Identität. Eine kleine Problemgeschichte eines Diskurses.
“Wer seine Identität verliert, der wird sie gewinnen”. So lässt sich der Handlungsbogen des Romans “Mond über Manhattan” 1 von Paul Auster in Anlehnung an Mk 8,25 zusammenfassen. Auster beschreibt die Geschichte des Protagonisten Marco Stanley Fogg, der nach dem Tod seines Pflegevaters sein Leben dem Chaos überlässt, die Kontrolle aufgibt und schließlich als Obdachloser im Central Park landet. Ausgelöst von dieser existentiellen Ausnahmesituation, die sich durch seine Verweigerungshaltung gegenüber der Normalität verstärkt, sind es die rettenden Zufälle und Begegnungen, die Kontingenz der Welt, die den Selbstfindungsprozess des Protagonisten anstoßen. Diese “Reise zu sich” wird parallel zur Geschichte der USA als Bewegung nach Westen erzählt, in der sich eine “Frontier” immer weiter verschiebt: Kollektive und personale Identität werden hier parallelisiert und als Geschichte fortwährender Grenzüberschreitungen erzählt. Bis Marco schließlich an der kalifornischen Pazifikküste angekommen ist. Die Rätsel der Vergangenheit können zwar nicht ganz gelüftet werden, doch hier steht eine Person, die mit den Widersprüchen zu leben gelernt hat und die bereit ist, das Leben in Angriff zu nehmen.
Austers Buch liest sich wie ein postmoderner Bildungsroman. Die Reise der Selbstfindung – die ja nicht ganz zufällig in Kalifornien endet – stellt im Kontext einer Welt, die nicht mehr eindeutig sinnhaft aufgeladen ist und die kein allgemeines “telos” der Entwicklung mehr kennt, persönliche Identität als Entwicklungsaufgabe vor. Dass der Einzelne für sich seinen Platz und seine Position findet, gilt hier als Voraussetzung dafür, lieben zu können und etwas in der Welt zu bewegen.
Kommt für die Generation der “Baby Boomer”, zu der Paul Auster zählt, Selbstfindung in der Erfahrung der Masse geradezu als Heilsfrage in den Blick, arbeitet der Philosoph Michel Foucault hingegen eher am Ausbruch aus den Festlegungen und Kategorisierungen von “Identität”: “Man frage mich nicht, wer ich bin, und man sage mir nicht, ich solle der Gleiche bleiben: das ist eine Moral des Personenstandes; sie beherrscht unsere Papiere. Sie soll uns frei lassen, wenn es sich darum handelt zu schreiben”2. Wenn das Leben eine Reise ist, dann eine, die man besser unerkannt und anonym antritt. Hoffnung besteht für Foucault, wenn überhaupt, in der lustvollen Nicht-Festlegung, im ungebundenen Nomadentum. Auf Foucaults und andere poststrukturalistische Philosophien beriefen sich Ansätze der Queer-Theorie und kritisierten in ähnlicher Weise unter anderem den cartesianischen Primat der Selbstvertrautheit. Ironischerweise nahmen LGBTQI+-Bewegungen zugleich den Identitätsbegriff durchaus affirmativ auf.
In diesem Übergang von einer individuellen zu einer kollektiven Betrachtung des Identitätsbegriffs markiert auch Charles Taylor mit seinem Buch “Multikulturalismus und die Politik der Anerkennung”3 den Beginn eines neuen Kapitels, in dem er die Frage nach der Anerkennung von kollektiven Identitäten ins Zentrum rückt. Am Beispiel der französischsprachigen kanadischen Provinz Quebec zeigt er auf, wie die Anerkennung von kollektiven Identitäten einen Wert an sich darstellt und dass der Schutz von minoritären Identitäten neben der Betonung der gleichen Würde aller ein Ziel staatlichen Handelns sein müsse. Dieser Wechsel von persönlicher zu kollektiver Identität ist dabei nur scheinbar ein Bruch mit dem Begriff der persönlichen Identität. Denn auch eine kollektive Identität zeigt sich anhand konkreter Begegnungen, in denen sich Einzelne mit einer kollektiven Identität identifizieren oder als solche identifiziert werden. Dort, wo man sich mit einer kollektiven Identität (als schwarz, europäisch, homosexuell etc.) identifiziert, steht mit der Anerkennung, Verkennung oder Missachtung der Gruppe auch die Identität des Einzelnen auf dem Spiel.
Aus der Anerkennung kollektiver Identitäten speisen sich emanzipatorische identity politics, die sich insbesondere mit marginalisierten Identitäten beschäftigen und es als eine Aufgabe ansehen, Schutzräume zu schaffen, in denen Zugehörige marginalisierter Gruppen sich miteinander solidarisieren und sich unterstützen können.
Getragen werden diese identity politics durch den Dual von “Zentrum” und “Rand”, der in den Theoriediskussionen (etwa unter den Begriff des “strategic essentialism”) selbst wieder kritisch diskutiert wird.
Eine ganz andere Form der Politisierung von kollektiven Identitäten präsentiert Samuel P. Huntington in seinem Buch “Kampf der Kulturen”.4 Die Grundthese lautet dabei: Nach dem Ende der bipolaren Welt des “Kalten Krieges” werden Konflikte nicht mehr ausgehend von ideologischen Unterschieden ausgefochten, sondern aufgrund kultureller Differenzen. Huntington denkt dabei an identitäre und kulturalistische Großformationen, die in sich als hinreichend homogen und untereinander als tendenziell unvereinbar beschrieben werden. Was dann bleibt, ist ein Kampf der Kulturen mit einem Zug zur Abschottung und zur aggressiven Verteidigung des Eigenen. Bei den Kritikern des Redens von Identität war dies schon seit den 1980er Jahren ein Verdacht: Geht das Reden von Identität nicht immer einher mit einem Dispositiv der Reinheit? Unterschätzt man nicht die Selbstfremdheit und Selbstentzogenheit eines jeden Menschen? Lebt das Reden von Identität nicht von einem naiven Glauben an die persönlichen und kollektiven Selbstkonstruktionen? Sind der Mensch und die Gruppe wirklich nur das, was sie in sich selbst sehen? Kennt man sich hinreichend, um letzte Worte über die eigene Identität sagen zu können? Neigt man nicht zur Abspaltung und Projektion all jener Realitäten, die nicht in das eigene Selbstbild passen? Und steckt nicht ein Moment der Unterdrückung, des Kampfes und der Exklusion in jeder Rede von Identität?
All diese Theoriebildungen finden auch theologische Analogien und Aufnahmen. Das Christentum ist historisch ebenso als identitätsstiftendes Angebot zur Darstellung gekommen wie als Aufruf zur metaphysischen Obdachlosigkeit zwischen den Identitäten dieser Welt. Über die Sakralisierung und Absicherung des Eigenen segnet so manches Christentum die Waffen in den Kulturkämpfen der Gegenwart, etwa in Form der Verteidigung eines »christlichen Abendlandes«. Identity politics werden durchaus auch von religiösen Gruppen und in theologischem Gewand betrieben, von den Kriegen des konfessionellen Zeitalters bis zu manchen Reformationsjubiläen. Doch schon biblisch finden sich verschiedene Verständnisse christlicher Identität in Kontinuität und Differenz zu Konzeptionen der Umwelt, bis hin zur Postulierung ihrer Aufhebung oder Überwindung: “Hier ist nicht Jude noch Grieche, hier ist nicht Sklave noch Freier, hier ist nicht Mann noch Frau; denn ihr seid allesamt einer in Christus” (Gal 3:28). Über historisch greifbare Formen des Umgangs mit christlicher Identität als persönlicher oder kollektiver, kultureller oder politischer Kategorie lässt sich auch die Frage nach einer spezifisch theologischen Sicht auf das, was Identität heißen kann, stellen.
In diese verschiedenen Konzeptionalisierungen und Positionalisierungen um den Identitätsbegriff schlägt uns zum Auftakt des Heftes ein Kontroversgespräch orientierende Schneisen. Während der Theologe Christopher Zarnow den Begriff seiner Dissertation zugrunde gelegt hat, lehnt die Historikerin und Kulturwissenschaftlerin Debora Gerstenberger “Identität” als Kategorie wissenschaftlichen Forschens ab. In ihrer Diskussion sortieren sie sich interdisziplinär wie positionell unterschiedlichen Konzeptualisierungen, Zielsetzungen und Forschungstraditionen zu. Gemeinsam halten sie fest, dass Identität etwas ist, was jeweils erst konstituiert werden muss, wobei stets stabile und fluide Aspekte miteinander ringen. Bertram Schirr vertieft diesen Prozess in Hinzunahme von queeren und postkolonialen Theorien und diskutiert die Zwänge und Widerstandsmöglichkeiten in der Identitätskonstruktion am Beispiel muslimischer Identität in religionspädagogischen Kontexten.
Weil Identitätsfragen in aktuellen politischen Zusammenhängen häufig vor allem mit dem Umgang mit dem Fremden zu tun haben, zeigt Rebekka Klein das Dilemma zwischen dem Ausschluss oder der Einbeziehung des Anderen auf. Wie kann ein Kontakt gelingen, der den Anderen nicht vereinnahmt? Über die Begegnung mit dem nicht-fasslichen Auferstandenen formuliert sie eine theologische Antwort.
Gunnar Garleff beobachtet, wie schon die Gemeinde in Korinth mit der Aufgabe rang, ihre christliche Identität im hellenistischen Umfeld zu finden und als ethnisch gemischte Gruppe zu leben. Wie dabei Story, Ethos und Ritus untrennbar zusammenhängen, zeigt er an einer Tiefenbohrung zu 1 Kor 11.
Dass das Thema Identität gegenwärtig Konjunktur hat, schlägt sich auch in einer großen Zahl an Tagungen, Ringvorlesungen und Akademieveranstaltungen nieder, die in den vergangenen Jahren stattfanden. Über eine Tagung unter dem Titel “Identität. Macht. Verletzung” der Evangelischen Akademie Berlin (Oktober 2018) gibt Nina Schmidt einen Überblick.
Eine Reihe Autor_innen mit verschiedenen Hintergründen haben uns zudem ihre persönlichen Reflektionen zum Thema Identität geschrieben. In der extremen Minderheitssituation von Christ_innen in Japan hat für Shinichi Kotabe seine christliche Identität v.a. ethische Bedeutung. Für Gerald Liu, den US-Amerikaner asiatischer Abstammung, steht sein eigenes Christsein im intersektionalen Spannungsfeld vielfältiger Verpflichtungen und Facetten. Die Pfarrerin Aline Seel begreift ihr Christsein als eine Identitätskonstitution extra nos, deren Grundlagen und Verfügungen ihr selbst entzogen sind. Auch der Schwetzinger Religionslehrer Henning Hupe sieht das Unabgeschlossene von Identität in den Aushandlungsprozessen mit den Jugendlichen im Klassenzimmer. Florian Barth, Pfarrer einer Gemeinde mit ausgeprägtem diakonischem Profil, findet seine Identität als Christ in der säkularer werdenden Gesellschaft durch eine gesunde Mischung von In- und Extroversion. Im Mosaik dieser unterschiedlichen Bedeutungen, die die Identitätsfrage für Christ_innen hat, scheint die Vielfalt der Bezüge ebenso auf wie eine grundlegende Ambivalenz. Aber auch der Trost einer spezifisch christlich-theologischen Antwort dringt durch: dass das, was unsere Identität letztlich ausmacht, theologisch nicht in uns selbst liegt, sondern gegeben und uns dann zur Aufgabe gemacht ist.
Dogmatisch lässt sich diese Ambivalenz und Unverfügbarkeit der Identität an verschiedenen Stellen festmachen. Bernd Oberdorfer präsentiert in einfacher Sprache den klassisch-reformatorischen Topos des “simul iustus et peccator”. Walter Färber reflektiert die Bedeutung des Namens: Das, was unsere Identität sprachlich markiert, ist uns zugleich von außen gegeben.
Das Thema Identität hat also theologische Anhaltspunkte. Historisch, biblisch und systematisch finden wir verschiedene Ansätze, sie zu thematisieren, zu postulieren oder in Frage zu stellen. Zugleich ist klar, dass die Thematik hauptsächlich in nicht-theologischen Wissenschaften theoretisch durchdacht worden ist. Sie ist nicht nur persönlich existentiell, sondern auch kulturell und zudem aktuell v.a. politisch hochrelevant. All diese Aspekte machen das Thema Identität in besonderer Weise für eine dialogische, explorative, praktisch verwurzelte und interdisziplinär reflektierte Behandlung interessant, wie sie sich Cursor_ ins Programm geschrieben hat. Dies kann im Rahmen dieser Ausgabe nur kursorisch und aspekthaft erfolgen. Auf PubPub laden wir alle Interessierten ein, über die einzelnen Beiträge vertieft ins Gespräch zu kommen, Positionen zu markieren, Anfragen zu stellen, eigene Erfahrungen einzubringen und gemeinsam der Frage weiter nachzugehen: Was ist christliche Identität, und wie verhält sie sich zu den Identitätsfragen und -kämpfen unserer Zeit?
Arne Bachmann, Kerstin Menzel, Hanna Reichel, Lisanne Teuchert
Heidelberg, Ostern 2019