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Christentumsgeschichte in Leitideen und Leitdifferenzen. Ein Vorschlag aus Theologie und Soziologie

Ein Erkundungsgang durch konzeptionelle Überlegungen dient der Profilierung von Christentumsgeschichte als Ideengeschichte. Dabei wird eine bestimmte soziologische Institutionentheorie beleuchtet, deren Begriff der Leitidee historisch-theologisch anschlussfähig zu sein scheint.

Published onJun 24, 2021
Christentumsgeschichte in Leitideen und Leitdifferenzen. Ein Vorschlag aus Theologie und Soziologie
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1. Sehepunkt

Die Frage, wie man europäische Religionsgeschichte schreibt, verweist von sich aus auf konzeptionelle Überlegungen ganz grundsätzlicher Natur zu Gestalt, Ausrichtung und Vermittlung der Geschichte christlicher Religion.1 Dieser Herausforderung stelle ich mich als evangelischer Theologe und Kirchenhistoriker, der seinem Beruf und seiner Disziplin ein bestimmtes Grundverständnis zugrunde legt. Daraus resultieren spezifische Voraussetzungen und perspektivische Bindungen, die ihrerseits in einen besonderen wissenschaftskulturellen Kontext einzuzeichnen sind: die deutsche akademische Theologie in ihren institutionellen Bezügen. Deren normativ geregelte Existenzbedingungen und profilbildenden Grundzüge kulminieren in zwei Aspekten, nämlich ihrer konfessionellen Positionalität und ihrem konkreten Professionsbezug. Diese Propria mag man nun in ihrer Tradition und Entwicklung wertschätzen, wie ich es dezidiert tue, oder auch nicht – ihre andauernde strukturell-legitimatorische Geltung für Forschung und Lehre ist wohl kaum infrage zu stellen. Positionalität und Professionsbezug der akademischen Theologie bilden daher den Hintergrund der folgenden Überlegungen, die naturgemäß einen ebenfalls theologisch-positionell geprägten Sehepunkt offenlegen.

2. Theologie

In seinem 1834 erstmals erschienenen Lehrbuch Kirchengeschichte2 erklärt der theologische Allrounder Karl (von) Hase, »der bedeutendste protestantische Kirchenhistoriker seiner Epoche«,3 ja überhaupt »einer der maßgeblichen Denker des Protestantismus im 19. Jahrhundert«,4 einleitend: »Nur was irgend einmal wahrhaft gelebt hat und ebendadurch unsterblich ist, indem es eine Strahlenbrechung des christlichen Geistes in sich darstellte, gehört zur Geschichte, die eine Geschichte der Lebendigen ist und nicht der Todten, wie Gott nur ein Gott der Lebendigen«.5 Dieser ideengeschichtlichen Transferoption, über das geschichtlich Bewegte und Bewegende die Geschichte des Christentums in ihrer kulturellen Vielfalt und ihrem theologischen sowie institutionellen Spannungsreichtum vorzustellen, liegt freilich eine tiefere Einsicht zugrunde, nämlich »daß wir von dem leben, was uns große Individuen darreichen und daß zwar der vergangene Geschichtslauf ewig vergangen bleibt, daß aber ein gutes, zeugungskräftiges Wort sammt der Person, die hinter ihm steht, eine ewige Gegenwart hat u. Gegenwartskraft besitzt«, wie es später Adolf von Harnack formulierte.6 Und das, was uns »große Individuen« darreichen, ja was sie uns in der Rückschau überhaupt als »große Individuen« entgegentreten lässt, sind in – von der Person und ihrer Lebenswirklichkeit nicht ablösbares – »zeugungskräftiges Wort« überführte Ideen, deren anhaltende Anregungsqualität damit zum entscheidenden Auswahlkriterium erhoben wird. So wird dann das geschichtliche Christentum als spannungsreiche Fülle in zeitlicher Erstreckung konturierbar.

Die »vielen Gesichter des Christentums«7 primär ideengeschichtlich zu erschließen, kann sich in der prägnanten Darstellung von »Schlüsselerlebnisse[n] christlicher Denker« ausdrücken, die in der theologiehistorischen Rückschau regelrechte »Sternstunden der Theologie« hervorbrachten.8 In gezielten gegenwartsorientierten und zugleich gegenwartsorientierenden Zuspitzungen werden dabei – mit Hase – »wesentliche Entwickelungspunkte des christlichen Geistes«9 aufbereitet, um exemplarisch nachzuzeichnen, welche Ideen von wem wann und warum in ein – nach Harnack – »zeugungskräftiges Wort« gegossen wurden, das dann eben »sammt der Person, die hinter ihm steht, […] Gegenwartskraft besitzt«. Derartige Zuspitzungen sind freilich nicht unproblematisch: »Sternstunden sind unverfügbar, nicht zu berechnen und immer erst in der Rückschau als solche zu erkennen. Sie sind aber auch Verdichtungsphänomene: Ereignis- und Problemgeschichte, die Fragen, Hoffnungen und Ängste einer Generation oder einer ganzen Epoche verschmelzen in einem Werk oder einer Biographie«.10 In solchen Sternstunden wären dann in Anlehnung an Friedrich Schleiermacher theologiegeschichtliche Epochen des Wechselspiels von Erfahrung, ihrer Deutung und deren Artikulation im Unterschied zu den sie vorbereitenden und von ihnen ausgehenden Perioden zu sehen.11

Vor diesem konzeptionellen Hintergrund geht es diesem Beitrag somit um durch verschiedene geschichtlich-kulturelle Einflüsse geprägte, aufgeworfene oder bewegte religiöse Leitideen. Diese wären freilich auch daraufhin zu untersuchen, ob es sich bei ihnen jeweils um genuin christliche Phänomene handelt oder aber um gleichsam übergreifende Erscheinungen, die dann aber im Zuge ihrer religiös spezifischen Aneignung eine christliche Gestalt gewannen. Statt also primär auf den institutionellen Faktor »Kirche« als die Auswahl strukturierendes und ihre Bestandteile verbindendes Moment zu setzen, erhalten nun geschichtlich bedingte Leitideen und mit ihnen eine vorzüglich theologiehistorische Ausrichtung den Vorzug. Damit scheint bereits erheblicher Ballast abgeworfen. Denn zum einen ist wegen der ansonsten unvermeidlich eintretenden »Grenzüberschreitung in einen wissenschaftlicher Plausibilisierbarkeit entzogenen Raum« die theologisch verantwortete Christentumsgeschichte »als empirische Wissenschaft […] von jeder Geschichtstheologie und Geschichtsphilosophie streng fernzuhalten«,12 was die Fokussierung auf theologische Ideen durchaus nahehelegt, die aufgrund ihrer selbstverständlichen Lebensbezüge unausweichlich sozial-, kultur-, geschlechter-, gattungs-, medien-, institutionen-, frömmigkeitshistorisch etc. zu kontextualisieren sind. Jener Fokus minimiert – sodann – das Risiko einer »institutionengeschichtliche[n] Verengung«,13 welches das Abstellen auf den Faktor »Kirche« gerade im Zusammenhang interreligiös-komparatistischer Fragestellungen mit sich zu bringen droht.

Ein solcher theologiegeschichtlicher Zugriff birgt freilich die Versuchung, »das Wesen historischer Vorgänge in abstrakten Formeln und Definitionen zu beschreiben, in denen die mystischen Begriffe Idee, Prinzip, Geist die größte Rolle spielen, denn solche Formeln kann man nur finden, wenn man von der Ermittlung des Konkreten, des Individuellen, Besonderen, Charakteristischen, Unwiederholbaren, das den Begebenheiten in der Überlieferung anhaftet und ihre geschichtliche Wirkung jeweils bedingt, absieht und statt dessen, wie man sagt, zu ›allgemeinen Betrachtungen sich erhebt‹«.14 So brachte es jedenfalls Heinrich Boehmer einmal zutreffend auf den Punkt. Damit ist folgerichtig die Frage nach den die getroffene Auswahl durchziehenden und deren religionsgeschichtliche Relevanz gewährleistenden Leitlinien des ideen- bzw. theologiegeschichtlichen Zugriffs aufgeworfen. Gerade zu plausibilisieren, was die in ihren vielgestaltigen historischen Kontexten entfalteten, rezipierten oder transformierten religiösen Ideen perspektivisch in einen geschlossenen und für die Gegenwart historisch-theologisch bedeutsamen Zusammenhang treten lässt, ohne »der Gediegenheit ihres eigenen Seins in der Zeit«15 irgendwie Abbruch zu tun, verlangt nach Boehmer bereits »als Anlage […] den Sinn für das Wesentliche, den Blick für die grossen Zusammenhänge, die Gabe anschaulicher Darstellung und das Vermögen, die ungeheuren Stoffmassen klar und übersichtlich zu disponieren«.16 Vorausgesetzt sind demnach den historischen Stoff orchestrierende Strukturierungsleistungen, die Wesentliches und Zusammenhänge innerhalb der getroffenen Auswahl überhaupt erkennbar werden lassen, zumal wenn es darum geht, aus der Menge des Möglichen das zu Vermittlungszwecken Brauchbare auszuwählen und darstellerisch in eine nachvollziehbare Ordnung zu bringen.

3. Soziologie

In diesem Kontext sei nun ein Blick in eine spezifische Gestalt der soziologischen Institutionentheorie erlaubt: Leistungsfähigkeit und zugleich Profil der ideen- oder theologiegeschichtlichen Schwerpunktsetzung, die u.a. nach den Forderungen und Ansätzen der in sich wiederum vielgestaltigen »Cambridge School« ganz selbstverständlich verschiedenste historische Zugriffsweisen und Perspektiven integriert,17 lassen sich ihrerseits mittels soziologischer Theoriebildungen untermauern. So schlägt zum Beispiel Karl-Siegbert Rehberg einen Institutionenbegriff vor, der jedweder geschichtsphilosophischen oder - theologischen Überstrapazierung genauso entgegenwirkt wie möglichen positionellen Verengungstendenzen, der es jedoch zugleich ermöglicht, institutionen-, ideen- und kulturgeschichtliche Aspekte analytisch einzubinden. Rehberg geht im Rahmen seiner kritischen Institutionentheorie grundsätzlich davon aus, dass »das Institutionelle an einer Ordnung […] die symbolische Verkörperung ihrer Geltungsansprüche« sei.18 Die daraus sprechende weite, heuristisch gleichsam entspannte »begriffliche Fassung ›des Institutionellen‹«19 setzt voraus, dass »jede ›Ordnung‹ eine – mehr oder weniger ausgeprägte – institutionelle Form hat, in der die Ordnungsprinzipien zur Darstellung kommen«,20 wobei geschichtliche Kirchen dann zu denjenigen Organisationen gehören, »die diese institutionelle Form in besonderer Weise gesteigert haben, in denen die Sichtbarkeit der Ordnung in den Mittelpunkt gerückt wurde«.21

Die institutionellen Ordnungsstabilisierungen durch symbolische Verkörperung von »faktische[n] und normative[n] Geltungsbehauptungen«22 äußern sich maßgeblich in und durch Leitideen:
»Eine Leitidee ist eine Synthese von Widersprüchlichem und verleugnet zugleich die Mehrzahl der in ihr spannungsreich verarbeiteten und der mit ihr konkurrierenden Sinnsetzungen und Ordnungsentwürfe. Jedoch ist ihre Geltung nie unbestritten und von den unterschiedlichen Interessen von Trägerschichten abhängig«.Folglich sind Leitideen »nicht einfach auf den Begriff gebrachte ›Notwendigkeiten‹, sondern sie symbolisieren jeweils durchgesetzte (wenn zuweilen auch auf lange Traditionen zurückgreifen könnende) Ordnungsarrangements«.23 Anders gewendet: Leitideen kommen bei allen institutionell aufgerichteten Stabilitätsfiktionen als Gegenstände und vor allem Ergebnisse von konfliktuös-spannungsreichen Aushandlungsprozessen zu stehen. Ein »jeweils umkämpfter Komplex von Leitideen kann deshalb auch als System von Leitdifferenzen verstanden werden [...]. Allerdings funktionieren Leitideen nicht nur als Differenzsetzungsleistungen, sondern ganz ebenso als Identifikations- und Zielbestimmungsformeln der Ordnung«.24

Geschichtliche Sozialformen des Religiösen – wie sie christentumsgeschichtlich nicht zuletzt im Plural der Kirchen begegnen25 – als Institutionen »unter Rückgriff auf das Vorhandensein von ›Leitideen‹ zu untersuchen, bedeutet also keineswegs, eine idealistische Deduktion vorzunehmen, d. h. sie als Produkte vorausgesetzter ›Ideen‹ zu verstehen und etwa daraus ›ableiten‹ zu wollen. Solche Ideen sind selbst das Resultat von Institutionalisierungsprozessen, Bezugspunkt kontrollierenden ebenso wie oppositionellen Verhaltens, der Normenaffirmation ebenso wie ihrer Negation – soweit sich das im Rahmen (also zumindest unter Anerkennung) bestimmter institutioneller Zusammenhänge vollzieht«.26 Auch religiöse Leitideen sind demnach in ihrer theologischen Ausformung als Ausdrucksgestalten einer symbolischen Stabilisierung von Orientierung immer einzuordnen in die »Verkörperung, das Sichtbarmachen, die Präsentation von Ordnungsprinzipien« – und zwar mit dem Ziel der »Legitimation von Geltungsansprüchen«.27 Zentral bleibt dabei die geschichtliche Umstrittenheit von Leitideen im Prozess ihrer inhaltlichen Konstruktion und Durchsetzung – von Leitideen, die »aus verschiedener Interessenperspektive doch immer als einheitlich, als aus den authentischen Quellen gesichert, als unwiderlegbar behauptet« wurden; diese »merkwürdige und folgenreiche Transformation kontingenter Strukturierungen in ›notwendige‹ Ordnungen ist das entscheidende Merkmal des Institutionellen«.28 Dabei ist freilich wichtig,
»daß Institutionen sich ihre eigenen Öffentlichkeiten schaffen können: Kirchen […] wären ohne ein spezifisch herausgebildetes, sozusagen mit-institutionalisiertes Publikum nicht denkbar – da gibt es die unterschiedlichsten Spezial- und Teilöffentlichkeiten«.29

Diesem institutionentheoretischen Ansatz folgend, ist die Untersuchung von theologischen Ideen einer bestimmten Qualität institutionengeschichtlich zwar von vorzüglicher Bedeutung, geht aber gerade nicht in Institutionengeschichte auf, im Gegenteil: Personen- und kulturgeschichtliche Aspekte sind analytisch genauso zu berücksichtigen wie beispielsweise begriffs-, medien- oder sozialgeschichtliche. Denn institutionelle Leitideen, die religions- oder konfessionskomparatistisch auch als Leitdifferenzen verstanden werden können, sind als spannungsreiche Verarbeitungsphänomene konkurrierender Sinnsetzungen und Ordnungsentwürfe abhängig von konkreten geschichtlichen Trägerschichten und zugleich institutionell gebunden an ein spezifisches Publikum sowie an bestimmte sich verändernde Interessenlagen. Die konstitutive Rolle von Trägerschichten, Publikum und Interessen wiederum sorgt notwendig für eine Weitung der analytischen Perspektive über die (allzu) vielbemühten ersten Reihen theologiehistorisch einschlägiger Namen hinaus. Sogenannte Elitendiskurse ließen sich also – je nach zu untersuchendem Kontext, zugrunde gelegtem Erkenntnisinteresse und vielleicht auch Geschmack – integrieren oder ausklammern. Eine vergleichbare Weite besteht selbstverständlich auch mit Blick auf das Geschlecht der gewählten Akteursgruppen oder Persönlichkeiten.

Dass und warum die betreffenden Ideen in jedem Fall der komplexen geschichtlichen Einbettung bedürfen, um darüber zu einer sachgemäßen Einschätzung ihres historischen Stellenwerts zu gelangen, lässt sich mit Max Weber prominent auf den Punkt bringen: »Interessen (materielle und ideelle), nicht: Ideen, beherrschen unmittelbar das Handeln der Menschen. Aber: die ›Weltbilder‹, welche durch ›Ideen‹ geschaffen wurden, haben sehr oft als Weichensteller die Bahnen bestimmt, in denen die Dynamik der Interessen das Handeln fortbewegte«.Der bereits herausgestellte integrative Charakter der Ideengeschichte im Allgemeinen, der Theologiegeschichte im Besonderen ist somit theoretisch geradezu zwingend. Umgekehrt machen die je zu bestimmende Bindung an oder Beziehbarkeit auf religiöse Leitideen bzw. Leitdifferenzen im Sinne der kritischen Institutionentheorie Rehbergs Lebensäußerungen in ihrer religiösen Spezifik – also beispielsweise als christliche – und damit religions- oder kulturgeschichtlich profilierbar.

4. Bezüge und Potenziale

Leitideen oder Leitdifferenzen als Organisationspunkte der umfassenden Aufbereitung theologiegeschichtlicher Prozesse oder Entwicklungen zu wählen, erlaubt es somit, »auf Grund der kritisch gesichteten, aber an sich zusammenhangslosen Daten der Überlieferung ein innerlich zusammenhängendes Bild der Ereignisse und Zustände der Vergangenheit zu entwerfen und zugleich darzulegen, wie ›das was gewesen ist‹, allmählich geworden ist«.30 Eine solche interessengeleitete Ordnung der Vergangenheit unter Anwendung eines bestimmten Begriffs von Leitidee korrespondiert erkennbar mit den institutionell geforderten und eingangs bereits genannten Aspekten der Positionalität und des Professionsbezugs31 zur »formale[n] Bestimmung der Theologizität der Kirchengeschichte«32 vor dem Hintergrund institutioneller Zuordnungen, normativer Rahmenvorgaben und inhaltlicher Gestaltungsperspektiven akademischer Theologie in Deutschland. Insgesamt ginge es im Falle einer so strukturell zu kontextualisierenden Christentumsgeschichte in Leitideen und Leitdifferenzen nicht um eine bloße Geschichte von Ideen, sondern in erster Linie um eine Geschichte in Ideen. Denn als historische, auch im Feld der Religion ordnungsstabilisierende und zwangsläufig kontingente Phänomene haben Leitideen »a history with an identifiable beginning, if not yet a discernible end. A historical treatment reveals the contingency of the phenomenon, contradicting those who claim its permanence and durability.«33 Genau das leistet »a ›history in ideas‹ to distinguish it from a long-established strain of intellectual history known as the ›history of ideas‹«.34

Angesichts dessen den Vorschlag einer Christentumsgeschichte in Leitideen und Leitdifferenzen in seiner ganzen institutionellen Tragweite in die Diskussion um den Begriff »Historische Theologie« einzubringen,35 wäre ausgesprochen reizvoll, muss jedoch an dieser Stelle unterbleiben. Aufgrund der wohl unstrittigen »Notwendigkeit des Zusammenhalts von Kirchengeschichte mit dem Ganzen der Theologie ebenso wie des engen Kontakts mit der allgemeinen Geschichte«36 sei abschließend aber ein kurzer Blick auf die Potenziale einer Christentumsgeschichte in Ideen37 im vorgestellten Sinn zwischen »innerfakultärer und interfakultärer Interdisziplinarität«38 geworfen. Schließlich handelt es sich bei der Frage »nach der unverkennbaren Theologizität und der uneingeschränkten Wissenschaftlichkeit der Kirchengeschichte […] keineswegs um eine Sonderfrage, die nur an diese eine Disziplin der Theologie zu richten wäre. Historisch ist Theologie in allen oder jedenfalls in nahezu allen ihren Vollzügen«.39

In dem Augenblick also, indem in Theologie überführte religiöse Leitideen in ihrer ordnungs- und orientierungsstabilisierenden Gestalt historisch als kontingent und transitorisch bestimmt werden, ist über das Bewusstsein ihrer institutionentheoretisch erklärbaren Funktionalität ein genauso differenzierendes wie distanzierendes Moment eingezogen, dass konfessionelle Positionalität aufrechterhalten lässt, ohne den Verdacht zu erregen, auf Kosten der Wissenschaftlichkeit zu gehen. Die »historische Differenz« ist verdeutlicht und gefestigt, auch wenn jene religiöse Geltungsansprüche symbolisierenden Leitideen bzw. Leitdifferenzen beispielsweise als Zeichen aufgefasst würden, »die in der gegenwärtigen und der vergangenen Kommunikationsgemeinschaft […] sich auf dieselbe Wirklichkeit, den christlichen Gott, beziehen«.40 Zu dem so lediglich angedeuteten ökumenischen Potenzial41 des hier skizzierten historischen Zugriffs tritt die interreligiös-komparatistische Dimension: Die Entwicklung, Deutung und Artikulation von religiöse Geltungsansprüche in spezifischer Weise symbolisierenden, ordnungs- und orientierungsstabilisierenden Leitideen ist ein Phänomen, dass sich mitnichten allein für das geschichtliche Christentum in seiner spannungsreichen geschichtlichen Fülle feststellen lässt. Über die ihrerseits vielfältigen Sozialgestalten und Theologien anderer Religionen in einen vergleichsweise niedrigschwelligen, weil Versachlichung und Positionalität von vornherein produktiv verbindenden historisch-wissenschaftlichen Austausch einzutreten, verspricht jedenfalls Impulse für die religionsgeschichtlich oder wahrnehmungstheoretisch interessierte Forschung verschiedener religiöser und kultureller Tradition. Die konzeptionell profilierte Offenheit der Christentumsgeschichte auch in Richtung Geschichtswissenschaften und (Religions- )Soziologie versteht sich dabei von selbst.

Daneben gilt es freilich, auch im innerfakultären Bereich sowie im engeren Rahmen der theologisch verantworteten Disziplin Christentumsgeschichte belastbare Gesprächsfäden zu knüpfen. Gedacht ist zum Beispiel an Überlegungen, »Christentumsgeschichte als Transformationsgeschichte« zu gestalten.42 Schließlich sind theologisch bearbeitete religiöse Ideen Objekte religionsgeschichtlicher kultur- und epochenübergreifender Transformationsprozesse, die im Ergebnis zu einem Neben-, Gegen- und Miteinander spezifisch verschiedener Konfigurationen des Christlichen führten.43 Zudem ließen sich die Debatten um Chancen und Grenzen einer Global(isierungs)geschichte des Christentums sachlich weiterführen und historisch-sachlich vertiefen. Das scheint angesichts der Tatsache, »dass die Christentumsvarianten der globalen Weltchristentheit längst in Europa oder vor Ort präsent sind«,44 geboten.

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Comments
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Andrea Hofmann:

Eignet sich hier aber tatsächlich eine Ideengeschichte, wenn wir in den Dialog mit Christentumshistoriker_innen aus z.B. dem globalen Süden eintreten wollen?

Andrea Hofmann:

Wie weit genau soll das ökumenische Potenzial gehen? Und gibt es auch ein globales Potenzial?

Andrea Hofmann:

Besteht hier die Gefahr, dass eine zusammenhängende Geschichte konstruiert wird und Zusammenhänge gefunden werden, die es eigentlich nicht gibt?

Andrea Hofmann:

Ich würde nochmal gern nach dem Institutionenbegriff genauer fragen - wie gehen wir dann mit den Leitideen außerhalb der Institutionen um? Christentum ist ja nicht nur Kirche.

Andrea Hofmann:

Wie stehen denn die “großen Individuen” im Verhältnis zu den Institutionen und Ideen? Läuft man hier nicht wieder der Gefahr, einzelne Ideen auf einzelne Personen zurückzuführen und somit nur die sowieso schon bekannte “Höhenkamm-Literatur” in den Blick zu nehmen?

Andrea Hofmann:

Das finde ich interessant, gerade auch im Blick auf das Geschlecht. Wie machen wir das, ganz banal, auch mehr Perspektiven von Frauen in eine Christentumsgeschichte in Ideen zu integrieren? Hast Du da Ideen? Finde ich auch im Blick auf Inhalte im Studium sehr bedenkenswert!

Andrea Hofmann:

Und ich sehe, wie oben geschrieben, doch wieder schnell die Gefahr, dass es doch ein Elitendiskurs wird - welche Quellen wären denn heranzuziehen, um das zu vermeiden?

Andrea Hofmann:

Ich finde die Überlegungen zu den Leitideen sehr interessant und glaube, dass das viele Potenziale hat. Danke für die insprierenden Gedanken dazu! Aufgrund des begrenzten Platzes war das im Aufsatz natürlich nicht mehr möglich - aber könntest Du im Komment ein kurzes Beispiel für solch eine Leitidee geben, evtl. auch mit Verweis, was für übegereifende Erscheinungen das sein könnten? Das würde mich sehr interessieren!