es insofern nicht darum gehen kann, die eigene Involviertheit zu verschleiern. 

Wie sind wir als Subjekte einer kritischen Theologie eingestellt und was treibt uns an? Letztlich geht es wahrscheinlich wieder darum, bestehende Zustände zu verbessern oder zumindest zu ändern.

Erst einmal zeigt man, wenn man sich zu etwas kritisch positioniert, die Punkte auf, mit denen man nicht einverstanden ist, die man anders wahrnimmt oder anders interpretiert. Das heißt also, dass es verschiedene Wahrnehmungen ein und derselben Sache gibt. Weiterhin bedeutet es, dass man überhaupt erst in der Lage ist, sich dazu zu äußern (nicht nur im Sinne von: man ist in der Lage zu sprechen, sondern vielmehr: die gesellschaftliche Situation lässt zu/ermöglicht, dass man sich äußern kann).

3.5 Perspektiven der Hoffnung

Mit dem Aufbrechen eigener alter Gewissheiten ist immer auch die Hoffnung verbunden, selbst Hoffnung geben zu können. Unter Hoffnung verstehen wir ein „Für-Möglich-Halten“ einer gelungenen Zukunft; dazu gehört auch, hoffen zu dürfen, „dass nicht alles umsonst war“. Hier liegt  die Schnittstelle von Immanenz und Transzendenz. Der Glaube an Gott ermöglicht es, die Abgründigkeit des Lebens zu thematisieren, ohne in Ohnmacht abzurutschen. Darin steckt das Potenzial von Theologie – genauer: von einer kritischen Theologie.

Der Blick in den Abgrund ist nichts, was man einfordern kann. Vielleicht nicht einmal etwas, das man wirklich „tut“, sondern etwas, das mit einem geschieht. Glaube kann dabei helfen, diesen Blick zu wagen, zu ertragen. Möglich ist er aber auch ohne den Glauben oder die Hoffnung an bzw. auf eine mögliche gelingende Zukunft.

Theologie ist in zweifacher Weise als eine „offene Theologie“ zu verstehen: Zum einen trifft sie keine Vorentscheidungen, wer es wert ist, theologisch bedacht zu werden, zum anderen ist sie – im besten wissenschaftlichen Sinn – „ergebnisoffen“.

4. Dynamik kritischer Theologie: Engagement für eine offene, dissensfähige Gesellschaft

In der vorausgegangenen Collage ist wiederholt eine Grundnorm aufgetaucht, welche die kritische Dynamik von Theologie kennzeichnet. Sie lässt sich auf eine Art Basisformel bringen:

Kritische Theologie muss sich stets der Gefahr eines Abgleitens in die Bestätigung bestehender oder Errichtung neuer Ordnungen bewusst sein. Ihr Ziel ist die „Verflüssigung“ und Infragestellung bestehender Macht- und Diskursstrukturen. Auch der Entwurf alternativer Lebens- und Denkentwürfe kann jedoch eine moralische Diskursmacht entfalten, die selbst wieder der Infragestellung bedarf, um nicht eine bestehende durch eine andere feste Ordnung zu ersetzen.

Kritische Theologie führt insofern je neu zu Infragestellungen und Aufbrüchen, die sich Tendenzen widersetzen, gesellschaftliche Strukturen zu verfestigen. Stattdessen tritt sie immer wieder neu für Prozesse kreativer Entdeckung und Gestaltung ein und stößt diese an. Sie kultiviert ein kritisches Wissen um die Vorläufigkeit, Kontextgebundenheit und Fragmentarität der eigenen und fremden Gesellschaftsstrukturen.

Eine dem entsprechende Wissens- und Sozialform ist vergleichbar mit einer Collage: vielfältige, plurale Elemente werden miteinander in Beziehung gesetzt, wobei die Struktur zugleich die Fähigkeit behält, Inkohärenzen auszuhalten, ohne die Beziehung aufzugeben.

Diese Fähigkeit zur permanenten Infragestellung in Form offener, auch disparater Bezüge, gewinnt Theologie nicht „von sich selbst her“, also aus der Denkanstrengung von Menschen, sondern gerade durch ihre Beziehung zu Gott, die reflexiv unter Bedingungen der jeweiligen Gegenwart entfaltet wird. Theologie macht darin ernst mit ihrem Alteritätsbezug und hat zugleich wesentlich einen Aspekt der Unverfügbarkeit in sich. Sie wird zu einer Form radikalisierter Kritik, einer radikalisierten Form kritischer Theorie und Praxis. Denn in ihren Prozessen wird ein Alteritätsbezug verkörpert, der immer über sich hinausführt und neue Perspektiven eröffnet. Eine solche kritische Theologie entfaltet Impulse für eine offene Gesellschaft, die dissensfähig und pluralitätsfähig ist.

In der oben skizzierten Collage von Features kritischer Theologie klang eine zweite Norm an: ihre Sensibilität für prekäre Lebensbedingungen und ihre Wachsamkeit für Lebensentfaltung. Sie lässt sich in eine zweite Basisformel bringen:

Kritische Theologie hält Gesellschaften offen und hegt dabei eine besondere Sensibilität für prekäre Lebensverhältnisse. Sie fragt nach „Leben in Fülle“, betont aber auch die Strukturen, die Leben prekär oder auch unmöglich machen. Zugleich fragt sie nach notwendigen Veränderungen von Lebensbedingungen im Hier und Heute, die über die problematischen Lebensbedingungen hinausführen.

Von diesen beiden Basisformeln her wird es nun möglich, abschließend mit einem kritischen Blick auf die Anti-Corona-Proteste und ihre religiöse Semantik zu schauen, wie sie eingangs erwähnt wurden. Zwar beziehen diese sich auf Kritik und nehmen in Anspruch, hegemoniale Strukturen aufzudecken und ihnen zu widerstehen; aber treten sie wirklich für eine offene Gesellschaft ein, die lebbar ist und leben lässt?

Dies ist sicher dort nicht der Fall, wo im Rahmen von Corona-Protesten herabsetzende Sprache verwendet wird, etwa in Beschimpfungen von Pressevertreter:innen oder Gegendemonstrat:innen („Lügenpresse“, „mainstream-gesteuert“). Denn herabsetzende Rede nimmt zwar unmittelbar Bezug auf diejenigen, an die sie sich wendet, verweigert aber zugleich eine wirklich themenbezogene, differenzierende Kommunikation. Sie schließt den Gesprächsraum gerade ab, indem sie jemanden in einer bestimmten Weise adressiert, die eine Kommunikation verunmöglicht. Ein vergleichbarer performativer Widerspruch tritt auf, wo für Freiheit eingetreten wird, aber gezielt Hygienemaßnahmen nicht beachtet werden. Denn die darin riskierte Erhöhung der Infektionsraten zwingt Menschen, die sich vor Infektionen schützen wollen oder müssen, besonders Personengruppen mit erhöhtem Krankheitsrisiko, sich vom öffentlichen Raum der (Protest-)Versammlung fernzuhalten. Sie schränkt deren Freiheit ein, sich im öffentlichen Raum zu bewegen. Wenn Protestierende durch Nicht-Einhaltung von Schutzmaßnahmen vermehrte Ansteckungen riskieren, riskieren sie damit außerdem, dass Andere erkranken, gegebenenfalls auch schwer, und dadurch körperlich und sozial eingeschränkt werden, d.h. ebenfalls (Bewegungs-)Freiheit oder sogar das eigene Leben verlieren. Die eigene Freiheit ist dort, wo auf wirksame Hygienemaßnahmen provokativ verzichtet wird, von einer insgeheimen Bereitschaft begleitet, die gesunde, freie Lebensentfaltung von anderen einzuschränken. Der öffentliche Raum als Ort physischer Präsenz und diskursiver Auseinandersetzung erfährt auch darin einen wenigstens partiellen Abschluss.

Kritische Theologie kann diese Dynamiken reflektieren und kritisch sichtbar machen. Gerade wo religiöse Symbole in provokanten Protesten zum Einsatz kommen, kann sie fragen, inwiefern hier einer offenen Gesellschaft mit Sensibilität für vulnerable und prekäre Lebensverhältnisse zugespielt oder demgegenüber deren Entfaltung im Namen eigener „Freiheit“ reduziert oder unmöglich wird.

 



Kurzbeitrag zu Christen im Corona-Widerstand bei 3sat vom 20.10.2020:
https://www.3sat.de/kultur/kulturzeit/christen-im-widerstand-100.html

Artikel zu Christen auf Corona-Demos bei BR24 vom 10.09.2020:
https://www.br.de/nachrichten/kultur/wir-beten-fuer-deutschland-christen-auf-corona-demos,SA0VB7J

Artikel zum deutschen »Bible Belts« und Corona-Protesten beim Spiegel vom 18.11.2020:
https://www.spiegel.de/politik/deutschland/corona-warum-sachsen-und-stuttgart-zu-den-hochburgen-der-anti-corona-proteste-wurden-a-1d4b9bd8-1bfd-4682-bb83-d6a63efde8c1

Comments
2
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Philipp Räubig:

Inwiefern Kritik ein aporetisches Denken zwischen Hoffnung und Scheitern ist, ist für uns offen geblieben. Wir haben keine abschließende Antwort gefunden, ob es vielleicht so ist, dass mal der eine mal der andere Pol überwiegt, oder ob der Moment der Kritik eben genau dazwischen angesiedelt ist, oder darin besteht ein Praxis zu kultivieren, die sich selbst in dem Verhältnis von Scheitern und Hoffnung hält. Diese Pole erkennen wir aber bei unserer eigenen Arbeit und in der Lektüre kritischer Theorien ganz unterschiedlich wieder.

Deutlich ist uns aber geworden, dass Religion eine unter anderen Möglichkeiten sein kann, um etwas hoffnungsvoller in die Kritik zu gehen.

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Philipp Räubig:

Über diesen Punkt haben wir in der Autor:innen-Gruppe noch eine offene Diskussion. Vor allem konnten wir noch nicht ganz klären, ob Differenzerfahrung etwas besonderes sind (bspw. Umbruchsphasen im Lebenslauf), ob sich Differenz prinzipiell immer und überall erfahren lässt, oder ob es weder so speziell noch so universell ist.

Mein Argument hier zielt eher auf Differenzerfahrungen im Sinne von Brüchen im Leben. Solche Brüche sind in einer Weise aufwühlend, dass man gar nichts anderes tun kann, als es erleben. Eine kritische Reflektion darüber ist dann immer nachgeordnet und nicht mehr in der Differenzerfahrung. Und wären Differenzerfahrungen als ganz universelles Phänomen gemeint, dann bliebe offen, warum Kritik manchmal aufbricht und manchmal nicht, da es nach dieser Lesart ja immer möglich wäre.

Hanna Reichel:

Ich finde es grossartig, wie “rund” ihre diesen programmatischen Text zusammen geschrieben habt und finde gleichzeitig diese Randkommentare, die noch ein bisschen was der internen Diskussionen durchblicken lassen, superspannend und wuerde gern mehr davon sehen!
Hier konkret an dem Punkt stellst du die Frage nach der Notwendigkeit “ruhiger Distanz” fuer kritische Reflexion und das “ruhig” scheint dann in Spannung zur Erfahrung von Differenz zu stehen - aber was wenn das ausschlaggebende Wort hier eher die “Distanz” ist? Koennte man nicht sagen, Differenzerfahrung (und ich denke da nicht nur an biographische Brueche, sondern zB auch kulturelle, soziale und politische Differenzerfahrungen) sind Distanzgeneratoren, generieren Distanz zum “Gewohnten” und darum oft unsichtbaren, und diese distanzgenerierende, sichtbarmachende Qualitaet ist es, die so etwas wie Kritik ermoeglichen kann? (ohne strikt notwendig zu werden, schliesslich gibt es ja auch andere Moeglichkeiten, Distanz herzustellen, die des reinen Denkens durchaus auch…)