AXEL EBERT_ Dass Kirche in die Krise gerät, hätte ich mir in meinen ersten Dienstjahren als Pfarrer kaum in diesem Ausmaß vorstellen können. Nicht nur, dass damals die Finanzmittel auf Zukunft hin abgesichert schienen, auch an Nachwuchs mangelte es nicht. Im Gegenteil.
Kirche ist im Umbruch. Jedenfalls die großen traditionellen Volkskirchen sind es. Das stellt kaum einer mehr in Frage, weil es anhand der Fakten nicht zu leugnen ist. Ich brauche nicht erst die in schöner Regelmäßigkeit erscheinenden Kirchenmitgliedschaftsuntersuchungen zu studieren, um den Umbruch wahrzunehmen. Ein Blick in die Statistik der Kirchenmitgliedschaftsentwicklungen reicht aus. Längst machen evangelische und katholische Kirchenmitglieder nur noch ca 60% der Bevölkerung aus. Tendenz: sinkend. In spätestens dreißig Jahren wird weniger als die Hälfte der Deutschen einer Kirche angehören. Dann hat sich unsere Gesellschaft endgültig säkularisiert. Wir sind auf dem Weg zur Minderheitenkirche. Und weil in dieser der Altersdurchschnitt deutlich über dem der Gesamtbevölkerung liegen wird, wird die Kirche auch immer älter. Das hat noch eine Folge. Immer weniger der Kirchenmitglieder werden im Erwerbsleben stehen und damit durch ihre Kirchensteuer zur Finanzierung der Kirche beitragen. Kirche wird nicht nur kleiner und älter, sondern auch ärmer werden. Die Antwort darauf: Rückbau. Nicht alles, was heute zur Kirche gehört, wird in Zukunft noch finanzierbar und damit tragbar sein. Der Rückbau hat längst bei den Gebäuden begonnen. Pfarrhäuser werden verkauft, Gemeindehäuser vermietet, Kirchen stehen leer.
Das kann man jetzt schon sehen. Längst ist es schwierig geworden, theologischen Nachwuchs zu finden. Die junge Generation identifiziert sich nicht mehr mit dem traditionellen Pfarrbild. Sie fürchtet die Vermischung von Familie und Beruf und ahnt, dass aufgrund der finanziellen Rückbauprozesse in Zukunft immer weniger Pfarrer_innen immer mehr Gemeinden betreuen müssen. Solange es geht, versucht Kirche ihre parochialen Strukturen zu erhalten und nimmt dabei in Kauf, dass diese Strukturen immer „löchriger“ werden und immer stärker „überdehnt“. Kirche ist im Umbruch. Sie tut zwar immer noch so, als ginge alles weiter wie bisher, aber das ist nichts anderes als das Pfeifen im dunklen Wald. Längst haben die Umbau- und Rückbauprozesse begonnen.
Dass Kirche in die Krise gerät, hätte ich mir in meinen ersten Dienstjahren als Pfarrer kaum in diesem Ausmaß vorstellen können. Nicht nur, dass damals die Finanzmittel auf Zukunft hin abgesichert schienen, auch
Vor allem aber: Das System der Parochiegemeinden schien in Stein gemeißelt für die Ewigkeit. Jeder noch so kleine Ort hatte seine Kirchengemeinde mit Pfarrperson, Kirchengebäude, Pfarrhaus, Gemeindehaus – und einem mehr oder weniger Rundumangebot für alle denkbaren Zielgruppen vom Kindergarten bis zum Seniorenkreis. Dass wir anfangen müssen, Kirche noch mal neu zu denken, das war zumindest für mich damals außerhalb meines Horizontes.
Als dann in den 80er Jahren die charismatische Bewegung und die Idee des Church Plantings und später in den 90er Jahren die Willow-Creek-Bewegung nach Deutschland kamen, da hatte ich große Hoffnung für meine Kirche. Ich erhoffte mir Impulse zur Erneuerung – nur: von was eigentlich? Wenn ich ehrlich bin: Es ging mir um die Erneuerung der parochialen Gemeinden. Mein Kirchenbild wurde nicht in rage gestellt.
Doch mittlerweile wird es durchaus in Frage gestellt. Wenn ich die Umbruchsprozesse in meiner Kirche richtig beobachte, dann geht es schon lange nicht mehr um die Frage, wie parochiale Ortsgemeinden geistlich sich erneuern können, sondern wie das ganze System von Kirche in Zukunft aussehen kann.
Kirche ist im Umbruch. Wer sagt mir heute, wie Kirche morgen aussehen wird? Längst hat das Nachdenken darüber auch in den Kirchenleitungen eingesetzt. Strategische Ziele werden benannt, Prioritätenlisten erarbeitet, Leitbilder von Kirche werden entwickelt. Es ist an der Zeit darüber nachzudenken, wie Kirche in Zukunft Gestalt gewinnen soll. Doch wer mit diesem Nachdenken über die Kirche der Zukunft beginnt, der findet sich schnell im Nachdenken darüber wieder, was überhaupt Kirche ist.. Darüber haben wir – zumindest ich – noch vor zwanzig Jahren nicht nachgedacht..
Wenn wir keine klaren, Energie und Hoffnung freisetzenden Vorstellungen von der Kirche der Zukunft entwickeln können, stehen wir in der Gefahr, den Umbau nur als Rückbau mit Blick auf das Defizitäre anzugehen.
Was ist also „Kirche“? Wer hier eine Antwort wagt, begibt sich in einen schier unüberschaubaren Raum. Was Kirche ist, ist nicht eindeutig beantwortbar. Schon die biblischen Bilder von Kirche sind vielfältig und als Bilder eben keine sauberen Definitionen, sondern jeweils vielfältig interpretierbar. Kirche als “Volk auf der Wanderschaft“, Kirche als "Leib Christi”, Kirche als der “Bau aus lebendigen Steinen”, als “Salz der Erde, Licht der Welt”. Nach dem evangelischen Bekenntnis der Confessio Augustana (CA) ist Kirche überall dort, wo das Evangelium rein gepredigt und die Sakramente recht verwaltet werden. Demnach ereignet sich Kirche stets neu in Predigt und Sakrament. Um Gebäude herum (Kirche, Gemeindehaus und Pfarrhaus) und unter der Leitung einer Pfarrperson existiert Gemeinde in einem genau beschreibbaren regionalen Raum. Aber ist das Kirche? Eine an geografischen Gegebenheiten orientierte Organisation? Vielleicht ist es darum so schwer, über das Verständnis von Kirche ins Gespräch zu kommen, weil wir uns jedes Mal erst darüber verständigen müssen, worüber wir eigentlich reden. Und dennoch: Lange Zeit war die Ekklesiologie vor allem etwas für Theologieprofessoren und Studierende, die eine Examensarbeit zu schreiben hatten.
Wer jedoch Antworten finden will auf die Frage, wie Kirche in Zukunft sein soll, der muss sich diesen unbewussten Kirchenbildern stellen. Und das heißt, sie zunächst bewusst machen.
Eines der wirkmächtigsten Kirchenbilder ist dabei das der „konzentrischen Kreise“. Kirche wird in Kreisen gedacht, die sich nach außen in immer weiterem Radius um ein Zentrum ziehen. Die Entfernung vom Zentrum wird durch Beteiligung bestimmt. Im Zentrum von Kirche befinden sich die hoch Engagierten. In der parochialen Gemeinde sind dies meist die Pfarrperson, die Ältesten bzw. Presbyter_innen und hoch engagierte Mitarbeitende. Nach außen hin wird das Maß der Beteiligung immer schwächer. Es gibt Mitarbeitende, Helfende, Gottesdienstbesucher_innen, Kasualchristen und schließlich, ganz am äußeren Kreisrand, jene, die nur losen Kontakt zur Kirche halten. Ziel aller kirchlicher Arbeit ist es dann, die Menschen immer weiter von der Peripherie zum Zentrum zu bringen. Aus Interessierten sollen Verbundene, aus Verbundenen Hochverbundene und schließlich hoch Engagierte werden. Dabei liegt der Frage, wer denn als engagiert angesehen wird, immer ein bestimmtes kulturell und frömmigkeitsmäßig geprägtes Bild von Engagement zugrunde. Ganz praktisch gefragt: Ist der Älteste, der regelmäßig an Sitzungen teilnimmt, im Gottesdienst Lesungen hält und beim Gemeindefest die Würstchen ausgibt, höher engagiert als jene ältere Dame, die aus Krankheitsgründen kaum mehr das Haus verlassen kann, aber täglich eine Stunde für die Mitarbeitenden der Gemeinde betet?
Ein anderes Kirchenbild, das meist unbewusst wirkt, ist das der Gemeinde als „Familie“. Vor allem die Ortsgemeinde wird oft so gedacht. Alle gehören zusammen, sind wie Brüder und Schwestern, sagen im Idealfall „Du“ zueinander, teilen das Alltagsleben, treffen sich in Hauskreisen oder bei sozial-diakonischen Aktivitäten. Das Familientreffen ist dann der Gottesdienst. Das Wohnzimmer der Familie das Gemeindehaus. Und es gibt klare Familienregeln: Wie man glaubt, wie man spricht, wie man betet, welche Lieder man singt – all das schafft und erhält die Familienidentität. Abweichler werden liebevoll wieder „auf Linie“ gebracht. Wer seinen Glauben in Halbdistanz zur Gemeinde leben will und sich der angeordneten Nähe entzieht, wird leicht verdächtigt, nicht mehr recht zu glauben. Doch auch hier muss gefragt werden: Ist jemand ein schlechterer Christ, wenn er sich der geforderten Nähe entzieht, nicht in hoher Regelmäßigkeit an Gemeindeveranstaltungen teilnimmt und nicht jeden mit „Schwester und Bruder“ ansprechen will? Wird Kirche durch eine hohe Beziehungsintensität ihrer Mitglieder untereinander begründet?
Wir sind also mittendrin im Nachdenken über Kirche. Ein schneller Konsens ist nicht zu erwarten, und vielleicht auch nicht möglich. Dennoch lohnt sich das Nachdenken und das Ringen um das, was Kirche ist – und darum in Zukunft sein kann. Die Kirchenbilder müssen auf den Tisch. Die theologisch reflektierten genauso wie die unbewusst wirkkräftigen. Wenn schon kein rascher Konsens möglich ist, so gilt es wenigstens einen „Konsensraum“ zu erschließen. Dies könnte eine Verständigung darüber sein, was wir unter Kirche verstehen könnten im Wissen, dass keines der Kirchenbilder für sich ausreichend ist. Ich vermute dabei, dass wir in Zukunft Kirche viel weniger in organisatorischen Begriffen oder in theologischen Bildern denken werden, als vielmehr als Ereignis. Kirche ist nicht. Kirche ereignet sich stets neu in immer neuen Zusammenhängen. Das deutete schon die CA an. Wo zwei oder drei in Jesu Namen zusammen sind, ist er, der Herr der Kirche, unter ihnen. Viel mehr braucht es vielleicht nicht, um Kirche zu denken als dieses Zusammensein von Menschen in Jesu Namen. Dies kann an verschiedensten Orten, mit oder ohne Gebäude, kulturell unterschiedlich geprägt, in jedem Milieu anders gestaltet sein. In Zukunft werden wir Kirche viel „transparenter“, beweglicher denken müssen. Kirche wird viele Formen und Gestalten haben können, sofern Christus in ihnen das Zentrum ist. Das ist die Chance des Umbruchprozesses von Kirche: Dass wir ganz neu entdecken, wie Kirche auch noch sein kann. Viel überraschender als wir heute denken.
So kommen die Impulse heute viel weniger von außen. Ich liebe weiterhin das, was wir von der charismatischen Bewegung, Church Planting oder WillowCreek gelernt haben. Doch es ist wohl die Zeit da, dass Kirche sich auf sich selbst besinnt und ihre eigene Identität. Ich habe manchmal den Verdacht: Wir müssen uns als Kirche wieder neu erfinden. Eigentlich nichts Neues. Wie heißt es seit der Reformation? “Ecclesia semper reformanda”.