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Evangelium und digitale Welt. Erkundungen am Rand der "Gutenberg-Galaxis"

Kann ein Christentum, in dessen DNA über zwei Jahrtausende materiale Schriftkultur stehen, virtuell verkündigen, unterrichten, bezeugen? Protokollbeitrag zu einem ZSL-Workshop im Juni 2021.

Published onJun 23, 2021
Evangelium und digitale Welt. Erkundungen am Rand der "Gutenberg-Galaxis"
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Gott schreibt. Das bezeugen zumindest frühe Texte des Alten Testaments. Und wahrscheinlich lässt sich kaum materialer und analoger schreiben, als Gott es tut: auf Steintafeln. Auch danach steht fassbares Schrifttum im Zentrum der jüdischen und christlichen Geschichte. Die Lesung der Tora ist eine gegenständliche Performance. Die urchristliche Briefliteratur ist religions- und gattungsbildend. Klöster wurden zu Bibliotheken. Die Reformation und die Geschichte des modernen Christentums sind ohne das gedruckte Buch, das man greifen, feiern und leider auch verbrennen kann, nicht zu denken.

Mose zerbricht die Gesetzestafel | Gravur von Gustave Dore (1832-1883)

Heute stehen wir am Rand der “Gutenberg-Galaxis” (McLuhan) und fixierte Texte, die irgendwie physisch auf Dinge geschrieben wurden, gelten in der digitalen Welt vielen bestenfalls als Alternativen, nicht selten sogar einfach als Anachronismen. Heute lesen viele Menschen – Schülerinnen und Schüler allemal – täglich mehr Zeichen digital als analog. Wenn überhaupt. Die Sprachnachricht, der Video-Clip, der Podcast und andere auditive oder visuelle Typen sind für viele Primärformate – wobei immer mehr “das Medium selbst zur Botschaft” wird.

Was heißt das nun heute für die „Botschaft“ des Christentums? Sperrt sich die Struktur der digitalen Welt und Kommunikation gegen die gute Nachricht? Steht sie dem Evangelium irgendwie im Weg? Inhaltlich wohl eher nicht, aber doch vielleicht formal oder medial? Kann ein Christentum, in dessen DNA über zwei Jahrtausende materiale Schriftkultur stehen, auch virtuell verkündigen, unterrichten, bezeugen?

Diesen Fragen will der folgende Text im Anschluss an einen Workshop beim “Fachtag Religionsunterricht und Digitalität” des ZSL im Juni 2021 mit theologischen Überlegungen und auch einigen Gegenfragen begegnen.

Das soll in fünf Erkundungsphasen geschehen: ich will gleich zu Beginn (1) in die Grenzregionen der „Gutenberg-Galaxis“ reisen: Was genau ist das überhaupt? Und was lässt sich an ihrem Rand beobachten? Haben wir uns dort etwas orientiert, will ich die (2) beiden Welten betrachten, die hier aufeinandertreffen. Dabei wird der Fokus zunächst auf das Evangelium als Gottes Wort und Botschaft gerichtet. Hat dieses seinen Ort und seine Zeit nur diesseits des Gutenberg-Horizonts? Welche Medialisierung hat es in dieser Galaxis erfahren und ist es auf diese festgelegt? Danach soll der Kontrast hochgefahren und (3) ein Blick auf einige Spezifika der digitalen, neuen Welt geworfen werden. Dominiert hier eine „postliterale“ und „postorale“ Sprache der Medienkonvergenz? Oder ist gar jede Sprachform der digitalen Welt im Grunde ein Dialekt der neuen, digitalen lingua franca, nämlich der „unaussprechlichen Schrift des Binäralphabets“1? Nachdem wir das Randgebiet auf diese Weise grob kartographiert haben und die alten und neuen Ufer etwas abgelaufen sind, will ich (4) nach der Realität, der Sagbarkeit und Hörbarkeit des Evangeliums in der neuen Wirklichkeitsform der digitalen Welt fragen: welchen Bestand haben die umrissene Gestalt des „Wortes Gottes“ und die Sprache des Glaubens in dieser digitalen, neuen Welt? Sind mit den spezifischen Artikulationsformen der Digitalmedien Widerstände oder gar Widersprüche verbunden? Sperrt sich die Tiefenarchitektur digitaler Kommunikation gegen das „Wortgeschehen des Evangeliums“?
Am Ende der Reise (5) stehen drei Thesen für die Kommunikation des Evangeliums im Religionsunterricht. Welche Konsequenzen lassen sich aus den angestellten Überlegungen für den RU ziehen?


Zunächst zum Begriff. Üblicherweise gebührt es ja den Erstbetretern einer neugefundenen Region oder den Entdeckern einer astronomischen Größe, dieser einen Namen zu geben. Das führt bekanntlich zu teils skurrilen Benennungen und Konstellationen, weshalb sich etwa Rumpelstilz und Kleopatra regelmäßig im Asteroiden-Hauptgürtel unseres Sonnensystems begegnen und gelegentlich auch mal Karl Marx 2807 vorbeischaut. Nicht so bei der Gutenberg-Galaxis, die vielmehr im Augenblick des Verlassens, nicht bei Entdeckung, sondern im weiterreisenden Rückblick benannt wurde. Den Namensgeber gab dabei der kanadische Anglist und Medienhistoriker Marshall McLuhan, der große Klassiker der modernen Medientheorie. McLuhan meint mit der Rede von der Gutenberg-Galaxis das „Buchzeitalter“, das für ihn mit der Entdeckung des modernen Buchdrucks durch Johannes Gutenberg einsetzt. In Klammern: er trennt es damit von der „Manuskript-Zeit“ ab, die ja zweifelsohne auch Bücher produziert hat, aber in McLuhans Augen mit fundamental anderen literarischen, ökonomischen, medialen und kulturellen Verhältnissen verbunden war.

Lässt sich der Urknall, aus dem die Gutenberg-Galaxis hervorging, damit recht klar auf die Mitte des 15 Jahrhunderts datieren, ist deren Ende etwas schwieriger zu bestimmen. Unstrittig ist, dass das 20. Jahrhundert medienhistorisch eine Revolutionszeit bedeutet – und für McLuhan eben auch einen galaktischen Paradigmenwechsel. Das moderne Buchzeitalter wird durch das elektronische Zeitalter der zweite Moderne abgelöst.

Was hat das Gutenberg-Zeitalter geprägt? McLuhan nennt verschiedene Charakteristika, z.B. seine „mechanische Kultur“ und meint damit die „uniforme und wiederholbare“ Gestalt der Texte des gedruckten Buchs.2 Die Erfindung des Buchdrucks verstärkte die „Betonung des Visuellen, indem sie das erste uniform wiederholbare Konsumgut, das erste Fließband und die erste Massenproduktion schuf.“3 Mit dieser „Mechanisierung der Schreibkunst“4 waren eine Reihe Konsequenzen verbunden, die für das Buchzeitalter als ganzes prägend wurden.

Die Gleichförmigkeit und mechanische Präzision der Typografie macht den Text visuell und lesetechnisch absolut erwartbar. Der Leser war hier nicht visuell orientierend gefordert und musste sich – wie etwa bei bebilderten, verzierten Manuskripten der Seite als ganzer widmen. Der Text wurde funktional und der Leser „bewegt die Reihe vor ihm liegender aufgedruckter Buchstaben mit der Geschwindigkeit, die zur Erfassung des Gedankengangs […] nötig ist.“5 Diese mechanische Leseweise nach ungenauen und dennoch funktional effizienten Regeln sei uns in „Fleisch und Blut übergegangen“6 . Wir können die uniform und erwartungssicher gedruckten Typen zu Wörtern zusammensetzen oder auch schon als Wörter lesen – nach unserem jeweiligen, individuellen Tempo und nach mechanischer Weise. So machte der Buchdruck „allmählich das laute Lesen sinnlos und beschleunigte den Akt des Lesens“7. Die gedruckten Typen sind Textfließbänder.

Und was prägt nun das neue, das elektronische Zeitalter? McLuhan sieht einige echte Gegenzüge. Wo die Gutenberg-Kultur homogen sei, sei die elektronische „simultan“. Die Gleichzeitigkeit der neuen Medien steht irgendwie quer zu der Gleichförmigkeit des gedruckten Buches. Wo der Buchdruck mechanisch war, sind die elektronischen Medien „organisch“.8 Der Linearität des Alten steht ein Ineinandergreifen das Neuen gegenüber.

McLuhan hat die Verbreitung des Computers nicht mehr erlebt. Er starb 1980 an einem Schlaganfall. Insbesondere lernte er den Computer als multimediales Unterhaltungsmedium nicht mehr kennen. Man muss McLuhan daher für das Computerzeitalter weiterdenken. Er sprach explizit vom elektronischen Zeitalter (Grammophon, Radio, Fernsehen, Kino usw.). Einen solchen Versuch des Weiterdenkens – dazu in theologischer Perspektive – hat Matthias Petzoldt unternommen. Petzoldt sieht zunächst das die McLuhan’schen Thesen im Zeichen der Computertechnik durchaus bestätigt werden, dass aber einige Fundamentalfragen noch hinzugekommen sind. So fragt er, ob der Medien-Begriff als solcher im Hinblick auf den Computer überhaupt noch greift, wenn im Modus des Digitalen Text, Bild und Ton verschmelzen.9 Er spricht von einer „Medienkonvergenz“ im digitalen Zeitalter und einer Vereinheitlichung der Informationsverarbeitung. Und mit dieser Eigenart unterlaufen die mit dem Computer verbundenen Phänomene „die in der Oralität-/Literalität-Debatte sowie der Text-Forschung erarbeiteten kategorialen Unterscheidungen“10:

„Kann die Bindung der Schrift an die Visualisierung von Sprache noch aufrechterhalten werden, wenn die ‚unaussprechliche‘ Schrift des Binäralphabets zum neuen ‚Universalmedium‘ avanciert? […] Ist die Idee des Textes als abgeschlossener Sinngestalt noch aufrechtzuerhalten, wenn Hypertexte intertextuelle Bezüge den Texten selber implementieren?“11

Neben dem Aspekt der Medienkonvergenz, der die klassische Oralität-Literalität-Struktur unterläuft, gerät außerdem die neue Materialität bzw. Immaterialität der Kommunikation in den Blick. Während in der DNA der jüdisch-christlichen Überlieferung über zwei Jahrtausende materiale Schriftkultur eingetragen sind, ist die auf dem binären System aus Nullen und Einsen aufgebaute „virtuelle Realität“ alles andere als haptisch greifbar, materialisiert oder physikalisch gegenständlich. Die Heilige Schrift ist immer irgendwie auf Dinge geschrieben worden und hat allein dadurch eine reale, physische Realität. Von den Steintafeln, aber auch den gedruckten Büchern ist der digitale Buchstabe auf dem Bildschirm aber Lichtjahre entfernt. Das führt nicht nur in orthodoxen Kreisen zu herausfordernden Debatten. Im Januar 1999 meldete die Nachrichtenagentur AP:12

Das Wort “Gott” ist am Bildschirm nur eine Ansammlung von Lichtpunkten und also irgendwie nicht ‘substantiell’. Als solches kann es weg. Aber gilt das nun auch in allgemeinerem Sinn? Ist das digital dargestellte Evangelium – also das, welches nur aus Pixeln, das heißt aus Lichtpunkten besteht – ebenso wegen seiner bloßen materialen Substanzlosigkeit obsolet? Oder anders gefragt: ist der „evangelische Code“ des Bezeugens und Verkündigens mit dem „unaussprechlichen binären Code“ der digitalen Wirklichkeit womöglich einfach nicht kompatibel?


Das Evangelium ist eine Botschaft, ja die “frohe Botschaft”. Als solche wurde sie zunächst in mündlicher Weise verbreitet und dann schriftlich fixiert. Die niedergeschriebene Evangelium ist „geronnenes Wortgeschehen“13. Es ist eine literal konservierte, orale Botschaft. Und in diesem Übergang steckt etwas Charakteristisches. Es entspricht mit diesem „Übergang von der Oralität zur Literalität doch schon der intrinsischen Allgemeinheit des Wortes als solchem – Schrift als auf Dauer (Wiederholbarkeit) gestellte Rede.“14 Das geschriebene Wort ist ‘auf Dauer gestellte Rede’ und wird als solches gleichzeitig festgesetzt und wiederholbar. Diese Wiederholung des ursprünglich im Wort konservierten und bezeugten Evangeliums geschieht in Verkündigung und Unterricht, im aktualisierenden Zeugnis. Rede, die Schrift wurde, wird Voraussetzung neuer Rede.

Oralität und Literalität oszillieren. Das in der Schrift literal bezeugte, ursprünglich mündliche Wort des Evangeliums wird verkündet, wird in dieser Verkündigung wieder mündlich, neu, aktualisiert. Dem Evangelium ist eine formal-mediale Wandlungsstruktur von Oralität zu Literalität zurück zur Oralität eigen, als solches ist es ‘Wort’.

Dieser Wort-Charakter, diese ‘Verfassung’ des Evangeliums stößt uns nun direkt auf das titelgebende Problem: Widersprechen sich digitale Welt und Evangelium? Angesichts der Umbrüche, die mit den elektronischen Medien verbunden sind, stellt sich in der Tat die Frage, ob das so in Wortgestalt gebrachte und wiederholte Evangelium in seiner oral-literalen Gestalt an eine mediale Form gebunden ist, die ihre „kulturprägende Bedeutung verliert“15 . Oder anders gefragt:

Inwieweit wird die „an Oralität und Literalität orientierte Botschaft einer durch die neuen Medien organisierten Ausweitung der Rezeptionspraktiken noch gerecht?”16

Womöglich will man hier direkt gegensprechen: Ja, mag sein, dass sich die mediale Statik im multimedialen Zeitalter komplett verschiebt. Mag sein, dass wir ein postorales, postliterales Zeitalter erleben. Oder ein Zeitalter das diese Kategorien, wenn nicht als post-orales, post-literales ablösend, diese Kategorien doch zumindest unterläuft oder transzendiert. Aber: negiert das nicht nur die etablierte mediale Form des Evangeliums, doch nicht seine Botschaft? Das Medium wird ersetzt, die Botschaft aber nicht!?

Dem steht nun - zumindest prima facie - das prominenteste Diktum Marshall McLuhans entgegen. McLuhan, stellt für die postgutenberg‘sche Ära pointiert fest: „Das Medium ist die Botschaft – the medium is the message“.17 Im multimedialen Zeitalter ist das Medium selbst die Botschaft. Und: bedeutet ein anachronistisches Medium dann nicht notwendig auch eine anachronistische Botschaft?


Zur Typik dieses “multimedialen Zeitalters” gehört eine bestimmte mediale Struktur digitaler Kommunikations. Drei markante Differenzanzeigen zu den Bedingungen der Gutenberg-Galaxie will ich aufnehmen, ehe das Verhältnis von Evangelium und digitaler Welt in kommunikationsmedialer Hinsicht angeschaut werden soll.

3.1 Zur Struktur digitaler Kommunikation

In einem konzentrierten Beitrag über neu entstehende „digitale theologische Öffentlichkeiten“ haben Thomas Renkert und Frederike van Oorschot mehrere „Spezifika digitaler Kommunikation“ analysiert und schließlich mit theologischem Interesse reflektiert. Sie heben drei dieser strukturellen Eigenschaften besonders hervor:

  1. ein „Zusammenhang von Selbstdarstellung und Information. »Ich bin, was ich like« – Information kommt vor allem aus der Perspektive des eigenen Ichs in den Blick und ist immer auch Medium der Selbstdarstellung.“

  2. bewirken die Eigenarten digitaler Kommunikation eine „Fragmentarisierung der Kommunikations- und Lebenswelten“ – die berühmten Filterblasen. Es komme zu „Tendenzverstärkungen und selbstreferentiellen Kommunikationsprozessen”

  3. bewirken die algorithmisch strukturierten Interaktionen eine permanente „Profilbildung“, die aufmerksamkeits- aber vor allem auch ganz klassisch monetär-ökonomisch verwertet wird.

Dabei sei festzustellen, dass in der Gegenwart zunehmend weniger die typischen „persönlichen Daten“ als solche ökonomisch interessant sind: „Viel lohnenswerter scheint die Auswertung persönlicher Daten zur Erstellung granularer, personalisierter Merkmalcluster, die in Persönlichkeitstypologien oder Mikromilieus münden.“ [Dabei spielen] „Aspekte wie Religion, Spiritualität, religiöse Sozialkontexte, Werte, Traditionen, theologische Überzeugungen usw. […] bei der Erstellung solcher Typologien und der Steuerung von Verhalten eine zentrale Rolle: Gerade, weil sie besonders affin sind für emotive Kommunikationsprozesse […].“18

Diese Tiefengrammatik, die Aufmerksamkeitslogik und v.a. ökonomische Auswertungsrationalität, die mit den zentralen Strukturelementen digitaler Kommunikation unmittelbar verbunden sind, kassieren religiöse und theologische Gehalte mit ein. Es stellt sich neben allen sprach- und medienphilosophischen Unsicherheiten, die wir bisher angesehen hatten, auch die Frage, ob die Kommunikation des Evangeliums im verwertungs- und aufmerksamkeitsökonomischen Apparat der digitalen Welt nicht auf eine Rationalitätsform trifft, die sich der genuinen Botschaft des Evangeliums gerade sperrt. Sind Evangelium und digitale Tiefengrammatik also auch auf einer nicht-linguistischen, kulturtechnischen Ebene inkommensurabel?

3.2 The Medium ist the Massage – über die Prägekräfte multimedialer Kommunikation

Zweite Distanzanzeige: einer generellen Eigenart jeglicher Kommunikationsmedien kommt im Fall der multimedialen Kommunikation besondere Bedeutung zu: die Prägekraft bzw. der poietische Veränderungscharakter, den das Medium selbst auf die an der Kommunikation Beteiligten hat. Auch diesen Aspekt adressiert McLuhans pointiertes Diktum, wonach das Medium eben selbst die Botschaft sei.

Das Medium hat eine „konstitutive Funktion […] für die menschliche Wahrnehmung. [… Nicht nur die] „Botschaft des Mediums ist sein Inhalt, sondern das, was das Medium mit dem Menschen macht. […] Medien organisieren die Wahrnehmung der Menschen und geben somit die Sicht der Welt vor.“19

McLuhan bespricht diese Beeinflussung des Sensoriums durch das Medium, hinter der die Botschaft zurücktritt, vornehmlich im 1967 veröffentlichten Buch The Medium is the Massage. Es ist McLuhans meistverkauftes Werk. Der Titel geht der Anekdote nach auf einen Druckfehler zurück und ist dabei doch gerade die perfekte Adaption des „Medium-is-the-Message“-Diktums. Angeblich hatte der Schriftsetzer versehentlich die Type für das „e“ mit einem „a“ verwechselt und so den Titel erzeugt, den McLuhan schließlich nicht mehr korrigieren wollte.

Dieser „Massage-Charakter“ der Medien trat für McLuhan besonders in der Werbung zum Vorschein – und dabei befand er v.a. die seinerzeit aufkommende Fernsehwerbung als paradigmatisch. Diese sollte eine Botschaft senden, indem sie diese oft gerade nicht zum eigentlichen Inhalt der Sendung macht. Die mediale Massage sollte die Wahrnehmung, die Weltwirklichkeit der Konsumenten bearbeiten und etwas ‘mit ihnen machen’. Das Produkt wird einmassiert – nicht klassisch kommuniziert. Das kann bis dahin führen, dass das Produkt, die Marke, die beworben wird, ganz in den Hintergrund tritt. Beispiele solcher Spots gibt es unzählige. Ein Anschauungsbeispiel:

Climate action starts at home - IKEA

Medienkulturen und -formate ändern sich, ja. In den variierenden Formen verändern sie uns dabei beständig mit, wir ändern uns mit ihnen – media mutantur, nos et mutamur cum illis.

Das Medium ist Botschaft, indem es die ‘eigentliche’ Botschaft aus Ihrem Inhalt entlässt und unsere Sensorien 'massiert. Die Massage des Mediums beeinflusst unsere Wahrnehmung und Vorstellungen und damit verändert es eben auch unsere Vorstellung von der Botschaft, die eigentlich kommuniziert werden soll.

Aber: das gilt nun tatsächlich auch schon genauso für die Gutenberg-Zeit. McLuhan stellt bereits in seiner Charakteristik des Buchdrucks heraus, dass dieser – im Unterschied zur Schreibkultur der Manuskript-Zeit – durch die „Homogenität der Druckseite […] einen unbewussten Glauben an die Gültigkeit der gedruckten Bibel“20 erweckt habe. Die Bibel habe „in den Jahrhunderten vor Gutenberg nichts von einem gleichförmigen und homogenen Charakter an sich“21 gehabt. Das was da gedruckt steht und genauso tausendfach wiederholt immer genauso dasteht, hat eine andere, natürliche Objektivität und Permanenz. Auch das Medium Buch beeinflusste die menschliche Vorstellung massiv, schien auf subtile Weise, verlässlichere Inhalte zu transportieren als das mündlich Erzählte, das ja irgendwie bei jedem Erzählen anders ist, also„ungenau“. Das Manuskript als „Kunstwerk“ eines Produzenten war subjektiveren Anscheins als das homogene, verlässliche Buch. Es gilt das gedruckte Wort.

Es ist also freilich kein ganz neues Phänomen. Es ist nur eines, das sich im elektronischen, multimedialen Zeitalter massiv verstärkt. Medien machen schon immer mehr mit uns und „massieren“ uns. Die Frage ist, ob die phänomenale Veränderung des multimedialen Zeitalters quantitativ so mächtig ist, dass wir de facto von einem Sprung in der Qualität sprechen müssen. Hier müssen wir unsicher bleiben. Einen echten, qualitativen neuen Aspekt gibt es allerdings im Feld der digitalen Kommunikation an anderer Stelle. Es spricht mittlerweile tatsächlich etwas noch nie Dagewesenes mit, im Netz. Auf dieses echte Novum ist im Folgenden einzugehen.

3.3 Sprache ohne Menschen

Edmond De Belamy

Es gibt und gab keinen Edmond de Belamy. Die Figur auf dem Bild hat nie existiert. Noch interessanter aber ist: auch den Maler gibt es nicht! Dieses Bild zeigt einen nicht-existenten, Gegenstand und wurde von einem nicht-existenten „Künstler“ gemalt. Es handelt sich um das Werk einer künstlichen Intelligenz. Es ist das Ergebnis eines Algorithmus, der auf Grundlage einer Datenbasis von 15.000 historischen Porträts der letzten 500 Jahre ein „eigenes“ Bild „gemalt“ hat. Das Ziel war es, ein Bild zu generieren, das 100% originell ist – also keine Kopie, keine Variante oder Verfälschung eines Fotos oder bestehenden Kunstwerks –, sondern das es so noch nie gab und jemanden zeigt, den es nie gab. Für den Betrachter sollte gleichwohl unentscheidbar sein, ob das Bild von einem Menschen oder einer KI gemalt wurde – ein ästhetischer Turing-Test.

Ähnlich verhält es sich in anderen Ausdrucksformen. Frage: von wem ist das folgende moderne Märchen geschrieben?

Eine Katze mit Flügeln ging im Park spazieren. Es war ein seltsamer Anblick. Sie war vollkommen weiß und trug ein kleines Tuch in den Farben des Feuerclans um ihren Hals. Sie trug es mit Würde und Stolz, auch wenn es ein wenig derangiert wirkte.

Der grüne Kater war verwirrt, er hatte noch nie so ein Tier gesehen.

Als er die Katze auf sich zukommen sah, war er erst auf der Hut. Einzelne, kleine Leute gab es viele. Aber eine Katze mit Flügeln, noch dazu eine weiße, war etwas Seltenes. Und auf einer von Flügeln gehenden Katze saßen zwei kleine Jungen, zusammen mit ihrem Bruder, der vor ihnen an einem Baum stand und sie zu beobachten schien. Es war der auffälligste Bruder, denn er hatte in der rechten Vorderpfote eine Ader. Sie war im Gegensatz zu den anderen rechtsseitigen Adern deutlich hervorstehend, was ihn aber weder beeinflusste, noch sonderlich störte. Die Jungen lachten und sahen die Katze mit großen Augen an.22

Nicht Ionesco, Tomi Ungerer oder Jeff VanderMeer haben diesen Text geschrieben, sondern auch dieser ist das Produkt einer KI und auf der Basis eines „kreativen Algorithmus“ geschrieben worden.

Das Phänomen der KI betrifft nun nicht nur die kreative Produktion von Medien, sondern auch deren aktive und selbsttätige Nutzung. Die nebenstehende Grafik zeigt die Anzahl der „vernetzten Geräte“ weltweit nach Jahren an, d.h. die Anzahl von elektronischen Geräten, die über das Internet kommunizieren können – mit Menschen, aber auch und vor allem: miteinander. Wir reden hier über Maschine-zu-Maschine-Kommunikationen. Digitalisierungsforscher gehen davon aus, dass bereits heute die „weltweite Kommunikation auf der Erde weitgehend ein nicht- oder außermenschliches Phänomen“23 ist. Die Zahl der ans Internet angeschlossenen und dort kommunizierenden Geräte lag bereits 2010 im Durchschnitt bei 1,84 Geräten pro Person. Für das letzte Jahr liegen die Schätzungen bei 6,58 kommunizierenden, vernetzten Geräten pro Person.24 Und die Betonung liegt auf kommunizierende, nicht Kommunikationsgeräte, mit denen wir kommunizieren. Nein, der größte Teil darunter sind autonom mit anderen Geräten kommunizierende Geräte. Bereits jetzt führen „[i]mmens viele IKT-Anwendungsprogramme […] jede Millisekunde unseres Lebens unübersehbar viele Befehle aus, um die hypergeschichtliche Informationsgesellschaft am Laufen zu halten.“25 So sind beispielsweise heute in einem durchschnittlichen Neuwagen mehr informationsverarbeitende Rechenleistung eingebaut, als die NASA beim Apollo-Programm zur Verfügung hatte.26

Nimmt man beides zusammen, lässt sich feststellen, dass wir die digitale Welt so eingerichtet haben, dass heute der allergrößte Teil der globalen Kommunikation irgendwie selbsttätig stattfindet, ohne noch von uns wahrgenommen zu werden. Und dabei ist informationsverarbeitende Kommunikation gemeint, die unser Leben, unsere Wirklichkeit organisiert. Ein signifikanter Teil der fundamentalen Kommunikationsprozesse, die unsere moderne Humangesellschaft am Laufen halten, findet ohne uns statt.


Exemplarisch sind in den voranstehenden Abschnitten einige Nova herausgestellt worden, die medial mit der digitalen Technik verbunden sind: die multimediale und medienkonvergente (bzw. -konvergierende) Konfiguration; die menschheitsgeschichtliche Neuheit selbstaktiver Medialität durch KI; eine spezifische verwertungs- und aufmerksamkeitsökonomische Rationalität, verändernde mediale Massage-Praktiken, die neue kulturelle Codes und Wahrnehmungsweisen bedeuten; mediale Selbstreferenz als Charakteristikum des elektronischen Zeitalters – das Medium selbst ist die Botschaft.

Das Setting, das diese Nova bilden, kann die etablierte Oralität und Literalität des Gutenberg-Zeitalters unterlaufen. Diese Möglichkeit motiviert die Frage, ob sich die vordigitale Theologie – indem sie „Rede von Gott“ sein will – an ein „Medium gebunden hat, das seine kulturprägende Bedeutung“27 verliert oder doch zumindest einbüßt. Werden Theologie und Religionsunterricht als Versuche der Hermeneutik und Kommunikation des Evangeliums durch die mediale Festlegung auf Oralität und Literalität zu Anachronismen der digitalen Welt?

In der Tat, prima facie wirkt die Diskrepanz bestimmend und McLuhans Zäsurdiktum scheint die Inkommensurabilität der beiden Sphären nur pointiert auf den Begriff zu bringen. Ja,

„[b]eim elektronischen Bildmedium dominiert Selbstreferenz: da ist das Medium die Botschaft; bei der Sprache hingegen Fremdreferenz: dort ist das Wort oder besser der Satz das Transportmittel für eine Botschaft, für die Aussage des Satzes, für die Proposition, für den Informationsgehalt. Aber man darf sich von diesem ersten Eindruck nicht täuschen lassen. […] Und die Verschiedenheit der Sprache zum elektronischen Bild […] erscheint nur dann so gravierend, wenn man die Sprache einseitig als Informationsmedium versteht.“28  

Aber insbesondere die Sprache des Glaubens hat eben nicht diesen Charakter. Nehmen wir deren Eigenart genauer in den Blick, stellen wir fest, dass wir uns bisher – der Pointe, der Dynamik, der „Massage“ wegen – ein paar sehr grobe Ungenauigkeiten und Schablonisierungen geleistet haben, als wir von Sprache, Wort und Schrift geredet haben. Die Rede von Gott, wie sie Theologie und Kirche führen wollen, und die Sprache des Glaubens, in der das Evangelium bezeugt und verkündigt wird, ist keine einfache „Informationssprache“.

4.1 Die Sprache des Glaubens

Für die Sprache des Glaubens gilt, dass sie

„der Wirklichkeit notwendigerweise mehr zu[spricht], als das jeweils Wirkliche aufzuweisen hat und als Wirklichkeit überhaupt auszuweisen vermag. Die Sprache des christlichen Glaubens teilt […] diese Eigenart religiöser Rede, die nur dann wahre religiöse Sprache ist, wenn sie, ohne am Wirklichen vorbeizureden, über es hinausgeht.“29

Das liegt insofern in ihrer Grundstruktur, als die Sprache des Glaubens von Gott reden will und damit von einer Wirklichkeit reden will, die über die deskriptiv und informativ fixierbare Weltwirklichkeit hinausgeht. Damit ist die Sprache des Glaubens in gewissem Sinne per se auf produktive Weise unscharf. Aber sie ist nicht beliebig, sondern will „dass die Wirklichkeit durch Veränderung in Übereinstimmung mit dem Urteil des Glaubens über die Wirklichkeit gebracht wird.“30

Die Sprache des Glaubens will verändern, sie will stören, aus der Ruhe bringen, aber auch Angst nehmen und befreien. Auch die befreiende Botschaft des Evangeliums kann massierend Knoten lösen und Blockaden brechen – und will dabei trotzdem immer zugleich im Modus des Widerspruchs bleiben. Die Sprache des Glaubens ist uneindeutig, sie informiert, indem sie Gottes Informatio(n)31 bezeugt, aber in „metaphorischer“ Medialität: „Die Sprache des Glaubens ist durch μεταφορά konstituiert“32 und implementiert dabei die Grundeigenschaft metaphorischer Rede insgesamt, nämlich die, dass „die Metapher denn auch nur insofern von der Wirklichkeit ab[weicht], als sie im Rahmen der Wirklichkeit bleibt.“33 Dabei ist die metaphorische Sprache (des Glaubens) nicht beliebig und um ihrer Metaphorizität willen treffend: „Metaphern müssen glücken. Damit sie glücken, ist es erforderlich, das Ähnliche zu erkennen.“34 Das ist eine Fundamentalbedingung der metaphorischen Rede und auch der Sprache des Glaubens, insofern sie als metaphorische Rede formuliert. Für sie gilt im Besonderen, dass „[j]ede glückende Metapher […] eigentlich etwas aufblitzen lassen [müsste] von der Entsprechung, die die Welt im Innersten zusammenhält.”35

Die Sprache des Glaubens spricht und wirkt, sie ist Wortgeschehen. Indem sie mehr sagt, als ist, und mehr ist, als sie sagt, ist sie sprachpragmatisch den Charakteristika, die wir der „digitalmedialen Sprache“ zugesagt hatten, nicht fremd. Vielmehr teilen sie diese Dimension wirkender, „massierender“ Medialität, die der Sprache grundsätzlich eigen ist, hier aber jeweils besondere, wenn auch eine je eigene Funktion bekommt.

In dieser Perspektive ist auch der „Aspekt der Wirkmächtigkeit des Evangeliums [zu verstehen und] wird nach der sprachpragmatischen Seite hin durchschaubar: nämlich die als die Wirklichkeit konstituierende und nicht nur Wirklichkeit beschreibende Fähigkeit der Sprechhandlungen.“36 Dass Sprache – egal ob in prä-, post- oder „gutenberg“-literaler Form – handelt, ist als linguistische Grundeinsicht im 20. Jahrhundert, also am Rande des Buchzeitalters, erneuert und mit Nachdruck zur Geltung gebracht worden. McLuhans Diktum spitzt das für die elektronischen Medien zu. Aber darüber wird die „Sprache des Digitalen“ eben nicht inkommensurabel zur „Sprache des Glaubens“, in der das Evangelium kommuniziert wird. Die „neuen Medien“ sperren die alten nicht aus. Genauso wenig sind Medien im Allgemeinen als „Hardware“ einer bestimmten „Sprachsoftware“ entweder kompatibel oder nicht. Die neuen Medien treten neben die alten, erweitern oder integrieren diese. Die Sprache als Fundamentalmedium wird in diesen nur unterschiedlich oralisiert, literalisiert, elektronisiert, verzerrt, gefühlt oder sichtbar oder anderweitig medial angewandt.

Für die Theologie ist zudem zu ergänzen, dass hier Medium und Botschaft von je her und in der Sache verbunden sind. Hier kann nicht das eine das andere ersetzen oder unterlaufen. Dass Medium und Botschaft im Wandel der medialen Kulturgeschichte unterschiedliche Akzentuierungen bis hin zur zeitweisen Substitution des einen durch das andere erfahren, ficht die Sprache des Glaubens nicht an, sondern spielt als Variation innerhalb des von ihr umfangenen Möglichkeitsspektrums. Theologie als Rede von Gott und im Besonderen als Hermeneutik und Kommunikationswissenschaft des Evangeliums weiß erstens um ihre stetige Indirektheit in Bezug auf den von ihr nicht wiederholbaren oder greifbaren Gegenstand. Gottes Offenbarung wird bezeugt nicht „begriffen“ und dann einfach weitergegeben. Die Sprache des Glaubens ist immer Sprache der Menschen im Modus des metaphorischen Bezeugens. Sie steht daher nie medial quer zu je dominanten Form menschlichen Kommunizierens, gleich ob dieses homogen oder simultan, linear oder organisch, material oder virtuell, literal oder elektronisch geschieht. In dieser fundamentalen Indirektheit christlicher Zeugensprache gründet zweitens ihre mediale Souveränität. Das Evangelium ist nie Menschenwort und man beginge einen Kategorienfehler, wollte man eine Verletzlichkeit oder Unverständlichkeit des Evangeliums aus dem Gedanken einer medialen Inkompatibilität entwickeln. Die Uneindeutigkeit menschlicher Zeugenrede und die Medialität menschlicher Zeugensprache mögen der Evangeliumsbotschaft immer wieder im Wege stehen und sind zeitgeist- und technologiesensibel -  aber eben nur der menschlichen Zeugenschaft wegen und nicht wegen des bezeugten Inhaltes:

„Weder die Schrift noch die Bibel sind mit Gottes Wort gleichzusetzen. Gottes Wort kommt als Verheißung und Erfüllung, als Auftrag und Geschenk, als Gesetz und Evangelium. Die Schrift bezeugt und verweist auf Gottes Wort [...] aber sie ist als Menschenwort weder Gesetz noch Evangelium. Und die Bibel verweist auf Gottes Wort [...] nur dann, wenn sie [...] als Buch [gelesen wird], dass die Kirche gebraucht, um sich in ihrem Leben an der Schrift zu orientieren.“37

Die Sprache des Glaubens ist daher nicht die „Sprache Gottes“, sondern menschliche Sprache, die aber konstitutiv ist, die wirksam sein will, die Wort geschehen und etwas verändern will. Darüber kann auch hier Medium = Message = Massage werden. Das depotenziert sie nicht, das disqualifiziert sie auch nicht als anachronistisch (und genauso wenig als „zeitgemäß“), sondern zeichnet sie als menschliche Sprache im positiven wie negativen Sinne gleichermaßen aus.

Dazu kommt: wenn die Sprache des Glaubens von Gottes Wort spricht, spricht sie ja nicht von einer ihr irgendwie vergleichbaren Form. Nicht die Bibel selbst ist Gottes Wort, sondern der durch sie bezeugte, ihre Mitte:

„Nicht das, was wir seit Luther als das Wort Gottes zu bezeichnen uns gewöhnt haben, die Heilige Schrift, ist seine [d.h. Gottes] ursprüngliche Sprache und Selbstaussage, sondern Jesus Christus als der Eine und Einzige und dennoch nur im Zusammenhang mit der Gesamtgeschichte der Menschheit und mit dem gesamten geschöpflichen Kosmos zu Deutende ist das Wort, das Bild, der Ausdruck und die Exegese Gottes, er, der als Mensch den ganzen menschlichen Ausdrucksapparat geschichtlicher Existenz zwischen Geburt und Tod mit allen Lebensaltern, Lebensständen, die einsamen und sozialen Situationen benützt, gibt Zeugnis.“38

„The Medium is the Message“ als Überschrift der elektronischen Medialität meint ja auch nicht einfach Selbstbespiegelung, Inhaltslosigkeit. Dass das Medium zur Botschaft wird, heißt nicht, dass die Botschaft ausgelöscht, der Inhalt nur durch Form ersetzt würde. Nicht „Entertainment statt Content“. McLuhans Diktum bedeutet, dass das Medium selbst produktiv wird, nicht nur Vehikel der Botschaft ist, kein nackter Briefumschlag, der die Nachricht enthält. Das Medium wird selbst wirksam und so auch Botschaft, es trägt die Botschaft und trägt zur Botschaft bei. Und das steht nun eben gar nicht in Konkurrenz oder Widerspruch zur „Sprache des Glaubens“, die ja selbst Wirklichkeit schaffen

Die digitale Welt „wider“spricht dem Evangelium also freilich nicht – oder tut es zumindest nicht mehr oder weniger als die „analoge“. Die Welt a se drängt Gott ans Kreuz und Gott lässt sich herausdrängen.39 In allen Zeiten und allen medialen Paradigmen. Das ist Teil seines Weltregiments und Aufforderung zu Nachfolge und Wegbereitung. Gottes „Information“ ist Jesus Christus. Von ihm her ist alle Geschichte Informationszeitalter. Medium und Botschaft der Information Gottes ist Christus. Alle anderen „Medien“, in denen die Sprache des Glaubens spricht, bezeugen das, sie sind Medien zweiter Ordnung. Sie sind im Wandeln, ja und sie „massieren“ auch alle anders. Aber das Evangelium als Gottes Information ist robust gegenüber allen guten und schlechten Massagetechniken des Menschen.

„Sprache des Glaubens“ und „Sprache der digitalen Welt“ sind nicht inkommensurabel. Es klingt abgedroschen, aber im Gegenteil bietet die Digitalisierung die Chance, das Evangelium neu und doch nicht ganz anders zu bezeugen. Reduktionistische, inhaltlose Identifikationen von Medium und Botschaft kann die Evangeliumsbotschaft aufbrechen, produktive Identifikationen sind seit jeher Teil ihr Versprachlichungsversuche. Medien bezeugen – und christliches Zeugnis erfolgt in der robusten Sprache des Glaubens, die in Schrift gerinnt und aus dieser wieder hörbar gemacht wird. Dem Evangelium in solcher Sprache und Schrift des Glaubens widerspricht die digitale Welt nicht. Das kann sie gar nicht, weil sie auf anderer Ebene spricht. Auf dieser Ebene kann sie der Bibel widersprechen oder diese versperren und bis zur Unkenntlichkeit medial übermalen. Aber der Raum und die mediale Kraft, die Sprache und Schrift des Glaubens im Zeitalter der Digitalisierung haben, hängt – wie in allen Gutenberg- und sonstigen Zeitaltern auch – viel weniger von Techniken und Formaten ab, sondern von Zeuginnen und Zeugen, die sich ihrer bedienen:

„Christlich entscheidend ist die Schrift, nicht die Bibel. Der Umgang mit der Bibel mag aus der Kultur des Westens verschwinden und im Leben der Christen in einer digitalen Kultur keine große Bedeutung mehr haben. Die Schrift aber wird im Leben der Kirche ihren Platz behalten, weil sie ohne Schrift nicht das sein könnte, was sie ist.“40


5 Ausblick: Thesen für den RU

Ich will zum Schluss drei Thesenkomplexe im Horizont von Religionsunterricht und Digitalität skizzieren, die die voranstehenden Eindrücke in unterschiedlicher Form verarbeiten. Sie gehen vom Zeugnischarakter, Massage-Medialität und Kommensurabilität beider Sprachsphären aus.

Auf Infragestellungen der digitalen Welt mit der Infragestellung durch das Evangelium reagieren

Wir sagten: die Medialität der digitalen Welt widerspricht dem Evangelium nicht und kann es auch gar nicht. Sie kann der Medialität des Evangeliums im Wege stehen. Ich will die Frage nun einmal umdrehen: wo widerspricht die Botschaft des Evangeliums den (problematischen) Strukturen der digitalen Welt? Wo können vom Evangelium her, die Anfechtungen der Digitalisierung ihrerseits angefochten werden?

Drei Aspekte lassen sich hier m.E. besonders herausstellen, die an die obige Strukturanalyse zu den Spezifika digitaler Kommunikation anschließen. Sie variieren Chancen und Risiken digitaler Medialität, die in der Kommunikation des Evangeliums im RU angesteuert werden können. Es geht um drei Kritikpunkte: Bibelkritik, Medienkritik, Selbstkritik.

Bibelkritik

im Anschluss an Dalferths Statement – „Christlich entscheidend ist die Schrift, nicht die Bibel“ – wäre für den RU zu konstatieren: es geht um den Gebrauch biblischer Texte zur Kommunikation des Evangeliums – und nicht um ‚dieses‘ Buch.

Der moderne Mensch hat die naive Perspektive auf die Bibel verloren. Dahinter ist nicht zurückzugehen. Wir sollten daher keinesfalls im RU einen naiven Zugang zur oder naives Interesse an der Bibel unterstellen oder forcieren? Präsentieren wir die Bibel als das, was sie ist: ein Medium, das Zeugnis ablegt. Fragen wir dann aber, was da bezeugt wird und was dieses Zeugnis geschehen lass will. Fragen wir: Was ist die Bibel-Massage?

Im Zentrum sollte die Beschäftigung mit dem ‚Evangelium‘ als der Kraft der Veränderung menschlichen Lebens, als Kritik menschlichen Lebens und Verheißung menschlichen Lebens stehen.

Medienkritik

Digitale Kommunikation massiert uns eine bestimmte Form der Aufmerksamkeits-, Verwertungs- und Bewertungslogik ein. Machen wir das im RU sichtbar. Wie jedes Medium gilt auch für das Internet: Das Internet zwingt uns. Es bedeutet Zwang zur Inszenierung, Zwang zur Präsenz, Zwang zur Bewertung.

Es bedeutet
„das Diktat eines bestimmten Lebensstils: Du musst so leben, wenn du überhaupt leben willst. Nun, das mag in dieser Form ein pessimistisches Bild sein. Es lässt sich immerhin auch eine Gegenrechnung aufmachen. Aber diese Gegenrechnung muss eben eine christliche sein! Die Christen müssen beweisen, dass sie nicht nur von Freiheit reden, sondern dass sie die ihnen gegebene Freiheit auch verstehen, gebrauchen und anderen Menschen mitteilen können. Für die Notstände des Freiheitverlustes hat die Christenheit einzutreten.“41

Zur Kernbotschaft des Evangliums gehört die verantwortliche Freiheit. Freiheit, von der Gebrauch gemacht wird. Im, mit, außerhalb und gegen das Internet. Das ist die Botschaft des Evangeliums, die hörbar gemacht werden muss. Die evangelische42 Freiheitsbotschaft ist Grund und Boden einer christlichen Medienkompetenz. Um diese geht es mir hier. Medienkompetenz – kaum ein Begriff ist bildungswissenschaftlich so abgegriffen – bedeutet eben nicht, die SuS an die Hand zu nehmen und mit Ihnen einmal durchs Internet zu spazieren. Es bedeutet die transmedialen und womöglich metamedialen Voraussetzungen zu schaffen, verantwortlichen Gebrauch der Freiheit und engagierte Vernunft zu leben.

Selbstkritik

In der medialen Verfassung des elektronischen Zeitalters dominiert die Selbstreferenz. Selbst die äußerliche als Fremdreferenz inszeniert Bewertungspraxis – das gefällt mir – dient primär der Selbstinszenierung und -definition – „ich bin, was ich like“. Ich denke, hier geht vom Evangelium in der Tat ein Widerspruch aus, wenn auch ein gebrochener. Die Kommunikation des Evangeliums in der Sprache des Glaubens hat ihr inneres Kriterium in Jesus Christus als „dem Gekreuzigten“43. Das Kreuz als widerständiges, unkomfortables, „skandalöses“ Kriterium bricht mit den bestehenden Abwehr-, Selbstberuhigungs-, Blindheits-, Komfortmechanismen.

Vom Evangelium her gibt es Identität „nur im Bereich der Nichtidentität, der Entäußerung an das andere und der Solidarität mit anderen”44. Die Nicht-Identität als selbstentäußernde Suche nach dem Bestritten-werden ist das Relevanzkriterium der christlichen Rede. Christliche Existenz heißt, sich bestreiten lassen. Das wäre eine ‚evangelische Information‘, die wir im RU des digitalen Zeitalters der Kultur der Selbstreferenz entgegenhalten sollten. Oder Metapher:

 „Wichtig ist die SpaceBar, denn die Leertaste ist die wichtigste auf der Klaviatur des Lebens. Den Zwischenräumen und Lücken ist Platz einzuräumen. Denn die Lücke ist der Ort, wo Sinn zünden kann.“45


Literatur


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