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Vor uns die Sintflut? Hoffnungstorys für Erdlinge

Published onMay 27, 2024
Vor uns die Sintflut? Hoffnungstorys für Erdlinge
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Das Erdenleben ein Schiffbruch?

Doch was kann schlimm daran sein

wenn Gott der Ozean ist?1

Es gibt ein unheimliches Jesuswort von Menschen, die sich verhalten, „wie in den Tagen Noahs in den Tagen vor der Sintflut – sie aßen, sie tranken, sie heirateten und ließen heiraten bis an den Tag, an dem Noah in die Arche hineinging; und sie beachteten es nicht, bis die Sintflut kam und raffte sie alle dahin.“ (Mt 24,37-39). Unheimlich ist das Verhalten der Menschen angesichts der Katastrophe. Jesus schaut und sagt voraus, „so wird es auch sein beim Kommen des Menschensohns.“ Und mir kommen Kinofilme und Bücher in den Sinn, die den vorsintflutlichen Erzählstoff verarbeiten, vorausschauen und voraussagen. Was hat das eine mit dem anderen zu tun? Und was macht es mit uns angesichts einer realen Bedrohung?2

Vor uns die Sintflut

Climate-Fiction (Cli-Fi) ist ein Literaturgenre, das Werke versammelt, die von den katastrophalen Auswirkungen der Klimakrise auf die Welt erzählen.3 Es sind Storys, die in der Regel dystopisch sind, also vom Untergang der Menschheit oder ihrem Überleben in einem postapokalyptischen Zeitalter fantasieren. Im «Ökothriller» geht es darum, dass die Natur zurückschlägt – sei es, dass ein Virus ausflippt oder die Vögel des Himmels sich gegen die Menschen verbünden, in «Science-Fiction»-Variationen können Außerirdische oder Künstliche Intelligenz und in «Fantasy»-Variationen Fabel- und Mischwesen auftreten. Auffällig oft ist die menschenverursachte Flut oder Dürre ein zentrales Motiv. Zum Beispiel im Roman «Geschichte des Wassers» von Maja Lunde. Sie erzählt vom Leben der 70-jährigen Umweltaktivistin Signe im Jahr 2041. Das Szenario: Eine große Dürre zwingt die Menschen Südeuropas zur Flucht in den Norden, weil längst nicht mehr genug Trinkwasser für alle vorhanden ist.4 In Kim Stanley Robinsons Roman «New York 2140», der hundert Jahre später spielt, ist der Meeresspiegel dramatisch gestiegen. New York steht nach der sogenannten «zweiten großen Flut» unter Wasser.5
Beide Romane bieten süffige Lektüre. Warum auch nicht? Klimafiction ist unterhaltsam, spannend wie ein Krimi und auch ein wenig gruselig. Unheimlich sind in Lundes und Robinsons Roman freilich nicht Monster, die ihr Unwesen treiben, unheimlich sind vielmehr die Parallelen des Fiktiven mit dem Faktischen oder mit einem anderen Wort die Apokalypse, die uns der Klimawandel schon jetzt beschert, weil sich darin das monströse Wesen des Menschen offenbart. Sein Geist schwebt über den Wassern. Cli-Fi ist faszinierend und schockierend, weil die Visionen der Schriftsteller aus der Zeitung stammen und ihre Bilder stimmen. Es sind Realdystopien. Die Jahrhundertdürre in Norditalien und der Wirbelsturm «Sandy», der NY flutete – beides hat 2022 stattgefunden! Cli-Fi ist auf ähnlich beklemmende Weise «spannend» wie ein Krimi oder ein Kriegsfilm. Was für einige jetzt schon real ist, könnte die Leser:innen bald treffen.
Dass sich Menschen über ihre Endlichkeit unterhalten und sich vor der Sintflut davon unterhalten lassen, ist nichts Neues unter der Sonne. Das Untergangsmotiv ist uralt. Früher war es der Zorn der Götter, heute sind es die Folgen des Klimawandels. Man kann es mit einem Schulterzucken quittieren oder, wie vor mehr als dreißig Jahren Neil Postman in seiner fulminanten Kritik der Unterhaltungsindustrie, kulturpessimistisch kommentieren.6 Wir amüsieren uns zu Tode! Man könnte den Cli-Fi-Boom auch zum Anlass nehmen, Postmans Kritik zuzuspitzen. Das realdystopische Amüsement hat doch beinahe etwas Perverses. Wir spielen, wie die Kapelle auf der Titanic, bis es nicht mehr geht. Was sagt das über unsere Natur aus, wenn wir die eigene Malaise mit so viel morbider Lust ausmalen? Sind wir zum Schluss gekommen, zu dem gemäß Legende ein französischer Adliger vor seiner Niederlage gekommen ist? Dass es besser ist, noch einmal auf den Putz zu hauen, bevor alles den Bach runter geht? Ist «après nous le deluge» unsere Losung?
Mich fasziniert Cli-Fi, weil es darin um alles oder nichts geht, um das Ende der Geschichte. Und dann ist das Genre theologisch interessant, weil die Storys religiöses Wissen verarbeiten. Cli-Fi spielt mit dem Stoff der Götterdämmerung. Und die Götter sind wir, wie es auch wir sind, die unseren Untergang herbeiführen. Es geht um uns und dreht sich alles um uns. «Drehung» ist hier im doppelten Sinne des Wortes zu verstehen. Es verdreht sich etwas, wenn alles vergeht, und es verkehrt sich etwas, wenn wir uns über unseren eigenen Untergang amüsieren. «Nach uns die Sintflut» sagt der Mensch, der selbst die Schleusen geöffnet hat. So geht die realdystopische Megastory, das größte Drama, das man sich ausdenken kann, weil wir die Rolle des Protagonisten spielen.
Das Ende der Geschichte ist unsere Show. Dass wir untergehen, ist das Letzte, was wir wollen, aber wir tun, was wir nicht wollen und schauen zu, was mit uns passiert. Unser Wille geschehe, unser Reich ist gekommen, wir erkennen es an den Früchten. Darin besteht die quasireligiöse Wucht der Storys, die vom Ende erzählen, bevor es zu Ende geht, quasireligiös, weil es reine Menschheitsgeschichten sind. In den Apokalypsen der Cli-Fi tauchen keine göttliche Gottheiten auf. Woher sollen sie auch kommen? Für einen außerirdischen «Deus» steht auf Terra keine «Maschine» bereit. Nötig hätten wir ihn schon. Wir haben uns derart in unsere Geschichte verstrickt, dass nur noch eine Macht „von oben“ unsere Tragödie wenden könnte. Aber genau diese Drehung, diese Ahnung, dass Rettung wächst, wo Gefahr droht und das Eingreifen einer nahen Gottheit, die uns gnädig überrascht, diese letzte Hoffnung versagt sich der apokalyptische Mensch im Anthropozän.7

Postapokalyptische Bildstörung

Man kann es so sehen. Oder man dreht weiter und wendet alles noch einmal. Denn so gewiss es wahr ist, dass wir die Schleusen geöffnet haben und das Wasser schon jetzt steigt, so gewiss sind wir noch nicht untergangen. Wir lesen unsere täglichen Realdystopien in der Zeitung. Aber das Eschaton ist übermorgen. Mit Blick auf den morgigen Tag ist unsere Sorge, wie lange wir schwimmen können, wenn kein Land mehr in Sicht ist. Man kann es so sehen. Gefragt sind Realutopien, Storys, die bescheidene Hoffnung machen bis zum nächsten Abend, dass es nicht so schlimm kommt, Bilder, die uns in Gang bringen, Dämme, Flosse und Schiffe zu bauen, ein Narrativ, das uns wieder Boden unter den Füssen gibt.
Welche Geschichten wollen wir im Klimawandel erzählen? Das ist meine Frage oder besser unsere. Ich verwende «Wir», weil die erste Person Plural in Hoffnungserzählungen konstitutiv ist. Ich sage «Wir», weil mein Kollektiv die Kirche ist, eine Erzählgemeinschaft, die sich in der Spannung von Erinnerung und Erwartung auf die Heilige Schrift bezieht.8 Was ist unser Zeugnis? Was erzählen wir? Was ist die Hoffnung in uns, von der wir Rechenschaft ablegen? (1 Petr 3,16)
Als Erzählgemeinschaft ist die Kirche herausgefordert, auf diese Frage mit biblischen Geschichten zu antworten. Aber in der gegenwärtigen Großwetterlage ist ihr Storytelling fundamental in Frage gestellt. Hat die Realutopie der Heilsgeschichte genug Überzeugungskraft, um dem unheimlichen Sog der Realdystopie zu entkommen? Im ikonischen Reservoir der Bibel findet sich zwar eine neue Erde und sogar ein neuer Himmel. Aber Löwen, die Gras fressen und Wölfe, die mit Lämmern spielen sind postapokalyptische Traumbilder. Gegen die Macht der Untergangsszenarien kann diese religiöse Fantasie wenig ausrichten. Wir leiden an einer akuten Bildstörung.9 Braucht es in dieser «Krise in der Krise»10 neue Bilder von der alten Erde? Müssen wir die alten Geschichten neu erzählen?
Davon bin ich überzeugt. Darum geht es doch im Evangelium und darum geht es der evangelischen Theologie.

Evangelische Theologie […] orientiert sich an Gottes schöpferischer Gegenwart und dem transformierenden Wirken seiner Liebe in der Schöpfung […]. Nur wer die Welt von Gottes Gegenwart her betrachtet, wird sie als Resonanzraum des Schöpfers wahrnehmen. Wer dagegen Gottes Gegenwart finden will, ohne von ihr schon auszugehen, wird nur seine eigenen Schatten sehen und sein eigenes Echo hören.11

Wer beim Erzählen «die Welt von Gottes Gegenwart her betrachtet», wird von Anfang bis zum Ende eine gute Geschichte erzählen. Wer hoffend erzählt, setzt auf die Möglichkeiten des Guten – auch dort, wo man selbst keine Möglichkeiten mehr sieht, dass das Gute sich zur Geltung und zur Wirkung bringen kann.12 Wer auf diese Wende zu hoffen wagt, glaubt, dass der «Deus» nicht von oben kommt, sondern schon lange im Drama mitspielt.

Narrative Theologie

Warum ist die Arbeit an einem tragfähigen Narrativ so wichtig? Weil Glauben und Hoffnung in Geschichten verpackt und wir selbst in Geschichten verstrickt sind, weil wir uns an Storys halten. Ich rede von der Arbeit an und mit Storys, weil sie das „Rohmaterial der Theologie“ (Dietrich Ritschl) bilden. Was uns interpretiert, muss von uns interpretiert werden.
Stanley Hauerwas hat in seiner Ethik mit Nachdruck darauf hingewiesen, dass unsere Vorstellungen von einem guten Leben in Geschichten gespeichert sind.13 Die Bedeutung des Narrativen für das christliche Leben und Diskurs stützt sich auf die Behauptung, dass die Person in der Story entdeckt, wer sie ist. Ich füge hinzu: Woher sie kommt, wohin sie geht, von wem sie abhängt und wie sie gut leben kann. Die Verbindung zu dieser Geschichte, die in der Geschichte der Menschwerdung Gottes in Jesus Christus ihren Anfang, ihr Ziel und ihre Ende hat, weist den Einzelnen auf seine Mitte und gründet und bewahrt ihn in einer geschwisterlichen Gemeinschaft. Die Kirche ist eine «storybased Community». Was sie erzählt, wie sie betet, welche Lieder sie sing, formt den Charakter bzw. die moralische Identität ihrer Glieder. Die Storys geben die Leitbilder, nach denen sich christliches Leben richtet. Es orientiert sich am Vorbild des Lebens Jesu (Phil 3,17; 1 Kor, 11,1). Die christliche Erzählgemeinschaft wendet und wandelt mit ihren Storys die Angst vor dem Ende der Geschichte in ein gemeinschaftliches Bemühen um Lebensfreundlichkeit, Erfüllung und Aufblühen. Das wir aus der Geschichte der Beziehung zwischen Schöpfer und Schöpfung Hoffnung schöpfen, ist die Wirkung des Evangeliums – eine dynamis tou theou (Röm 1,16). Die Gottesgeschichte hat Kraft, weil sie eine Orientierung gibt, die so radikal ist, dass es ein Streben auslöst, einen Ruf und eine Einladung hören lässt, sich gottwärts zu bewegen und sich verändern zu lassen (Rom 12,1ff).
Im hellen Klang dieser guten Erzählung muss uns das Klagelied über die menschliche Schreckensherrschaft erschrecken. Und es stellt sich die Frage, inwiefern in diesem Zusammenhang von einer Schuldgeschichte des Christentums zu sprechen ist. Ist die fatale Ausblendung der mit-geschöpflichen Verantwortung des Menschen eine Folge der anthropozentrischen Heilsgeschichte? Dreht sich nicht alles um den Menschen, der als erster Freigelassener der Schöpfung einen Freibrief bekommen hat, über diese Welt Furcht und Schrecken zu bringen?
Im Schatten des unheimlichen Verdachts, dass sich der Mensch als Prometheus gebärdet, nach den Sternen greift, aber den Boden unter den Füssen verloren hat, verdunkelt sich auch die biblische Aussicht auf eine neue Erde. Als ob es irgendwo im All für die alte Erde einen Ersatz gäbe, den die Geretteten einmal erben könnten. Als ob die Abfallentsorgung Sache des Allmächtigen wäre und die schwarzen Löcher für unseren Sondermüll schon bereit sind.
Wenn die christliche Hoffnung darauf hinausläuft, wird Gott zum Helfer einer rabenschwarzen Soteriologie. Günter Thomas hat in seinem Buch «Gottes Lebendigkeit» auf den finsteren Abgrund einer solchen Jenseitshoffnung hingewiesen, einer Hoffnung, die uns mit der Erde umgehen lässt, als hätten wir eine zweite in Reserve.14
Ich vermute, dass die Krise der Imagination des Evangeliums damit zu tun hat, wie wir die Geschichte erzählen.15 Als Verdacht formuliert: Vielleicht ging der Himmel in den säkularen Eschatologien vergessen, weil die Religiösen meinen, es gehe letzten Endes darum, das Irdische zu vergessen!? Erzählung vom Ende der Geschichte, die nur fantastisch, komplett utopisch und jenseitig sind, verlieren im eigentlichen und übertragenen Sinn die Bodenhaftung. In der Quintessenz geht es darum, ein Narrativ zu finden, dass die Hoffnung für die Welt mit einer Hoffnung auf Veränderung des Menschen glaubwürdig verbinden kann. Ich diese Spur am Schluss wieder auf, möchte aber zuerst noch einmal auf eine Cl-Fi Geschichte eingehen.

Aufbruch nach Pandora – ein Büchsenöffner

James Camerons Film «The Way of Water» spülte 2023 Millionen in die Kassen und bot etwas fürs Geld. Es war ein bildgewaltiges Spektakel. Ich habe mir den Streifen angeschaut, um zu erfahren, wie die Fortsetzung von «Aufbruch nach Pandora» weitergeht. Der Film ist unterhaltsam und lehrreich. Eine erste Lektion bietet „Pandora“, der Name des Mondes, auf dem die Geschichte spielt.
Warum hat der Ort des Geschehens ausgerechnet den Namen jener weiblichen Gestalt in Hesiods Erzählung bekommen, die Hephaistos auf Geheiß des Göttervaters Zeus aus Lehm schuf? Vielleicht weil Pandora wunderschön ist. Der Trabant sieht so aus, wie man sich das Paradies vorstellt. Die üppigen Wälder, tiefblaue Meere und ein wundersames Gebirge, das „Halleluja“ heißt, sind die Heimat der Na’vi – jener blauhäutigen Kreaturen, die in Harmonie mit der Natur leben. Sie überwinden weite Strecken auf Flugsaurier reitend und verlassen sich wie Tarzan im Nahverkehr auf Lianen.
Der Name des Mondes ist möglicherweise auch ein Hinweis auf die Büchse der schönen Lehmfrau. Im Mythos soll die Pandora, was übersetzt die ‘Allbeschenkte’ heißt, ihr Gefäß den Menschen schenken – mit der Mahnung, diese unter keinen Umständen zu öffnen. Die Bescherung enthält nämlich sowohl die Hoffnungen als auch alle Übel der Welt enthält. Epimetheus nahm Pandora trotz der Warnungen seines Bruders Prometheus zur Frau. Und als er dann auch noch die Büchse öffnete, kamen Übel und Leid über die Menschheit. Nur die Hoffnung blieb im Gefäß zurück.
Nun, ich will nicht behaupten, dass der Avatar-Film zur tiefen Bedeutung des Mythos vorstößt. Aber der Name ist ein Anstoß, den Streifen als ein Gleichnis zu sehen. Vielleicht so, dass «Pandora» für unsere Hoffnung steht, dass es irgendwo im All noch ein Paradies existiert, aber diesem Paradies übel ergehen würde, sobald er von Menschen besiedelt würde. Die Tatsache, dass Pandora von «edlen Wilden» bewohnt und von bösen Eindringlingen geplündert und geschändet wird, weckt böse Erinnerungen an die Übel des Kolonialismus. Denn wie anno dazumal die spanischen Konquistadoren kommen im Film fiese Erdlinge mit ihren Schiffen – zwar nicht über das Meer, sondern vom Himmel, aber in derselben Absicht. Sie kommen ex machina, holen sich ohne Rücksicht auf Verluste die Schätze, die der Mond ihnen bietet, plündern, roden und raffen in unersättlicher Gier, was ihnen in die Hände fällt, zerstören das natürliche Habitat der Na’vi. Diese menschenaffenähnliche Wesen sind sprachbegabt, aber nicht technikaffin. Zivilisatorisch gesehen sind sie vorsintflutlich unterwegs, aber dem Menschen spirituell überlegen. Die Na’vi pflegen einen intensiven Austausch mit dem Ökosystem, in dem sie leben – eine Natur, mit der sie in symbiotischer Verbindung stehen und die sie als Mutter verehren. Es sind Lebewesen, die leben wollen, inmitten von Leben, das leben will. Ihr Ethos besteht darin, keinem Lebendigen Schaden zuzufügen. Zwar gibt es heilige Bäume und Orte, aber es herrscht eine pansakrale Solidarität mit allen Pflanzen und Tieren. Mittels Tentakel, die Teile ihres Körpers sind, nehmen di Na’vi Kontakt auf zu ihrer Umwelt. Die körpereigenen Kabel sorgen für ein natürliches Internet – alles ist BIO!
Was will uns die Pandora-Story sagen? Schön und gerecht ist diese Welt und so gesehen zugleich Reflektion irdischer Sehnsucht und Beichtspiegel. Denn die ökologische Fantasiewelt geht unter und wir sind schuld. Denn es sind ja Erdlinge, die in die Rolle der Invasoren das Leben der Indigenen zerstören. Aber noch ist Hoffnung, noch ist die Story nicht zu Ende. Wir reden von den ersten zwei Episoden. Mit der dritten kommt das Ende der Staffel. Doch leider ist absehbar, wie es ausgehen wird. Entweder werden sich die Na’vi mit den militärisch überlegenen Menschen den Mond teilen und in ein Reservat kommen oder sie werden ausgerottet. Vielleicht gibt es Überlegungen, auf Pandora ein Museum für Na’vi-Nostalgiker einzurichten? Oder so ähnlich …
Es ist das alte Lied. Die Verpflanzung des irdischen Dramas in eine andere Galaxie bringt ein Déjà-Vu! Alles kreist um die Erde und ihre Bewohner. Aus dem kruden Mix aus Esoterik, Sciencefiction, Apokalyptik und Naturromantik entsteht nichts Neues. Räuberisches und ausbeuterisches Gewinnstreben kontra Naturverbundenheit sorgen zwar für den nötigen moralischen Kick und Empörungsfaktor, aber letztlich entpuppt sich der Aufbruch nach Pandora sich als irdisches Drama. Pandora, der Mond, ist aufgegangen, die Erde nur halb zusehen und gar nicht rund und schön. In der Verfremdung sind die narrativen Fäden der guten Schöpfung samt dem dominium terrae (Gen 1,27f.) auszumachen. Mir kommen Erinnerungen an Jugendlektüren, an sogenannte «Indianerbücher», in denen Storys nach demselben Muster gestrickt sind. Ob es sich um Rothäute oder Blauhäute spielt keine Rolle. Das würde uns weiter in die hochbrisanten Debatten über eine bitternotwendige postkoloniale Dekonstruktion der Christentumsgeschichte führen. Das ginge zu weit. Nur so viel dazu: Mir ist von der Indianerbücherphase ein Gefühl geblieben: Dass es Geschichten ohne Happyend gibt, dass die Frevler davonkommen und die Welt meiner Helden untergeht, weil ihr Lebensraum zerstört wird. Dass nichts und niemand die Weißen aufhalten kann, die sich auf ihrem Weg in den Westen wie Wilde benehmen. Dass ich zu den Siegern gehöre, aber mich das nicht glücklich macht. Die von Weißen für Weiße geschriebenen Indianergeschichten haben etwas Tragisches.

Ist die Schöpfung eine gute Geschichte?

Bei meinen Recherchen zu Camerons Film bin ich auf ein skurriles Phänomen gestoßen. Es gibt Menschen, die sich Avatar anschauen und danach in eine Depression fallen. Sie finden nach dem Ausflug in die schöne Pandora-Welt nur schwer in den Alltag zurück. Das Phänomen hat ein Namen. Es heisst «Post-Avatar-Syndrom» (in englischer Sprache auch Avatar blues oder Post-Avatar depression syndrome).16 Etablierter im Diskurs und ernsthafter diskutiert ist der sogenannte «Eco grief» oder ecological griefGemeint ist damit "the grief reaction stemming from the environmental loss of ecosystems by natural and man-made events.”17 Ins selbe Kapitel gehört die Klimaangst.
Wie sinnvoll eine solche Pathologisierung der Gefühle ist, sei dahingestellt. Interessanter finde ich, dass Geschichten nicht nur Macht haben, Emotionen zu wecken, sondern auch diese zu kanalisieren und ihren Fluss zu fördern, was für die seelische Gesundheit insofern von Belang ist, als dadurch sowohl eine Überflutung als auch einen Stau verhindert werden kann. Wahre Geschichten machen traurig und befeuern die Wut, aber bewahren auch vor Verzweiflung und schützen vor Hass. Mit anderen Worten: Es gibt Geschichten, die fix- und fertigmachen und solche, die aufatmen lassen.
Wer lange genug wühlt, findet im Unterhaltungsschrott die zerbeulten Stücke aus dem jüdisch-christlichen christlichen Sinnreservoir, die Hoffnung schöpfen lassen. Die Bibel beginnt mit einer solchen guten Geschichte. Es ist eine siebenteilige Miniserie, die in sich kompakt ist und mit einem offenen Happyend abschließt. Aus dem Chaos am Anfang wird am siebten Tag etwas sehr Gutes, etwas unglaublich Schönes und vollkommen Friedliches: eine neue Welt entspringt Gottes Wort. Grandios ist die Aussicht auf ein Fest! Alles kommt zur Ruhe im Sabbat. Wer diese Geschichte hört, freut sich, stimmt in ins Lob ein und fragt dann doch: Wie geht es weiter? Was passiert am achten Tag?
Wer einmal damit anfängt zu zählen, hört bei sieben nicht auf. Und vielleicht ist das schon die Antwort! Der Mensch, der weiterzählt und weiterliest, wird selbst zum Erzählstoff. In der zweiten Schöpfungsgeschichte beginnt der Erdling zu sprechen, betritt die Bühne und spielt seine Rolle, bzw. sie spielten ihre Rolle als Adam und Eva. Sie lebten in einem Paradies und hatten nichts zu befürchten, solange sie nicht von der Frucht der Erkenntnis kosteten. Und flugs, als sie dieses eine Gebot übertraten, wurden sie sich ihrer Bedeutung im Drama bewusst. Es ist zwar keine Büchse, die sie öffneten, sondern eine Frucht, die sie verzehrten, aber die Wirkung war vergleichbar. Sie erkannten sich, die Wurzel des Übels und den Keim der Hoffnung, der ihnen sprosste.
Diese zweite Geschichte stört die Harmonie der ersten. Wie das Nebeneinander und Nacheinander der zwei Schöpfungsstorys gedeutet werden muss, ist hermeneutisch knifflig. Ist der erste Bericht ein «Traum», aus dem man mit der zweiten Geschichte herausfällt? Ist der sogenannte «Sündenfall» eine Fortsetzung der ersten Geschichte, eine neue Staffel oder eine nur eine neue Episode? Werden die Leser aufgefordert, die Geschichten intertextuell, also ineinander zu lesen, sich in beiden wieder zu erkennen und sich über sich selbst zu wundern, sich zu fragen, warum leben wir nicht mehr in der guten Welt, die Gott geschaffen hat? Will die erste Erzählung dafür sorgen, dass sich die Leser:innen der zweiten Geschichte an ihre ursprüngliche Ebenbildlichkeit erinnern?
Eine weitere Crux der Interpretation bietet der Herrschaftsbefehls in der ersten Geschichte. Welche Funktion hat diese «Amtseinsetzung»? Wie soll man Gen 1,27f. deuten? Als eine Ankündigung für den Auslöser des kommenden Dramas im Paradies? Das Übersetzungsproblem lässt sich schnell klären.18 Es geht hier um eine schöpferisches und nicht um ein zerstörerisches Herrschen, um eine Verantwortung, die mit «Bewahren», «Bebauen» und «Hirten» übersetzt werden muss. Die begriffliche Klärung macht Sinn im Licht der veganen Speisekarte, die Gott dem Menschen in erster Instanz verordnet. Samen und Früchte sollen sie essen (Gen 1,29) – das schließt leider Käse oder Schokolade aus.
Eines ist jedenfalls klar. Wer nach dem ersten fatalen Lapsus weiterliest, strauchelt über die folgenden Episoden. Die Sprösslinge der Ureltern liefern einen ersten Fall häuslicher Gewalt, einen Bruderzwist, der in einen Totschlag aus Affekt mündet. Der Anlass des Streitfalls ist ein Eifersuchtsdrama, in der die angebetete Gottheit eine ambivalente Rolle spielt. Statt ihre Gunst gerecht zu teilen, zeigt sie sich nur einem Verehrer und provoziert die Missgunst des Zweiten. Prompt stürzt sich der auf seinen Bruder. Statt den Totschläger zu bestrafen, schont und schützt die Gottheit den Täter vor der Rache der Nachkommen des Opfers. Die Angelegenheit läuft trotz göttlicher Intervention aus dem Ruder. Ein Nachkomme Kains namens Lamech rühmt sich, dass er Kain siebenmal rächen wird. (Gen 4,23f.) Das erste Lied der Menschheit ist ein Rachepsalm.

Ist die Sintfluterzählung eine böse Geschichte?

Aber es kommt noch schlimmer und dunkler. Aus Engelsehen entsteht eine Brut des Bösen. (Gen 6,1-4) Und böse endet, was – rückblickend – sehr gut begonnen hat: Nicht mit einem rauschenden Fest, sondern mit einer Rücknahme der Schöpfung. Gott flutet, was er geschaffen hat. Die Himmelsschleusen werden geöffnet, um – bis auf den kleinen Rest für den Neustart, das im Kasten verstaut die Vernichtung überlebt – ein komplett verdorbenes Geschlecht zu ersäufen. Die nächste Staffel beginnt.
In der Serie der Urgeschichten ist die Sintfluterzählung ein Höhepunkt. Sie erzählt die Konsequenz einer verhängnisvollen Entwicklung und steht zugleich für einen Übergang, der Altes abschließt und Neues aufschließt, einem Kasten gleich, in dem die Übel und die Hoffnung der Welt aufgehoben sind. Die gute Botschaft: In der Kette der katastrophalen Episoden geht die Hoffnung nicht unter. Sie kann schwimmen. Die schlechte Nachricht: Die göttliche Hoffnung auf einen Neustart der Schöpfung erleidet Schiffbruch. Gott setzte seine Hoffnung auf Noah. Doch die erste Christuspräfiguration stürzte schnell ab. Noahs Karriere als neuer Adam findet im Suff ein unrühmliche Ende. Das ernüchternde Fazit nach der göttlichen Remedur lautet darum: Der Mensch ändert sich nicht. Im postapokalyptischen Scheitern des Neuanfangs glimmt dennoch ein Hoffnungsfunke. Gott hat sich verändert. Er nimmt Abschied von seiner vorsintflutlichen Idee, mit einer radikalen Eugenik seinen Schöpfungstraum zu retten. Gott gibt die Idee auf, die Welt reparieren zu können.19 Sein pädagogischer «Turn» lässt ihn versprechen: «Ich mache das nie wieder!» (Gen 9,11f.) Gottes Versprechen, künftig auf seine Allgewalt zu verzichten, mündet in einen Bund. Als vertrauensbildende Maßnahme und um den Bund zu bestätigen und seine Umkehr zu besiegeln, hängt er den Kriegsbogen an den Himmelsnagel. Damit wird die Sintflut zu einer Episode erklärt, die das Ende der ersten und den Beginn einer neuen Staffel ankündigt. Die Story nimmt ihren Lauf. Wohin führt sie?
Bevor wir weiterlesen und den Faden aufnehmen, der sich durch die Fortsetzungsgeschichten spannt, verweilen wir noch ein wenig bei diesem seltsamen Bund, der den Übergang von der vorsintflutlichen zur nachsintflutlichen Welt markiert. Es ist sicher kein Zufall, bietet er eine desillusionierte Relecture der ersten Schöpfungsgeschichte. Wieder ist die Rede von der Nahrung. Aber jetzt enthält die Speisekarte Fleisch. Und das «Dominium Terrae»-Motiv hat eine ganz andere Klangfarbe. «Furcht und Schrecken vor euch sei über alle Tiere auf Erden und über alle Vögel unter dem Himmel, über alles, was auf dem Erdboden kriecht.» (Gen 9,2f.) Der Grund dafür ist, dass der Mensch eine begrenzte «License to kill» bekommt. Nur Blutgenuss und Brudermord werden verboten. Auf dem Hintergrund der anfänglichen guten Schöpfungsvision ist das ein regelrechter Abstieg – ein ethisches Minimum. Nur das Kernübel wird genannt. Der noachitische Bund ist ein auf das sechste Gebot reduzierter Prototyp des Gesetzes.
Das muss genügen, um zu überleben, aber es ist zu wenig, um weiter zu träumen. Man muss schon mehr hineinlesen, als hier steht und man muss weiterlesen, um wieder Hoffnung zu schöpfen und zu erkennen, dass der Gott, der so spricht, seine Idee eines Menschen nach seinem Ebenbild, noch nicht aufgegeben hat, mehr noch: dass der Gott, der verspricht, sich selbst zu beherrschen und seine allmächtige Gewalt zu kontrollieren, einen neuen Anlauf nimmt, um die ursprüngliche Herrschaft des Menschen auf eine andere, neue und schöpferische Weise in Gang zu setzen. Wenn man vom Ende her in diesen Bund hineinliest, was die Gottheit plant, entdeckt man im irritierenden Laissez Faire ihr Vertrauen in das eigene Geschöpf. Der Mensch kann nur in Freiheit zur Überwindung finden und wird erst dann den Willen der Schöpfermacht als Wohlwollen begreifen und ihren Bund als Anfang verstehen, wenn sie bereit ist, in ihre Fußstapfen zu treten und nach einer Herrschaft zu trachten, die eine neue Schöpfung zum Ziel hat.
Die erste Schöpfungsgeschichte ist eine anfängliche Utopie und zugleich ein eschatologischer Traum, der ein Friedensreich imaginiert, das noch kein Mensch gesehen hat, eine Vision, die Gott als eine Gottheit sehen lässt, die den Schalom der Erde anstrebt und den ungeborenen Menschen ihres Wohlgefallens die Hoffnung in die Wiege legt. Wir sollen sie sehen als die Höchstlebendige, die leben will inmitten von Leben, das leben will, als Macht, die Leben schafft, als milde Hand, die alle sättigt (Ps 145,15f.), die regnen und die Sonne scheinen lässt über Gerechte und Ungerechte (Mt 5,45). Wir sollen uns sehen als die, die sich auf ihre Gnade verlassen, die nach ihrem Willen fragen und schon jetzt ihre Welt als Schöpfung schauen, die in Schönheit, Gerechtigkeit und Wahrheit aufblühen wird.
Schöpfung ist apokalyptisch gelesen, die anfängliche Enthüllung des göttlichen Willens. Hoffnung auf Gott – das ist es, was diese Geschichte in mir anrichtet. Also ist die Sintflutgeschichte, wenn man weiterliest, eine gute Geschichte. Also ist der Bund mit allem Fleisch, das Versprechen Gottes, auf Zerstörung zu verzichten, eine Erinnerung an die Erwartung des Anfangs. Am Boden der Büchse ist die göttliche Hoffnung. Wenn man nicht weiterliest, wenn das die Quintessenz wäre, dass die Menschen ein Regime führen dürften, das am Ende wieder alles zu ersaufen droht, hätte die göttliche Resignation gesiegt. Es wäre absolut trostlos. Es wäre eine Tragödie. Denn dann hätte Gott den Menschen aufgegeben und mit ihm den Versuch, ein Gegenüber zu schaffen, das Gott von ganzem Herzen, mit seiner ganzen Seele, mit aller seiner Kraft und mit seinem ganzen Denken liebt. (Dtn 6,5). Es geht und dreht sich alles um die Welt. Sie steht auf dem Spiel, wenn Gott seiner Schöpfung nicht die Treue hält.
Es macht einen Unterschied, was wir einander erzählen. Es macht etwas mit uns, wenn wir an den ungeheuerlichen Ausgang der säkularen Realdystopien glauben, wenn wir davon überzeugt sind, dass die Welt ein hoffnungsloser Fall und deshalb im freien Fall begriffen ist, einem Absturz, den nichts und niemand, weder Hohes noch Tiefes, weder Engel noch Mächte aufhalten können, um am Ende wieder ins Chaos zu sinken, zurück in die Finsternis, aus der die Welt entstiegen ist.

Die Rolle der Erde im Gott-Mensch-Drama

Die Urgeschichten enthüllen, warum das Menschengeschlecht nicht zur Ruhe kommen kann. Es hat noch ein Rest Hoffnung in der Büchse. Hinter uns ist die Sintflut und neue Staffel beginnt mit einem Aufbruch. (Gen 12,1ff.) Ziel ist das gelobte Land. Es wird fantastisch beschrieben als ein Land, in dem Milch und Honig fließen. Das ist schön! Aber mit der Geschichte der Landnahme startet eine weitere Staffel ohne Happyend. Sie wird den Leserinnen und Lesern, wenn sie weiterlesen, ein handfestes Post-Israel-Depression-Syndrom einbrocken. Der Landverlust nach der verlorenen Schlacht und die Exilierung wird in der prophetischen Verkündigung als Konsequenz einer verfehlten Lebensführung verstanden. Aber es ist nicht das Ende, das Gott-Israel-Drama geht dennoch weiter. In die Geschichte des nationalen Scheiterns ist der neue Erzählfaden der messianischen Hoffnung hineingewoben. In den prophetischen Visionen tauchen realistische Bilder eines politischen Schalom auf, Szenen, die eine Sehnsucht wecken, weil sie menschlich sind: von Weinbergen, die niemand schändet und von Plätzen, auf denen alte Menschen sitzen und Kinder spielen. (Sach 8,3-6)
Die Realdystopien der Gegenwartsliteratur sind verstörend, weil sie davon wenig sehen lassen. Die Fantasie, dass einmal eine Zeit kommen wird, in der die Tiger vegan sind, kommt dagegen nicht an. Uns macht zu schaffen, dass sich die Spur des Schalom verwischt und es peinlich wird, „we shall overcome“ zu singen. Aber das Vermisste lässt uns, die wir die Heilsgeschichte nicht für ein leeres Versprechen halten, zurückfragen: Welchen Halt geben uns die biblischen Storys angesichts des Zustands, in dem sich der Planet des Lebens befindet? Und mit Blick auf geholzte Wälder, verseuchte Böden und verschmutzte Wasser: Welche Rolle kommt eigentlich der Erde im Gott-Mensch-Drama zu? Ist sie das gelobte Land, in dem sich der Mensch ausbreitet? Ist Terra unser Territorium? Ist sie Herrschaftsraum für den Herrenmensch? Ist sie das Haus, in dem es für unsere Mitbewohner keinen Platz hat?
Wenn das der character indelebilis des Menschen wäre, dass er das Geschöpf ist, dass Raum auf Kosten seiner Mitbewohner beansprucht, wäre die Erde für ihn nur der Container. Terra wäre nur das «Es», in dem und von dem die Erdling leben. Sie wäre nur die Ware, die er verbrauchen, das Mittel, das er benutzen, die Nahrung, die er verzehren, die Energie, die er verbrennen, den Stoff, den er vernichten, die Frucht, die er ernten, das Leben, das er schlachten würde. Ist es nicht genauso? Wird die Erde ein Opfer des Menschen oder – ein unheimlicher Perspektivenwechsel – opfert die Erde den Menschen, damit seine Mitlebewesen überleben? Macht sie die Flut, um ihn zu ersäufen? Zündet sie den Zunder, um ihn zu verbrennen? Schüttelt sie ihren Buckel, um ihn zu begraben? Macht sie den Sturm, um ihn auszublasen? Übernimmt sie die Rolle der vorsintflutlichen Richterin? Ist das jetzt naives Reden oder Spruch der Na’vi? Dominiert sie am Ende? Macht ausgerechnet der Anthropozän der menschlichen Dominanz ein Ende? Kennen wir ihre Rolle in unserem Drama? Schwant uns jetzt, wo die Wasser steigen, dass wir die Bodenhaftung verloren haben? Holt uns die Sintflut wieder ein, weil wir die Schleusen öffneten? Wer oder was ist terra?
Der Aufbruch zur terra incognita ist ein Heimspiel für Apokalyptiker.
Pandora hat uns die Büchse gebracht und wir haben sie geöffnet. Wer Terra ist, eröffnet sich uns in der gemeinsamen Verstrickung. Die Geschichte der Schöpfung ist unsere gemeinsame Story – wir gehören zu ihr, aber kommen nach ihr, leben von ihr und sind von ihr abhängig. Terra will von uns anerkannt werden – nicht nur als Statistin, nicht nur als Bühnenbild oder Theater, sondern als lebendiger Organismus, als Subjekt in unserer Erzählung, auch als ein Gegenüber, das sie auszeichnet als Geschöpf, das kreativ ist, Nahrung hervorbringt und wie der Himmel von der Ehre Gottes erzählt (Ps 19,2; Ps 150).

Hoffen auf Gaia?

Im deutschen Sprachraum kommt Jürgen Moltmann das Verdienst zu, wichtige neue schöpfungs- und hoffnungstheologische Impulse gesetzt zu haben. Er kann zweifellos als der Pionier gelten, der viele Theologinnen und Theologen inspiriert hat, Schöpfung neu zu denken und ich füge hinzu: weiter zu erzählen. Für Moltmann stellt die Story von der Schöpfung das Rohmaterial für Gottesbild und Menschenbild zur Verfügung. Wenn es der Auftrag des Menschen ist, in und für die Welt Gott zu repräsentieren, repräsentiert er als Mensch zugleich die Welt vor Gott und ist insofern zugleich imago dei und imago mundi.20 Schon in seiner „Theologie der Hoffnung“21 findet sich diese Weitung auf die Welt. Es gehe im Evangelium nicht nur um die Auferstehungshoffnung für den (einzelnen) Menschen, sondern um die Hoffnung auf die Verwandlung der Welt hin zum Reich Gottes, das sich schon in der Gegenwart ausbreitet. Die Verbindung des politischen Engagement für eine bessere Welt mit der christlichen Hoffnung findet 1972 im Buch «Der gekreuzigte Gott» eine Fortsetzung. Moltmann dreht die theologische Frage, was der Tod Christi für die Menschheit bedeutet, zur Frage um, was dieser Tod für Gott bedeutet. War in der Theologie der Hoffnung der Ausgangspunkt die Auferstehung, ist es hier Karfreitag und das Kreuz. Weil die Auferstehung Gottes Verheißung für die ganze Welt, das Kreuz aber Gottes Liebe zu jeder Kreatur bedeutet, darf das Heil nicht auf das Religiöse und das Individuum eingeengt werden. In seiner ökologischen Schöpfungslehre «Gott in der Schöpfung» entfaltet Moltmann eine pneumatologisch akzentuierte trinitarische Schöpfungslehre. Der Grundsatz der Perichorese, dass sich drei göttlichen Personen wechselseitig durchdringen, wird auf die die Schöpfung ausgeweitet. An den Gedanken, dass Gott der ganzen Schöpfung und nicht nur dem einzelnen Menschen einwohnt, kann ökologisches Denken anknüpfen. In der weitgespannten Argumentation nimmt Moltmann das Gespräch sowohl mit Theologien aus verschiedenen Konfessionen sowie der jüdischen Tradition auf und sucht mit Blick auf eine «säkulare Ökumene» den Dialog mit Naturwissenschaftlern und Technologen.
Ein zentraler Punkt ist die Rezeption der Gaia-Hypothese, die auf die Mikrobiologin Lynn Margulis und den Chemiker, Biophysiker und Mediziner James Lovelock Mitte zurückgeht. Die Gaia-Hypothese besagt, dass die Erde und ihre Biosphäre wie ein Lebewesen betrachtet werden könne, da die Biosphäre – die Gesamtheit aller Organismen – Bedingungen schafft und erhält, die nicht nur Leben, sondern auch eine Evolution komplexerer Organismen im Sinne einer Symbiose ermöglichen. Der Gaia-Hypothese liegt ein systemtheoretisches Verständnis von Leben zu Grunde. Ein Lebewesen ist ein offenes Teilsystem, das auf seine Umwelt reagiert, sich anpasst, sich fortpflanzt und im Verbund mit anderen Lebewesen als Ganzes einem Lebewesen gleicht, das ein ordentliches Chaos bildet. Im Zuge der Ökologiebewegung hat die in den 1970er-Jahre entwickelte Gaia-Hypothese viele Anhänger in der Hippie- und New-Age-Bewegung gefunden. Im synkretistisch-narrativen Umfeld der Esoterik wird die Erde als „beseelter“ Organismus vorgestellt, der Intentionen hat und wie eine Göttin bestrafen und belohnen kann. Die Aufladung von Gaia zu einem (moralischen) Subjekt gibt den Prozessen eines Ökosystems eine Bedeutung. Gaia erkennt gut und bös.
Die Begründer der Hypothese haben sich von einer solchen Auslegung ihrer Hypothese allerdings stets distanziert. Lovelock sagt dazu:

„Aber wenn ich von einem lebendigen Planeten spreche, soll das keinen animistischen Beiklang haben; ich denke nicht an eine empfindungsfähige Erde oder an Steine, die sich nach eigenem Willen und eigener Zielsetzung bewegen. Ich denke mir alles, was die Erde tun mag, etwa die Klimasteuerung, als automatisch, nicht als Willensakt; vor allem denke ich mir nichts davon als außerhalb der strengen Grenzen der Naturwissenschaften ablaufend. Ich achte die Haltung derer, die Trost in der Kirche finden und ihre Gebete sprechen, zugleich aber einräumen, dass die Logik allein keine überzeugenden Gründe für den Glauben an Gott liefert. In gleicher Weise achte ich die Haltung jener, die Trost in der Natur finden und ihre Gebete vielleicht zu Gaia sprechen möchten.“22

Die panentheistische Erzählschlaufe

Was verspricht Jürgen Moltmann sich von der schöpfungstheologischen Integration der Gaia-Hypothese? Ihm geht es primär um den Dialog mit den Naturwissenschaften, die einen ökologischen Ansatz befürworten, also das System oder – im Bild – das ganze Haus des Lebens im Blick haben. Sein Ansatz ist weder esoterisch noch fanatisch, sondern durch und durch pragmatisch, ethisch und politisch. Gaia als Mitgeschöpf zu erkennen, hilft uns, in größeren Wirkungszusammenhängen zu denken und unsere Verantwortung wahrzunehmen. Es wird eine Perspektive gewonnen, die Licht wirft auf Aspekte der Schöpfungsgeschichte, die im Schatten der nachsintflutlichen Dominium Terrae – Figur zu wenig oder nur an Erntedankfesten Beachtung fanden: Dass der Mensch von der Erde, aber die Erde nicht vom Menschen abhängig ist und deshalb der menschliche Auftrag, die Erde zu bebauen, nur heißen kann, eine nachhaltige Form des Wirtschaftens zu finden, die auf der Regenerationskraft der Natur aufbaut. Nachhaltigkeit ist ein Gebot der Vernunft. Werden die kurzfristigen Interessen einer Generation höher bewertet werden als das langfristige Interesse, auch den Nachkommen die Lebensgrundlage zu erhalten, wird aus dem Dominium Terrae ein Domino der Verwüstung.
«Gaia», das Prinzip der Kontinuität der Lebewesen, lässt die Erde als Planet des Lebens sehen, als einen Organismus, der sich selbst erhalten, entfalten und entwickeln will – nicht nur als Fressen und Gefressen-Werden, nicht nur als Survival of the fittest, sondern als Nahrungskreislauf, aus dem neues Leben hervorgeht, das fragil und stabil zugleich ist. «Gaia» ist das Haus (Oikos), in dem der Menschheit als Haushälterin eine Rolle zufällt, die sie als Hausherrin nicht erfüllen kann.
Je verheerender die Folgen des Zerstörungswerks sind, desto deutlicher tritt die menschliche Erdabhängigkeit zu Tage. Wenn es aber so offensichtlich ist, dass wir im Schweiße unseres Angesichts unsere eigenen Lebensgrundlagen verwüstet haben, was hilft es uns dann noch, den Schöpfer anzurufen? Die Zerstörung der Schöpfung fällt auf das Vertrauen in den Schöpfer zurück. Worauf schauen wir, wenn weit und breit keine Lilien auf dem Feld stehen?
Eines ist klar. Um Gaia müssen wir uns nicht sorgen. Sie hat den längeren Atem. In der Welt haben wir Angst, aber Gaia wird uns überleben. Genau hier, auf dem Boden dieser Gewissheit, an diesem Übergang, scheiden sich die Geister. In der paganen Lesart ist Gaia Göttin, Mutter des Lebens, in der wissenschaftlichen Lesart ist Gaia Produzentin und Produkt der Evolution, die durch eine chemische Verbindung angestoßen wurde und mit Mensch oder ohne Mensch weiterläuft, bis die Sonne einmal erloschen sein wird.
Für Moltmann bleibt Gaia ein Geschöpf, das Kollektiv der Kreaturen, in dem die Kreaturen miteinander symbiotisch verbunden sind. Die Integration der Gaia in die Schöpfung verbindet sie mit dem Du des Schöpfers und verstrickt sie in die biblische Heilsgeschichte. Sie ist der Nichtigkeit unterworfen und leidet mit uns, sie ist, wie wir, erlösungsbedürftig. (Röm 8,13ff.) Wenn wir Bruder Sonne und Schwester Mond im aufscheinenden Licht von oben sehen, wirkt sich das auf unsere Wahrnehmung aus: Was jetzt nur Es ist, soll ins Du gerückt werden, was jetzt als Natur bekannt ist, soll als Schöpfung anerkannt werden. Leben, das leben will und vom Menschen als Ware, Mittel und Nahrung gesehen wird, soll als Mitkreatur geachtet werden. Die Schöpfung ist erst dann vollendet, wenn «alles, was Odem hat» (Ps 150,1ff) in kosmischen Jubel ausbricht.
Ich finde das schön, aber frage mich, ob wir aus diesen Bildern Hoffnung für die geschundene Natur schöpfen können. Wie und wann soll die Wende zum Besseren kommen? Muss man Utopist sein, um an einer solchen Vorstellung festzuhalten? Gibt uns die Hoffnung auf Gott genug Kraft, um Hoffnung für die Welt zu schöpfen? Hoffnung, wie Jürgen Moltmann sie versteht, ist keine Utopie, sondern Vor-Stellung von etwas, das noch nicht ist, aber schon jetzt kommt, ein göttliches Versprechen, das sich erfüllt, weil Gott treu ist. Hoffnung eröffnet einen konkreten Möglichkeitsraum, in dem eine Realutopie aktualisiert und ethisch antizipiert wird. Der in eschatologischer Spannung gehaltene Vorstellung von einem «Sein im Werden» muss also ein glaubwürdiges Handeln folgen. Das ist die Stärke und die Schwäche von Moltmanns Hoffnungstheologie. Sie oszilliert „zwischen Formen des Hoffens-dass und Formen des Hoffens-auf, ohne diese genauer zu unterscheiden oder aufeinander zu beziehen.“23 Man kann die damit gegebene ethische Gewichtung kritisch sehen.24 Oder aber die poetische Dimension akzentuieren. Denn wir sind auch gehalten von der Hoffnung, die in uns ist, Rechenschaft zu geben. (1 Ptr 3,15-18) Wenn Hoffen-Können, wie eingangs behauptet, eine Gabe der Geschichten ist, die wir einander erzählen, wäre hier die Verbindung zu einem glaubwürdigen Handeln anderer Art – im Sinne einer ars – zu entdecken. Es geht darum, dass wir einander Hoffnungsgeschichten und für uns Christenmenschen im Besonderen darum, die Gottesgeschichte glaubwürdig erzählen.
Die christliche Hoffnung öffnet den Erzählrahmen für eine göttliche Intervention für die Welt in Interaktion mit der Welt. Es ist eine rettende Transformation, die zwischen der Erinnerung an den Anfang und der Erwartung der Vollendung eine Mitte für das Evangelium ausspart, einem Erzählraum, in dem sich der Perfekt des Glaubens mit dem Advent der Hoffnung zu etwas Kraftvollem verbindet: adventlich, weil Gott durch Jesus Christus in die Geschichte und auf die Welt gekommen ist, real, weil Gott sich in Jesus Christus materialisiert hat und keine Idee geblieben ist und in Erwartung, weil die Welt noch nicht christusförmig geworden ist – als Licht, das jetzt schon scheint, als Türe, die jetzt schon offen, als Leben, das jetzt schon ergriffen werden kann.

Hoffen auf Gaia?

In den 1990er Jahren gab es eine Reihe von Theologinnen und Theologen, die von Moltmann ausgehend und über ihn hinausgehend, Schöpfungstheologie in pantheistische oder posttheistische Konzeptionen weiterdachten. Ein Beispiel ist Sallie McFagues gewagte Weitung der paulinischen Leibmetapher in «The Body of God».25 McFague entfaltet das Narrativ einer radikalen Solidarität aller Lebewesen.26 Die Vorstellung von der Welt als Gottes Körper verwischt die Fundamentaldifferenz von Schöpfer und Schöpfung und kritisiert die darin vermutete Basis einer anthropozentrischen Ethik. Wenn Gaia und Gott verschmelzen, wird der Immanenz-Transzendenz-Dualismus transzendiert.
Noch weiter als McFague geht die katholische Ökotheologin Anne Primavesi in ihrem Buch «Sacred Gaia».27 Wie Moltmann entwickelte auch Primavesi ihren Ansatz im Anschluss an James Lovelock. In ihrer Ökospiritualität wird der Lebensraum heiliggesprochen und für göttlich erklärt. Glaubensgegenstand ist nicht länger ein personales Gegenüber, sondern die gegenseitige Abhängigkeit der leiblichen, evolutionären und geistigen Beziehungen, die das Ganze ausmachen.
Mit diesen wenigen Hinweisen kann ich der komplexen ethischen und systematischen Diskussion zur theologischen Verwendung der Gaia-Hypothese natürlich nicht gerecht werden. Ich will auf eine Problematik hinweisen, die uns auch in der jenseitigen Eschatologie und Soteriologie begegnet. Wenn Gaia Gott ist, steht unsere Hoffnung auf dem Spiel.
Aus narrativer Perspektive stellt sich dann die Frage, wer die rettende Transformation in Gang bringt. McFague sieht in Jesus das Vorbild einer neuen Lebensweise, die sich abstinent verhält. Seine Leitsatz wird zur Regel: «The purpose in life is not to find yourself. It’s to lose yourself.» (Mt 10,39) Letztlich fällt dann aber der Mensch, wenn er für Gaia hofft, wieder auf sich selbst als ethisches Subjekt zurück. Dagegen ist ethisch gesehen nichts einzuwenden. Nur lässt sich aus der evolutionsbiologischen Einsicht, dass es eine Kontinuität des Lebens vom einfachsten Einzeller bis komplexen Ökosystemen gibt, zwar eine Abhängigkeit im Ökosystem, aber keine Solidarität aller Lebewesen ableiten. Biologisch gesehen entbehrt auch die Idee, dass der Mensch als Krone der Schöpfung verantwortlich für die Bewahrung der Schöpfung sei, jeglicher naturwissenschaftlichen Grundlage. Der Mensch hat als Sonderling der Evolution ein Gewissen, aber das hindert ihn nicht daran, nach Devise „nach mir die Sintflut“ zu leben. Er weiß, dass die Welt nicht um unseretwillen geschaffen ist, aber die nüchterne Betrachtung des Ökosystems beschert ihm auch die Erkenntnis, dass ihm dieselbe Wissenschaft – außer der Erhaltung der eigenen Art – kein Argument für einen benignen Anthropozentrismus liefert.
Eben darin sehe ich den Nutzen des wissenschaftlichen Narrativs. Es kann den naiven und gewiss auch in mancher Hinsicht malignen Anthropozentrismus, der uns zu einer maximalen Selbstverblendung, aber auch zu einer grandiosen Selbstüberschätzung verführt, entlarven. Was bringt die gedankliche Klärung?
Wir sind als Kollektiv vor dieselbe Entwicklungsaufgabe gestellt, vor die jedes Menschenkind gestellt ist, wenn es ein reifer Mensch werden will. Wir sollen einsehen, dass unsereins nicht das Maß aller Dinge. Dreht sich alles um uns? Ein wenig kosmische Demut stünde uns gut an – und wäre es aus reinem Selbsterhaltungstrieb für die Gattung. So gesehen vermitteln die Schöpfungsgeschichten der Bibel ein sehr kritisches Selbstbild des Erdlings. Eine pantheistische Aufladung der Gaia-Hypothese ist nicht nötig. Die ökologische Vernunft macht deutlich, was der erste Schöpfungsbericht erzählt, dass der Mensch als «das letzte Geschöpf Gottes […] das abhängigste»28 ist.
Es ist und bleibt die Aufgabe der christlichen Theologie, von der spannungsvollen Mitte auszugehen, auf die das Evangelium verweist – oder anders gesagt, Rechtfertigung und Heiligung kosmologisch zu weiten, ohne das christologische Zentrum aus den Augen zu verlieren. Es geht darum, die Dezentrierung des Menschen mit der christologischen Konzentration zusammenzudenken, so dass Gott, Welt und Mensch nicht auseinanderfallen. Die Frage ist, wie dieser Zusammenhang als Zusammenhalt erzählt werden kann, ohne in alte Fallen zu tappen.

Bruno Latours terrestrisches Manifest

Einen bemerkenswerten Anlauf unternimmt Bruno Latour in seinem Buch «Kampf um Gaia». In den acht Vorträgen, die Latour im Rahmen der Gifford Lectures gehalten hat29, steht «Gaia» für eine Theologie der Erde. Mit dem Terrestrischen wird semantisch ein Feld betreten, das ein weitgespanntes Bedeutungsspektrum entfaltet. «Erde» reicht vom Nährboden über den Raum bis zum Grundstück, das bewohnt wird. Erde ist raumtheoretisch gesprochen der Container, in dem das Leben stattfindet und das Gefüge der Relationen, das zwischen Lebewesen entsteht. Der «Terrestrial Turn» lenkt den Blick auf den fragilen Lebensraum, aber verzichtet auf eine transzendente Aufladung. Gott und Gaia bleiben unterscheidbar. Latour Wenn Latour «Gaia» sagt, meint er nicht „Pachamama“ oder „Gä“. Latours Gaia enthüllt nichts als sich selbst. Sie will, „dass die Gegenwart zunächst um dessentwillen gefeiert wird, was sie ist: eine Zeit, die durch ihr Vergehen Dinge andauern lässt […] Mit ihren Fingern zeigt sie ganz einfach auf die Erde.»30
Latour identifiziert Welt und Erde in einer puren Immanenz. Unsere soziale Welt ist materiell. Was gewinnt er durch diese Denkfigur? Welche erzählerischen Möglichkeiten eröffnen sich? Die Gaia, die auf sich selbst zeigt, erlaubt uns, die Erde nicht nur als Opfer unserer Untaten oder als Bühne für unsere Taten zu sehen. Sie ist auch keine Gottheit, die zürnt. Wir sind eingeladen, sie als unsere Heimat zu sehen. Erst dann wird uns unsere eigentliche Erdvergessenheit schärfer bewusst. Denn die Gaia, die auf sich selbst zeigt, sucht nicht die Verehrung der Menschen, sondern will das sein, was sie ist: Terra. Für Latour liegt darin die Aufforderung, «die Zugehörigkeit zur Welt zu rematerialisieren»31, seine «Rückkehr zur Erde»32 ist kein romantisches «retour à la nature», das Terrestrische steht für einen Akteur, der «ironischerweise gerade im Anthropozän an der Geschichte teilzunehmen beginnt.33 Sehen wir die Erde so, wird sie Teil und nicht nur der Rahmen unserer Handlung. Humanwesen sind aus Humus! Wir sind als Erdlinge erdverbunden, mit allem «Fleisch» verbunden. Also ist die Erde nicht Gegenstand. Wir schneiden uns ins eigene Fleisch.
Latour ist sich bewusst, dass die Bodenhaftung der Erdverbundenen, sobald ein bestimmter Boden, ein Land oder eine Heimat damit gemeint ist, ins Identitäre kippen kann. Das Gegengewicht zur Bodenbindung ist die Weltoffenheit. Also ist das die entscheidende ethische Frage: Was heißt es, sich einerseits an einen Boden zu binden und andererseits welthaft zu werden?34
Durch das Ineinanderschieben der sozialen in die materiale Welt entsteht ein Raum, in dem die Platzansprüche des humanen Erdlings kritisch betrachtet werden können. Denn dieser Raum ist der Oikos. Wir leben in einer Hausgemeinschaft und Ökologie ist die Lehre von den gelingenden Beziehungen der Hausbewohner untereinander. Die erdverbundene Weltoffenheit des Menschen will den Mythos von «Blut und Boden» entgiften. Die richtet sich gegen die imperialistischen, rassistischen, kolonialistischen, kapitalistischen, tribalistischen und völkischen Herrschaftsansprüche, sie plädiert für eine ökologische «Repolitisierung der Zugehörigkeit zu einem Boden»35 und macht klar, dass Homogenität toxisch, Reinrassiges faschistisch und Identitäres reaktionär ist. «Denn das TERRESTRISCHE hängt zwar an Erde und Boden, ist aber auch welthaft in dem Sinne, dass es […] über alle Identitäten hinausweist.»36

Gepriesen bist Du – Schwester

Ich finde es reizvoll, mit der terrestrischen Perspektive zu einer Relecture der Urgeschichten anzuheben und sich über die eigenartige Geschichte vom Turm zu Babel zu wundern. Berichtet doch die erste postsintflutliche Erzählung von einer merkwürdigen göttlichen Intervention. Die Erbauer des sagenhaften Turms haben nämlich jede Bodenhaftung verloren. Sie träumten von einem Großreich, in dem eine Sprache gesprochen und eine Leitkultur gepflegt wird. Die Gottheit interveniert, weil sie sich durch den Wolkenkratzer, der den Machtanspruch einer totalen Einheitlichkeit symbolisiert, provoziert wird. Sie vertreibt die Anhänger der schönen neuen Welt in alle Himmelsrichtungen. Sie will die Diversität der Völker oder das gewisse Maß an Chaos, das es braucht, um das Schöne und Wahre hervorzubringen …
Latours Entdeckung, dass die soziale Welt und die materielle Welt ineinander übergehen, machen etwas mit dem Sog der Realdystopie. Aber es braucht einen Wechsel der Perspektive, der erzählt wird. Es geht von der ethischen Ambivalenz, die im Begriff des Lebendigen steckt, hinüber zur poetischen Ambiguität, die sich in der Vorstellung von Gottes Lebendigkeit versteckt. Das Versteck zu finden und dann über die Entdeckung zu erzählen, als sei es ein Schatz in der Erde, ist die Aufgabe der Dichter und Geschichtenerzähler. Sie machen den kreativen Sprung hinüber in eine neue Welt, in der die soziale und materielle Welt in die erzählte Welt übergeht. Und landen wieder auf dem Boden. Das ist die Pointe eine jenseitskritischen Heilsgeschichte und das ist das Plus im Vergleich zu Cli-Fi-Storys wie die Pandora-Geschichte, die sämtliche Übel der Welt enthüllt. Die Geschichte muss böse enden. Bliebe es nur bei den Übeln, würde sich die Geschichte im Teufelskreis drehen. Sie lässt Erdlinge im Dunkeln tappen. Darum werden sie lichthungrig. Einzig die Hoffnung hat die Kraft, dem tragischen Ende zu widerstehen und Umkehr zu wirken. Denn die Hoffnung weiß, dass das gute Ende der Geschichte noch nicht gekommen ist. Es muss imaginiert und will antizipiert werden. Ein poetischer Sog entsteht, um das Licht im Leben zu entdecken. Ein irrwitziger Gedanke blitzt auf – dass Gott die Geschichte erzählt, sein Wort spricht, den Erdling von Anfang ruft …

Im Anfang war das Wort,
und das Wort war bei Gott,
und das Wort war Gott.
Im Anfang war es bei Gott.
Alles ist durch das Wort geworden
und ohne das Wort^wurde nichts, was geworden ist.
In ihm war das Leben
und das Leben war das Licht der Menschen.
Joh 1,1ff

Ich habe nach Storys gefragt, die uns wieder Hoffnung schöpfen lassen. Welchen Schluss ziehe ich? Am liebsten würde ich sagen, gar keinen. Denn das ist die Pointe der Hoffnung, von der wir erzählen, dass sie keinen Schlusspunkt setzt. Ich will es dennoch mit einer Schlussfolgerung versuchen in Form eines Gedichts, das Anlauf nimmt beim Prolog.

grosser gott

uns näher

als haut

oder halsschlagader

kleiner

als herzmuskel

zwerchfell oft:

zu nahe

zu klein –

wozu dich suchen?

wir:

deine verstecke37

Bodenhaftung geht besser barfuß und leichtfüßig. Es die Liebe zum irdisch Schönen, die Kurt Marti frohsinnig doppeldeutig «Erdmatriotismus» nennt.
Was im Handeln der Klimapolitik gewichtig daherkommt, wird in der Hand des Schöpfungspoetik federleicht. In einem Schlüsseltext des Berner Pfarrerdichters Kurt Marti (1921–2017) aus dem Tschernobyl-Jahr 1986 heißt es unter dem Titel „Gottes Eros“:

«Dass selbst das Unkraut sich nicht ohne Blüte mehrt»

– DAS, ja allerdings, ist heilige Verschwendung,

ist das Eros Gottes,

der weit über Zweck und Bedarf hinausgeht

und unsere geizigen Ichs ebenso beschämt

wie multinationale Gewinngier!

 

Und nun, du Liebender,

sollen Deine zarten Erfindungen, wilden Verschwendungen

bis zum bittern Ende vermarktet, vergiftet werden

und soll der Hinrichtung Deines Sohnes

auch die unserer Schwester, der Mutter Erde, folgen?

Nicht doch, nicht doch!

Zwing uns zur Umkehr,

führ uns zur Einsicht

durch die schöne Frau Weisheit,

die vor Dir spielte seit Anbeginn schon,

zu Deinem Entzücken38

 

Es ist die Wahrnehmung der Schönheit der Schöpfung und die Tiefenerfahrung ihrer Weisheit, die die Erde zum einzigen Planeten des Lebens erwählte, die uns zur Umkehr bewegen kann. Wir hoffen auf Gott, der auf uns hofft und mitten unter uns im Gewimmel, Getümmel und Gewusel des Lebens als Erlöser schon gegenwärtig ist. Gott löst sich nicht auf in Gaia. Es ist ein Wagnis, den Spuren Gottes in der Schöpfung zu folgen. „Aber wohin sonst sollen wir gehen? Du hast Worte ewigen Leben.“ (Joh 6,68) Und dass Gott umgekehrt zum Menschen gekommen ist, bedeutet auch für ihn ein Wagnis. Aber wohin soll Gott sonst gehen? «Gott? Jener Große, Verrückte, der noch immer an Menschen glaubt.»39

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