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Kirche im Umbruch. Ein persönlicher Beitrag zur ekklesiologischen Diskussion

AXEL EBERT_ Dass Kirche in die Krise gerät, hätte ich mir in meinen ersten Dienstjahren als Pfarrer kaum in diesem Ausmaß vorstellen können. Nicht nur, dass damals die Finanzmittel auf Zukunft hin abgesichert schienen, auch an Nachwuchs mangelte es nicht. Im Gegenteil.

Published onOct 24, 2017
Kirche im Umbruch. Ein persönlicher Beitrag zur ekklesiologischen Diskussion
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Umbruch

Kirche ist im Umbruch. Jedenfalls die großen traditionellen Volkskirchen sind es. Das stellt kaum einer mehr in Frage, weil es anhand der Fakten nicht zu leugnen ist. Ich brauche nicht erst die in schöner Regelmäßigkeit erscheinenden Kirchenmitgliedschaftsuntersuchungen zu studieren, um den Umbruch wahrzunehmen. Ein Blick in die Statistik der Kirchenmitgliedschaftsentwicklungen reicht aus. Längst machen evangelische und katholische Kirchenmitglieder nur noch ca 60% der Bevölkerung aus. Tendenz: sinkend. In spätestens dreißig Jahren wird weniger als die Hälfte der Deutschen einer Kirche angehören. Dann hat sich unsere Gesellschaft endgültig säkularisiert. Wir sind auf dem Weg zur Minderheitenkirche. Und weil in dieser der Altersdurchschnitt deutlich über dem der Gesamtbevölkerung liegen wird, wird die Kirche auch immer älter. Das hat noch eine Folge. Immer weniger der Kirchenmitglieder werden im Erwerbsleben stehen und damit durch ihre Kirchensteuer zur Finanzierung der Kirche beitragen. Kirche wird nicht nur kleiner und älter, sondern auch ärmer werden. Die Antwort darauf: Rückbau. Nicht alles, was heute zur Kirche gehört, wird in Zukunft noch finanzierbar und damit tragbar sein. Der Rückbau hat längst bei den Gebäuden begonnen. Pfarrhäuser werden verkauft, Gemeindehäuser vermietet, Kirchen stehen leer.

Das kann man jetzt schon sehen. Längst ist es schwierig geworden, theologischen Nachwuchs zu finden. Die junge Generation identifiziert sich nicht mehr mit dem traditionellen Pfarrbild. Sie fürchtet die Vermischung von Familie und Beruf und ahnt, dass aufgrund der finanziellen Rückbauprozesse in Zukunft immer weniger Pfarrer_innen immer mehr Gemeinden betreuen müssen. Solange es geht, versucht Kirche ihre parochialen Strukturen zu erhalten und nimmt dabei in Kauf, dass diese Strukturen immer „löchriger“ werden und immer stärker „überdehnt“. Kirche ist im Umbruch. Sie tut zwar immer noch so, als ginge alles weiter wie bisher, aber das ist nichts anderes als das Pfeifen im dunklen Wald. Längst haben die Umbau- und Rückbauprozesse begonnen.

Verunsicherung

Dass Kirche in die Krise gerät, hätte ich mir in meinen ersten Dienstjahren als Pfarrer kaum in diesem Ausmaß vorstellen können. Nicht nur, dass damals die Finanzmittel auf Zukunft hin abgesichert schienen, auch

Vor allem aber: Das System der Parochiegemeinden schien in Stein gemeißelt für die Ewigkeit. Jeder noch so kleine Ort hatte seine Kirchengemeinde mit Pfarrperson, Kirchengebäude, Pfarrhaus, Gemeindehaus – und einem mehr oder weniger Rundumangebot für alle denkbaren Zielgruppen vom Kindergarten bis zum Seniorenkreis. Dass wir anfangen müssen, Kirche noch mal neu zu denken, das war zumindest für mich damals außerhalb meines Horizontes.

Als dann in den 80er Jahren die charismatische Bewegung und die Idee des Church Plantings und später in den 90er Jahren die Willow-Creek-Bewegung nach Deutschland kamen, da hatte ich große Hoffnung für meine Kirche. Ich erhoffte mir Impulse zur Erneuerung – nur: von was eigentlich? Wenn ich ehrlich bin: Es ging mir um die Erneuerung der parochialen Gemeinden. Mein Kirchenbild wurde nicht in rage gestellt.

Doch mittlerweile wird es durchaus in Frage gestellt. Wenn ich die Umbruchsprozesse in meiner Kirche richtig beobachte, dann geht es schon lange nicht mehr um die Frage, wie parochiale Ortsgemeinden geistlich sich erneuern können, sondern wie das ganze System von Kirche in Zukunft aussehen kann.

Kirche ist im Umbruch. Wer sagt mir heute, wie Kirche morgen aussehen wird? Längst hat das Nachdenken darüber auch in den Kirchenleitungen eingesetzt. Strategische Ziele werden benannt, Prioritätenlisten erarbeitet, Leitbilder von Kirche werden entwickelt. Es ist an der Zeit darüber nachzudenken, wie Kirche in Zukunft Gestalt gewinnen soll. Doch wer mit diesem Nachdenken über die Kirche der Zukunft beginnt, der findet sich schnell im Nachdenken darüber wieder, was überhaupt Kirche ist.. Darüber haben wir – zumindest ich – noch vor zwanzig Jahren nicht nachgedacht..

Wenn wir keine klaren, Energie und Hoffnung freisetzenden Vorstellungen von der Kirche der Zukunft entwickeln können, stehen wir in der Gefahr, den Umbau nur als Rückbau mit Blick auf das Defizitäre anzugehen.


Kirchenbilder

Was ist also „Kirche“? Wer hier eine Antwort wagt, begibt sich in einen schier unüberschaubaren Raum. Was Kirche ist, ist nicht eindeutig beantwortbar. Schon die biblischen Bilder von Kirche sind vielfältig und als Bilder eben keine sauberen Definitionen, sondern jeweils vielfältig interpretierbar. Kirche als “Volk auf der Wanderschaft“, Kirche als "Leib Christi”, Kirche als der “Bau aus lebendigen Steinen”, als “Salz der Erde, Licht der Welt”. Nach dem evangelischen Bekenntnis der Confessio Augustana (CA) ist Kirche überall dort, wo das Evangelium rein gepredigt und die Sakramente recht verwaltet werden. Demnach ereignet sich Kirche stets neu in Predigt und Sakrament. Um Gebäude herum (Kirche, Gemeindehaus und Pfarrhaus) und unter der Leitung einer Pfarrperson existiert Gemeinde in einem genau beschreibbaren regionalen Raum. Aber ist das Kirche? Eine an geografischen Gegebenheiten orientierte Organisation? Vielleicht ist es darum so schwer, über das Verständnis von Kirche ins Gespräch zu kommen, weil wir uns jedes Mal erst darüber verständigen müssen, worüber wir eigentlich reden. Und dennoch: Lange Zeit war die Ekklesiologie vor allem etwas für Theologieprofessoren und Studierende, die eine Examensarbeit zu schreiben hatten.

Unbewusste Bilder von Kirche

Wer jedoch Antworten finden will auf die Frage, wie Kirche in Zukunft sein soll, der muss sich diesen unbewussten Kirchenbildern stellen. Und das heißt, sie zunächst bewusst machen.

Eines der wirkmächtigsten Kirchenbilder ist dabei das der „konzentrischen Kreise“. Kirche wird in Kreisen gedacht, die sich nach außen in immer weiterem Radius um ein Zentrum ziehen. Die Entfernung vom Zentrum wird durch Beteiligung bestimmt. Im Zentrum von Kirche befinden sich die hoch Engagierten. In der parochialen Gemeinde sind dies meist die Pfarrperson, die Ältesten bzw. Presbyter_innen und hoch engagierte Mitarbeitende. Nach außen hin wird das Maß der Beteiligung immer schwächer. Es gibt Mitarbeitende, Helfende, Gottesdienstbesucher_innen, Kasualchristen und schließlich, ganz am äußeren Kreisrand, jene, die nur losen Kontakt zur Kirche halten. Ziel aller kirchlicher Arbeit ist es dann, die Menschen immer weiter von der Peripherie zum Zentrum zu bringen. Aus Interessierten sollen Verbundene, aus Verbundenen Hochverbundene und schließlich hoch Engagierte werden. Dabei liegt der Frage, wer denn als engagiert angesehen wird, immer ein bestimmtes kulturell und frömmigkeitsmäßig geprägtes Bild von Engagement zugrunde. Ganz praktisch gefragt: Ist der Älteste, der regelmäßig an Sitzungen teilnimmt, im Gottesdienst Lesungen hält und beim Gemeindefest die Würstchen ausgibt, höher engagiert als jene ältere Dame, die aus Krankheitsgründen kaum mehr das Haus verlassen kann, aber täglich eine Stunde für die Mitarbeitenden der Gemeinde betet?

Ein anderes Kirchenbild, das meist unbewusst wirkt, ist das der Gemeinde als „Familie“. Vor allem die Ortsgemeinde wird oft so gedacht. Alle gehören zusammen, sind wie Brüder und Schwestern, sagen im Idealfall „Du“ zueinander, teilen das Alltagsleben, treffen sich in Hauskreisen oder bei sozial-diakonischen Aktivitäten. Das Familientreffen ist dann der Gottesdienst. Das Wohnzimmer der Familie das Gemeindehaus. Und es gibt klare Familienregeln: Wie man glaubt, wie man spricht, wie man betet, welche Lieder man singt – all das schafft und erhält die Familienidentität. Abweichler werden liebevoll wieder „auf Linie“ gebracht. Wer seinen Glauben in Halbdistanz zur Gemeinde leben will und sich der angeordneten Nähe entzieht, wird leicht verdächtigt, nicht mehr recht zu glauben. Doch auch hier muss gefragt werden: Ist jemand ein schlechterer Christ, wenn er sich der geforderten Nähe entzieht, nicht in hoher Regelmäßigkeit an Gemeindeveranstaltungen teilnimmt und nicht jeden mit „Schwester und Bruder“ ansprechen will? Wird Kirche durch eine hohe Beziehungsintensität ihrer Mitglieder untereinander begründet?

Offener Prozess

Wir sind also mittendrin im Nachdenken über Kirche. Ein schneller Konsens ist nicht zu erwarten, und vielleicht auch nicht möglich. Dennoch lohnt sich das Nachdenken und das Ringen um das, was Kirche ist – und darum in Zukunft sein kann. Die Kirchenbilder müssen auf den Tisch. Die theologisch reflektierten genauso wie die unbewusst wirkkräftigen. Wenn schon kein rascher Konsens möglich ist, so gilt es wenigstens einen „Konsensraum“ zu erschließen. Dies könnte eine Verständigung darüber sein, was wir unter Kirche verstehen könnten im Wissen, dass keines der Kirchenbilder für sich ausreichend ist. Ich vermute dabei, dass wir in Zukunft Kirche viel weniger in organisatorischen Begriffen oder in theologischen Bildern denken werden, als vielmehr als Ereignis. Kirche ist nicht. Kirche ereignet sich stets neu in immer neuen Zusammenhängen. Das deutete schon die CA an. Wo zwei oder drei in Jesu Namen zusammen sind, ist er, der Herr der Kirche, unter ihnen. Viel mehr braucht es vielleicht nicht, um Kirche zu denken als dieses Zusammensein von Menschen in Jesu Namen. Dies kann an verschiedensten Orten, mit oder ohne Gebäude, kulturell unterschiedlich geprägt, in jedem Milieu anders gestaltet sein. In Zukunft werden wir Kirche viel „transparenter“, beweglicher denken müssen. Kirche wird viele Formen und Gestalten haben können, sofern Christus in ihnen das Zentrum ist. Das ist die Chance des Umbruchprozesses von Kirche: Dass wir ganz neu entdecken, wie Kirche auch noch sein kann. Viel überraschender als wir heute denken.

So kommen die Impulse heute viel weniger von außen. Ich liebe weiterhin das, was wir von der charismatischen Bewegung, Church Planting oder WillowCreek gelernt haben. Doch es ist wohl die Zeit da, dass Kirche sich auf sich selbst besinnt und ihre eigene Identität. Ich habe manchmal den Verdacht: Wir müssen uns als Kirche wieder neu erfinden. Eigentlich nichts Neues. Wie heißt es seit der Reformation? “Ecclesia semper reformanda”.

Comments
11
Benedikt Friedrich:

Diese Gratwanderung zwischen essentialistischer Engführung und indifferenter Belanglosigkeit ist wohl die große Herausforderung gegenwärtiger Ekklesiologie. Auf das Ereignis “Kirche” zu setzen, klingt für mich vielversprechend, weil damit auch irgendwie leichter mit einbezogen werden kann, dass da eine gewisse Portion Wirken des Geistes vonnöten ist. Aber salopp gesagt: Der weht ja auch nicht einfach wo er will. Nicht ohne Grund ist auch für die Kirche daher eine gewisse Erwartungssicherheit nach außen und auch nach innen nötig und sinnvoll - darum ist ja die weiter oben geführte Diskussion um kirchliche Anstellungsverhältnisse nicht nur eine kirchenpolitische, sondern durchaus auch eine theologische Frage.

Thomas Renkert:

Sehr guter Kommentar. Ich glaube, wir müssen beginnen, bei Kirche und Diakonie mit einer Form von “pluralisiert-dynamischer Phänomenologie” zu operieren, die es zulässt, dass man über differierende Ebenen von Organisationalität hinweg dennoch Wittgensteinsche Familienähnlichkeiten beschreiben kann. D.h. vom Ereignis Kirche bis hin zur (nicht zu Unrecht in der Kritik stehenden) Arbeitgeberin müssen sich rote Fäden nachverfolgen lassen. “Erwartungssicherheit” beträfe dann in erster Linie die kommunitäre Epistemologie und Intentionalität, sowie die Austauschprozesse darüber. Denn diese sind es, deren Formen sich - bei hoffentlich vergleichbaren Inhalten - über diese Organisationsebenen hinweg verändern. Das wäre dann auch m.E. ein Weg für die Ökumene.

Arne-Florian Bachmann:

Zu dieser Dimension des “ekklesialen Imaginären” findet man etwas bei Wabel, Thomas, Nahe Ferne Kirche. Das was er dazu noch beiträgt sind die Bilder, die andere (“die Gesellschaft”) in der Kirche sehen. Und da gibt es ja die Beobachtung, einer “vicarious religion”: die Kirche soll stellvertretend “für uns glauben, moralische Werte hochhalten” etc. Von der Kirche erwartet man, was man selbst nicht mehr kann - vielleicht können auch manche ganz beruhigt religiös indiffierent sein, weil die Kirche ja an ihrerer Stelle glaubt und zweifelt und “gut ist” und “böse ist”. Hier wäre die Frage: wie kann man solche Bilder unterlaufen kann. Da gibt es ein kluges kurzes Video von einem psychoanalytisch angehauchten Theologen, Peter Rollins: https://www.youtube.com/watch?v=loJY8r0CjCo

Ein weiterer Aspekt dieser Bilder: beim Psychoanalytiker Lacan kann man lernen, wie solche Bilder mit Identitäten zusammenhängen. Da ist es nicht nur: “Meine Identität wird durch ein Bild vermittelt” - sondern: “ich will mich von einem bestimmten Punkt aus als jemand sehen./Ich willl mich in den Augen von…. spiegeln”. Da wäre die Frage: von welchem Ort aus entwirft die Kirche ein Bild von sich? Von wo aus wollen “wir” uns sehen? Ein Beispiel für diese Dynamik wäre Schleiermachers Reden “an die Gebildeten unter den Verächtern”. Das ist der Ort, von dem aus sich viele Kirchen sehen wollen: von den Gebildeten aus. Vielleicht ist das auch ein Problem?

Arne-Florian Bachmann:

Eigentlich müsste man das zusammendenken: einen ereignislogischen Begriff von Gemeinschaft: wenn Kirche in einem Ereignis (ein für allemal) gründet, dass je neu Ereignis werden muss (ubi et quando visum est Deo) dann ist sie stets auch “Gemeinschaft auf der Suche”, “gastliche Gemeinschaft”, “wartende Gemeinschaft”, “unmögliche Gemeinschaft” - denn sie lebt davon, was sie selbst eben nicht “ins Werk setzen kann”.

Arne-Florian Bachmann:

Die Frage ist: wird denn diskutiert, welche Alternativen es bereits gibt? Also wo schon großflächige Experimente stattgefunden haben? Oder das man einfach mal die Alternativen aufzählt? Was wären denkbare Alternativen?

Ein Modell, das für mich -trotz der ungklücklichen Sprachregelung - attrativ und realistisch erscheint ist das der Mixed Economy: also der Ausbau und der Versuch Bestehendes zu erhalten und auf der anderen Seite gezielt Raum zu schaffen für neue Experimente. Raum schaffen scheint mir in dieser Situation eine Tugend zu werden. Und eine Kirche, die sich gerade eher leert hat doch von einem genug: Raum!

Thomas Renkert:

Die paar Personalgemeinden, die es in Baden gibt, scheinen ja halbwegs erfolgreich zu sein. Für mich ist die Frage, ob es nicht neben Parochial- und Personalprinzip noch andere Modelle gibt, die die Vorteile beider Ansätze vereinen können.

Thomas Renkert:

Nicht zwangsläufig, aber die Idee, was “Mitgliedschaft” bedeutet, verändert sich, je nachdem, welche persönliche Mitgliedschaftsmotivation vorliegt. In Organisationen, bei denen Mitgliedschaft über z.T. automatische oder quasi-automatische Mechanismen geschieht, die der Kontrolle des einzelnen Mitglieds zuweilen entzogen sind (negativ beschrieben als “Zwangsorganisationen”) muss die Mitgliedschaftsfrage notwendigerweise auf weite Strecken vermieden werden.

Benedikt Friedrich:

Angesichts dessen, dass Kirche eine Gemeinschaft ist, fällt es mir schwer gänzlich “unsichtbares” Engagement zu würdigen. Das angesprochene Beispiel von der betenden Frau kann ja beispielsweise durch Besuchsdienste, wie in vielen Gemeinden praktiziert, eine eigene Form der Sichtbarmachung erfahren. Aber den Faktor des Engagements und der Fragen “Warum bist du hier?”, “Welche Rolle willst du in dieser Kirche einnehmen?”, etc. würde ich nicht unterschätzen. So eine Kultur größeren Engangements über die eh schon seit Jahrzehnten Verbundenen hinaus erwächst aber sicher nicht dadurch, dass man als Zugezogener mit einem vierzeiligen Brief und dem beigelegten Gemeindeblatt begrüßt wird.

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Thomas Renkert:

Meine Erfahrung - auch kürzlich erst wieder im Gespräch mit Verantwortlichen - ist, dass sich das Paradigma von Volkskirche weiterhin hartnäckig hält: gerade in den Köpfen von Menschen in kirchenleitenden Positionen. Bzw. dass die Herausforderungen nicht als substantielle, sondern als akzidentielle Fragestellungen verstanden werden. Also nicht als “Was ist Kirche?”, sondern als “Wie können wir Kirche medial besser positionieren? Wie können wir in unserem Auftreten und unserer Außenwirkung attraktiver werden? Welche Predigtstile sprechen auch Jugendlichen an?” usw.

Thomas Renkert:

Mir würde fürs Erste auch eine fruchtbare dissensuelle Debatte zu dieser Frage genügen. Ich sehe die gegenwärtige Schwierigkeit nicht darin, dass hier kein Konsens bestünde, sondern dass der Frage insgesamt in weitem Bogen ausgewichen wird. (Vermutlich auch, weil jede mögliche Antwort nicht umhin käme, sich mit so heiklen Themen wie Mission zu beschäftigen.)

Hanna Reichel:

Hm, also ich habe ehrlich gesagt den Eindruck dass überall über “Kirche” diskutiert wird, dass das “Kirche-Sein” geradezu zum einzigen Thema von Kirche wird.., oder tauchen dir nur nicht “die richtigen” Antworten auf? Oder willst du etwa eine ekklesiologische Diskussion statt eine über Strukturen und Strategien???

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Hanna Reichel:

…übrigens nicht nur für Kirchenleitung. Wenn man sich mal in der Dogmatik unter heutigen Lehrstuhlinhaber_innen umsieht, womit die ihre Qualifikationsarbeiten verbracht haben und womit sie sich heute beschäftigen, ist das aktuell auch in der Systematischen Theologie die Königsdisziplin (wenn man mal von Metafragen, der Befassung mit dem deutschen Idealismus und - natürlich - Reflexionen über “Religion”) absieht. Ein Symptom? Ein Effekt? Oder selbst auch eine Quelle der Krise? (ist jetzt polemisch formuliert - aber trotzdem m.E. nachdenkenswert)

Hanna Reichel:

Spannend, dass sich das hier ergibt - über Identität wollen wir ja in Ausgabe 2 von CZeTh schwerpunktmäßig nachdenken… Zufall?

Hanna Reichel:

…als ich mit dem Studium begann, war das so. Am ersten Tag kam direkt nach der Semestereröffnung ein Kaffeetrinken der Erstsemester mit dem Dekan, und bei dieser allerersten Berührung mit dem Theologiestudium überhaupt war eine Dame vom Arbeitsamt anwesend, die uns einen 40minütigen Vortrag hielt, was man mit dem Studium dann noch alles anfangen könnte AUSSER ins Pfarramt zu gehen. Die Kirchen (in dem Fall: die Rheinische Landeskirche) verbreiteten eine irre Panik, dass keiner übernommen werden könnte, weil wir zu viele wären und es zu wenig Stellen geben würde - statt sich ein sinnvolles Rekrutierungskonzept zu überlegen. Was möglicherweise teilweise auch den Effekt hatte, dass Studierende, die Qualitäten vorzuweisen hatten, sich nach anderen Arbeitgebern umsahen und welche fanden, und übrig bleibt der traurige Rest? Hier sehe ich auf jeden Fall auch ein ziemliches Versagen der Kirchen! Nun fehlt ihnen zum einen der Nachwuchs - und das hätte man eigentlich auch damals schon absehen können, dass die großen Theologenschwemmen vorbei sind - und zum anderen werden die inhaltlichen und persönlichen Anforderungen für die, die sich auf den Beruf einlassen, ja immer höher… Das macht es wiederum nicht einfacher, für Nachwuchs zu werben…

Rasmus Nagel:

Nicht nur, dass die Anforderungen höher werden - die Anteile der verschiedenen Aufgaben werden auch andere: Wenn durch die Parochialstruktur in erster Linie Kasualien das ist, was auf jeden Fall gemacht werden muss, sind Pfarrer irgendwann nur noch mit Beerdigungen und Taufen beschäftigt. Das verstärkt das Bild des Pfarrberufs als Verwaltungsjob und zieht wiederum bestimmte Leute an, bzw. verändert Leute in der Kirche auch dahingehend.

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Hanna Reichel:

Leider kommt oft das Personal bereits VOR den Gebäuden - weil die Gebäude geschützt sind, nicht verkauft werden können/dürfen, nicht gut anderweitig nutzbar sind etc., gibt es immer mehr Gemeinden mit mehr Gebäuden als Hauptamtlichen…

Thomas Renkert:

Beim längeren Nachdenken bekommt m.E. gerade dieses Phänomen schon symbolischen Charakter für das Nichtwahrhabenwollen des Paradigmenwechsels. Solange “die Kirche im Dorf” noch steht, wiegt man sich in den Sicherheiten, die durch vage Vorstellungen von “Kultur”, “Tradition”, oder - schon konkreter - die “öffentliche Rolle” von Kirche gedeckt zu sein scheinen.

Die Möglichkeit, dass gerade die Kirchen als Gebäude im öffentlichen Raum zu potemkinschen Dörfern werden könnten, wird dabei mit wilder Entschlossenheit ignoriert.

Die Potemkinisierung der Kirche ist aus meiner Sicht das drängendste, weil ignorierteste Problem. (Im übrigen ist damit die Kirche aber nicht allein. Das scheint anderen Institutionen mit dem “Volks-”-Präfix ähnlich zu gehen, z.B. den Volksparteien).