Diese Gratwanderung zwischen essentialistischer Engführung und indifferenter Belanglosigkeit ist wohl die große Herausforderung gegenwärtiger Ekklesiologie. Auf das Ereignis “Kirche” zu setzen, klingt für mich vielversprechend, weil damit auch irgendwie leichter mit einbezogen werden kann, dass da eine gewisse Portion Wirken des Geistes vonnöten ist. Aber salopp gesagt: Der weht ja auch nicht einfach wo er will. Nicht ohne Grund ist auch für die Kirche daher eine gewisse Erwartungssicherheit nach außen und auch nach innen nötig und sinnvoll - darum ist ja die weiter oben geführte Diskussion um kirchliche Anstellungsverhältnisse nicht nur eine kirchenpolitische, sondern durchaus auch eine theologische Frage.
Sehr guter Kommentar. Ich glaube, wir müssen beginnen, bei Kirche und Diakonie mit einer Form von “pluralisiert-dynamischer Phänomenologie” zu operieren, die es zulässt, dass man über differierende Ebenen von Organisationalität hinweg dennoch Wittgensteinsche Familienähnlichkeiten beschreiben kann. D.h. vom Ereignis Kirche bis hin zur (nicht zu Unrecht in der Kritik stehenden) Arbeitgeberin müssen sich rote Fäden nachverfolgen lassen. “Erwartungssicherheit” beträfe dann in erster Linie die kommunitäre Epistemologie und Intentionalität, sowie die Austauschprozesse darüber. Denn diese sind es, deren Formen sich - bei hoffentlich vergleichbaren Inhalten - über diese Organisationsebenen hinweg verändern. Das wäre dann auch m.E. ein Weg für die Ökumene.
Zu dieser Dimension des “ekklesialen Imaginären” findet man etwas bei Wabel, Thomas, Nahe Ferne Kirche. Das was er dazu noch beiträgt sind die Bilder, die andere (“die Gesellschaft”) in der Kirche sehen. Und da gibt es ja die Beobachtung, einer “vicarious religion”: die Kirche soll stellvertretend “für uns glauben, moralische Werte hochhalten” etc. Von der Kirche erwartet man, was man selbst nicht mehr kann - vielleicht können auch manche ganz beruhigt religiös indiffierent sein, weil die Kirche ja an ihrerer Stelle glaubt und zweifelt und “gut ist” und “böse ist”. Hier wäre die Frage: wie kann man solche Bilder unterlaufen kann. Da gibt es ein kluges kurzes Video von einem psychoanalytisch angehauchten Theologen, Peter Rollins: https://www.youtube.com/watch?v=loJY8r0CjCo
Ein weiterer Aspekt dieser Bilder: beim Psychoanalytiker Lacan kann man lernen, wie solche Bilder mit Identitäten zusammenhängen. Da ist es nicht nur: “Meine Identität wird durch ein Bild vermittelt” - sondern: “ich will mich von einem bestimmten Punkt aus als jemand sehen./Ich willl mich in den Augen von…. spiegeln”. Da wäre die Frage: von welchem Ort aus entwirft die Kirche ein Bild von sich? Von wo aus wollen “wir” uns sehen? Ein Beispiel für diese Dynamik wäre Schleiermachers Reden “an die Gebildeten unter den Verächtern”. Das ist der Ort, von dem aus sich viele Kirchen sehen wollen: von den Gebildeten aus. Vielleicht ist das auch ein Problem?
Eigentlich müsste man das zusammendenken: einen ereignislogischen Begriff von Gemeinschaft: wenn Kirche in einem Ereignis (ein für allemal) gründet, dass je neu Ereignis werden muss (ubi et quando visum est Deo) dann ist sie stets auch “Gemeinschaft auf der Suche”, “gastliche Gemeinschaft”, “wartende Gemeinschaft”, “unmögliche Gemeinschaft” - denn sie lebt davon, was sie selbst eben nicht “ins Werk setzen kann”.
Die Frage ist: wird denn diskutiert, welche Alternativen es bereits gibt? Also wo schon großflächige Experimente stattgefunden haben? Oder das man einfach mal die Alternativen aufzählt? Was wären denkbare Alternativen?
Ein Modell, das für mich -trotz der ungklücklichen Sprachregelung - attrativ und realistisch erscheint ist das der Mixed Economy: also der Ausbau und der Versuch Bestehendes zu erhalten und auf der anderen Seite gezielt Raum zu schaffen für neue Experimente. Raum schaffen scheint mir in dieser Situation eine Tugend zu werden. Und eine Kirche, die sich gerade eher leert hat doch von einem genug: Raum!
Die paar Personalgemeinden, die es in Baden gibt, scheinen ja halbwegs erfolgreich zu sein. Für mich ist die Frage, ob es nicht neben Parochial- und Personalprinzip noch andere Modelle gibt, die die Vorteile beider Ansätze vereinen können.
Nicht zwangsläufig, aber die Idee, was “Mitgliedschaft” bedeutet, verändert sich, je nachdem, welche persönliche Mitgliedschaftsmotivation vorliegt. In Organisationen, bei denen Mitgliedschaft über z.T. automatische oder quasi-automatische Mechanismen geschieht, die der Kontrolle des einzelnen Mitglieds zuweilen entzogen sind (negativ beschrieben als “Zwangsorganisationen”) muss die Mitgliedschaftsfrage notwendigerweise auf weite Strecken vermieden werden.
Angesichts dessen, dass Kirche eine Gemeinschaft ist, fällt es mir schwer gänzlich “unsichtbares” Engagement zu würdigen. Das angesprochene Beispiel von der betenden Frau kann ja beispielsweise durch Besuchsdienste, wie in vielen Gemeinden praktiziert, eine eigene Form der Sichtbarmachung erfahren. Aber den Faktor des Engagements und der Fragen “Warum bist du hier?”, “Welche Rolle willst du in dieser Kirche einnehmen?”, etc. würde ich nicht unterschätzen. So eine Kultur größeren Engangements über die eh schon seit Jahrzehnten Verbundenen hinaus erwächst aber sicher nicht dadurch, dass man als Zugezogener mit einem vierzeiligen Brief und dem beigelegten Gemeindeblatt begrüßt wird.
Meine Erfahrung - auch kürzlich erst wieder im Gespräch mit Verantwortlichen - ist, dass sich das Paradigma von Volkskirche weiterhin hartnäckig hält: gerade in den Köpfen von Menschen in kirchenleitenden Positionen. Bzw. dass die Herausforderungen nicht als substantielle, sondern als akzidentielle Fragestellungen verstanden werden. Also nicht als “Was ist Kirche?”, sondern als “Wie können wir Kirche medial besser positionieren? Wie können wir in unserem Auftreten und unserer Außenwirkung attraktiver werden? Welche Predigtstile sprechen auch Jugendlichen an?” usw.
Mir würde fürs Erste auch eine fruchtbare dissensuelle Debatte zu dieser Frage genügen. Ich sehe die gegenwärtige Schwierigkeit nicht darin, dass hier kein Konsens bestünde, sondern dass der Frage insgesamt in weitem Bogen ausgewichen wird. (Vermutlich auch, weil jede mögliche Antwort nicht umhin käme, sich mit so heiklen Themen wie Mission zu beschäftigen.)
Hm, also ich habe ehrlich gesagt den Eindruck dass überall über “Kirche” diskutiert wird, dass das “Kirche-Sein” geradezu zum einzigen Thema von Kirche wird.., oder tauchen dir nur nicht “die richtigen” Antworten auf? Oder willst du etwa eine ekklesiologische Diskussion statt eine über Strukturen und Strategien???
…übrigens nicht nur für Kirchenleitung. Wenn man sich mal in der Dogmatik unter heutigen Lehrstuhlinhaber_innen umsieht, womit die ihre Qualifikationsarbeiten verbracht haben und womit sie sich heute beschäftigen, ist das aktuell auch in der Systematischen Theologie die Königsdisziplin (wenn man mal von Metafragen, der Befassung mit dem deutschen Idealismus und - natürlich - Reflexionen über “Religion”) absieht. Ein Symptom? Ein Effekt? Oder selbst auch eine Quelle der Krise? (ist jetzt polemisch formuliert - aber trotzdem m.E. nachdenkenswert)
Spannend, dass sich das hier ergibt - über Identität wollen wir ja in Ausgabe 2 von CZeTh schwerpunktmäßig nachdenken… Zufall?
…als ich mit dem Studium begann, war das so. Am ersten Tag kam direkt nach der Semestereröffnung ein Kaffeetrinken der Erstsemester mit dem Dekan, und bei dieser allerersten Berührung mit dem Theologiestudium überhaupt war eine Dame vom Arbeitsamt anwesend, die uns einen 40minütigen Vortrag hielt, was man mit dem Studium dann noch alles anfangen könnte AUSSER ins Pfarramt zu gehen. Die Kirchen (in dem Fall: die Rheinische Landeskirche) verbreiteten eine irre Panik, dass keiner übernommen werden könnte, weil wir zu viele wären und es zu wenig Stellen geben würde - statt sich ein sinnvolles Rekrutierungskonzept zu überlegen. Was möglicherweise teilweise auch den Effekt hatte, dass Studierende, die Qualitäten vorzuweisen hatten, sich nach anderen Arbeitgebern umsahen und welche fanden, und übrig bleibt der traurige Rest? Hier sehe ich auf jeden Fall auch ein ziemliches Versagen der Kirchen! Nun fehlt ihnen zum einen der Nachwuchs - und das hätte man eigentlich auch damals schon absehen können, dass die großen Theologenschwemmen vorbei sind - und zum anderen werden die inhaltlichen und persönlichen Anforderungen für die, die sich auf den Beruf einlassen, ja immer höher… Das macht es wiederum nicht einfacher, für Nachwuchs zu werben…
Nicht nur, dass die Anforderungen höher werden - die Anteile der verschiedenen Aufgaben werden auch andere: Wenn durch die Parochialstruktur in erster Linie Kasualien das ist, was auf jeden Fall gemacht werden muss, sind Pfarrer irgendwann nur noch mit Beerdigungen und Taufen beschäftigt. Das verstärkt das Bild des Pfarrberufs als Verwaltungsjob und zieht wiederum bestimmte Leute an, bzw. verändert Leute in der Kirche auch dahingehend.
Leider kommt oft das Personal bereits VOR den Gebäuden - weil die Gebäude geschützt sind, nicht verkauft werden können/dürfen, nicht gut anderweitig nutzbar sind etc., gibt es immer mehr Gemeinden mit mehr Gebäuden als Hauptamtlichen…
Beim längeren Nachdenken bekommt m.E. gerade dieses Phänomen schon symbolischen Charakter für das Nichtwahrhabenwollen des Paradigmenwechsels. Solange “die Kirche im Dorf” noch steht, wiegt man sich in den Sicherheiten, die durch vage Vorstellungen von “Kultur”, “Tradition”, oder - schon konkreter - die “öffentliche Rolle” von Kirche gedeckt zu sein scheinen.
Die Möglichkeit, dass gerade die Kirchen als Gebäude im öffentlichen Raum zu potemkinschen Dörfern werden könnten, wird dabei mit wilder Entschlossenheit ignoriert.
Die Potemkinisierung der Kirche ist aus meiner Sicht das drängendste, weil ignorierteste Problem. (Im übrigen ist damit die Kirche aber nicht allein. Das scheint anderen Institutionen mit dem “Volks-”-Präfix ähnlich zu gehen, z.B. den Volksparteien).