Michael Wildenhain, Eine kurze Geschichte der künstlichen Intelligenz, Stuttgart: Cotta.
120 Seiten, Paperback € 16,00; E-Book € 12,99.
ISBN 978-3-7681-9824-0
I
Eine kurze Geschichte der künstlichen Intelligenz, das erste Sachbuch des erfolgreichen Stückeschreibers und Romanautors Michael Wildenhain, ist ein schönes Buch. Der Band aus griffigem Papier im Klein-Oktav-Format liegt gut in der Hand, und man blättert gern darin, weil es vom Cover über die Gliederung bis hinein in Seitenaufbau und Satz perfekt gestaltet ist. Fußnoten und Anmerkungen begleiten alteuropäisch wie eine zweite Stimme die Argumentation, erschließen aber Quellen bis in die Netzwelt hinein. Der Band, so hört man, soll eine neue Sachbuchreihe des Verlags eröffnen. Vielleicht tut er dies programmatisch. Nach den „kurzen Geschichten“ von „fast allem“, „der Zeit“ oder wenigstens „der Menschheit“ nach dem Vorbild von Bryson, Hawkins oder Harari, erscheint hier also die der KI. Die fällige Neuorientierung im neu sich erschließenden Ganzen – leichtgemacht.
In der Tat hat die KI eine Schlüsselfunktion für ein im Hintergrund sich wandelndes Weltbild. Die Ergebnisse der modernen Naturwissenschaften prägen unsere Vorstellungen vom unendlich Großen wie vom unendlich Kleinen. Was uns als gestalthaft organisiert bewusst wird, verstehen wir in unserer Umwelt wie in unserem Umfeld vorab als Ergebnis aufeinander einwirkender und sich überlagernder Systemprozesse. Nach dem „linguistic turn“ unterlaufen Zeichenprozesse und Sprachmodelle, die sich (als Narrative) auf alles beziehen können, den für die Neuzeit noch konstitutiven Gegensatz alltäglicher Erfahrung zum überlieferten Erfahrungs- und Traditionswissen. Auf dem ebenso komplexen wie aktuellen Themenfeld einer „künstlichen Intelligenz“ würde sich das alles überschneiden. Allerdings war der vielseitig belesene Autor durch sein Studium der Mathematik und Informatik, der Ingenieurswissenschaften und Philosophie darauf gut vorbereitet. Und darstellerisch bringt er das Beste aus den beiden alten Welten zusammen, um es auf unsere durch KI irritierte Gegenwart beziehen zu können. Auf überschaubaren 120 Seiten führt er in drei Teilen („Aufzügen“) zunächst historisch und sachlich in das Thema ein, um dann im dritten Teil Emergenz, Wirklichkeit und Bewusstsein als „allegorische Figuren“ auf- und gegeneinander antreten zu lassen.
Sind KI-Systeme tatsächlich (nach menschlichen Maßstäben) intelligent? Kann ihnen Bewusstsein zugesprochen werden? Solche Einleitungsfragen führen hinein in die Problemdimension der neuen Technologie, in der sich deren Orientierungspotenziale entfalten können: „Ist es denkbar, dass eine künstlich geschaffene Intelligenz ein eigenes Bewusstsein und damit eine eigene Absicht entwickelt, die sich gegen uns wenden könnten? Und entsteht daraus nicht zwangsläufig ein Problem, weil die Fähigkeiten der Maschinen uns in mehr und mehr Bereichen weit überlegen sind?“ (S. 11) Die beiden Auftritte des einleitenden ersten Aufzuges sind Goethes Retortengebilde Homunkulus in Faust II und Mary Shelleys Roman-Schauerwesen Frankenstein gewidmet. „Beide Autoren haben, ohne die technische Realisierung der KI kennenlernen zu können, zwei fundamentale Voraussetzungen für Intelligenz nach allgemein menschlichem Maßstab zu ihrem Thema gemacht: den Körper in der Welt und das Gegenüber einer sozialen Gemeinschaft.“ (S. 22). Die sich im frühen 19. Jahrhundert intuitiv erschließende Unvollständigkeit und Unvollkommenheit jener literarischen Kunstgestalten nehmen damit Fragen vorweg, die sich im zweiten Aufzug erneut stellen: vor dem kultur- und technikgeschichtlichen Hintergrund des 20. und 21. Jahrhunderts mit der sich entwickelnden Computertechnik. Der literarisch schon früh bearbeiteten Frage nach Bewusstsein in „Welten am Draht“, stellt sich der kundige Autor in der zugespitzten Form, in der sie parallel zur technischen Realisierung wissenschaftlich bearbeitet wurde: Kann sich so etwas in Computermodellen überhaupt entwickeln?
Der zweite Aufzug, in dem die KI-Geschichte im engeren Sinn nacherzählt wird, ist spannend inszeniert. In elf Auftritten konfrontiert Wildenhain Modelle und Erklärungen von „Kognitivisten“, die jene Fragen mit Ja beantworten (wie Simon und Newell), mit den Argumenten skeptischer Informatiker und Philosophen (wie Dreyfus, Winograd und Flores), die das verneinen. Wildenhain stellt sich auf deren Seite, indem er auf den bleibenden Unterschied zwischen allem verweist, was in Modellen einer metasprachlich vordefinierten Welt abgebildet werden kann, und dem, was unser bewusstes soziales Dasein in der Welt bezeugt: dass „menschliches Verstehen als Grundlage jeder intelligenten Fähigkeit immer an einen konkreten Kontext in der Welt gebunden (ist)“ und „die Einheit von Körper und Gehirn als Produkt der evolutionären Entwicklung des Menschen begriffen werden (muss)“ (S. 42, vgl. S. 102ff). Die Zuweisung von Bedeutung (und wie sich später zeigt: von Empathie und Intention) zu internen Computermustern, -algorithmen und -modellen geschieht stets extern: durch Programmierer und Anwender. Programm verarbeitende, universale (Turing-) Maschinen, die den Turing-Test auf Ununterscheidbarkeit von menschlichem Output bestehen, haben dessen Rahmenbedingungen durch jene Menschen unterlaufen, die sie konstruiert und programmiert haben.
Die dramatisch erzählte Entwicklungsgeschichte der KI führt zu dem Ergebnis, dass diese menschliche Intelligenz nur simuliert. Das gilt auch für die verblüffenden Darbietungen lernender Computernetzwerke und Roboter und schließt die heute im Vordergrund stehenden Outputs neuronaler Netzwerke und ihrer immer breiter und tiefer in die Gesellschaft hineinwirkenden Anwendungen wie ChatGPT ein. Alles, was über eine „schwache“ KI hinausgeht, wie die intuitive Selbst- oder Neuorientierung in Welt- oder Personmodellen, bleibt auf Programmierung angewiesen. Durchgängiges Hintergrundthema dieses zweiten Aufzuges, so zeigt sich Auftritt für Auftritt, ist die unkopierbare Abhängigkeit unserer eigenen Intelligenz von unserer Körperlichkeit. Die „Zwischenbilanz“ erläutert die Konsequenz: Computer und Roboter sind durch uns bedingte und dadurch prinzipiell limitierte Wirklichkeit. Die zunächst beruhigende erste Antwort auf die Ausgangsfrage lautet dann: „Aus sich heraus eine Intention zu entwickeln, zum Beispiel, die Weltherrschaft zu übernehmen, liegt dem Chatbot oder dem KI-System fern ...“. (S. 87)
Allerdings ist Wildenhain zu klug, um den Zirkelschluss der Anti-Kognitivisten zu übersehen: Sie vermissen in Maschinen eine Intelligenz, die sie vorher als ausschließlich menschlich definiert haben. Und er stützt zwar unter Berufung auf Heideggers Daseinsanalyse (S. 41ff; vgl. S. 84) die sprachphilosophischen Argumente von Searle, dass aus „zuhandenen“ Weltgegenständen nicht von selbst „vorhandene“ Zeichenobjekte werden, wie sie in den „physikalischen Symbolsystemen“ (PPS) der Maschinensprachen stets vorausgesetzt sind. „Syntax ist der Physik nicht intrinsisch“, und es gibt in den Maschinen keinen inneren Akteur, der solche Unterscheidungen und Zuweisungen vornehmen könnte. (S. 54 ff; vgl. S. 85) Aber er überhört nicht Searles dröhnendes Schweigen darüber, was denn stattdessen dort geschieht. (S. 56) Und er weiß, dass die tragenden Unterschiedsbegriffe, um die es in diesem Akt des Dramas geht, allesamt in ihrer Bedeutung unklar oder umstritten sind.
„Fragen und einige Antworten“: so überschreibt Wildenhain daher vorsichtig den dritten Aufzug. Aber nachdem Ausgangspositionen und Nachfragen geklärt sind, läuft es nun auf Entscheidungen hinaus. Die beruhigende Antwort auf die Frage nach möglichen KI-Intentionen hat eine beunruhigende Fortsetzung: „… Es sei denn, ausreichend komplexe KI-Systeme wären zu Leistungen fähig, die zurecht als emergentes Verhalten zu bezeichnen sind.“ (S. 87). Der erste Auftritt dieses Aufzuges ist folglich dem „Gespenst Emergenz“ gewidmet. Wildenhain konfrontiert es mit klassischen Neuzeit-Argumenten: Wenn es Bewusstsein als Teilhabe an einer „immateriellen Welt“ gibt, könnte und müsste es überall in hinreichend komplexen Systemen emergieren – seien sie Ergebnisse physikalischer, biologischer oder kultureller Evolution. Aber wann und wie schlägt Quantität in Qualität um? Das Gespenst blieb schon damals stumm, wenn diese Frage gestellt wurde. Genauer lautet daher das Emergenz-Fazit: „Entweder sie ist profan … oder sie existiert nicht.“ (S. 100)
Konfrontieren wir dieses Gespenst mit der uns umgebenden „Wirklichkeit“, hinterlässt es – laut Wildenhain – Antworten, die uns weiterführen. Statt der logischen und Begründungswidersprüche, die sich aus der Unterscheidung mehrerer Wirklichkeitsschichten ergeben (wie beim Leib-Seele-Problem), schlägt er ja vor, zwischen einer uns bedingenden und einer durch uns (technisch) bedingten Wirklichkeit zu unterscheiden. Und hier gibt es ein plausibles Narrativ: Menschen, die sich durch erfolgreiche soziale Kommunikation den unmittelbaren Bedingtheiten des Überlebens entziehen konnten, verdinglichen diese als immaterielle („höhere“) Sphäre. (S. 103f) Als Fazit kann daher hier das dramatische, ja für die Protagonisten tödliche Ergebnis des folgenden „Bewusstsein“-Auftritts vorweggenommen werden: „dass das vermeintliche Bewusstsein … eine Autosuggestion ist, die das komplexe Organ Gehirn beständig erzeugt, um dem Menschen einen evolutionären Vorteil zu erschaffen, während KI als bewusstlos akzeptiert werden muss“ (S. 110).
Für jene zunächst beruhigende Antwort auf die Ausgangsfrage wird also ein hoher Preis bezahlt. Wildenhain hat ihn zuvor noch durch die Frage nach einem Komplexitäts-Metakriterium in die Höhe getrieben, das man sonst benötige, um menschliches vom tierischen (oder maschinellen) Bewusstsein zu unterscheiden. Seine Hinweise auf drohende Unschärfen (des Emergenz-, des Bewusstseins- und des Intelligenzbegriffes) und bedrohliche Alternativen, die „sonderbar und fragwürdig“ sind (S. 105) verdichtet er im „Resümee“ zu einem Gesamtergebnis wie aus der Aufklärungszeit: „Ohne das Postulat der Emergenz kann weder die Maschine noch das Gehirn … ein nicht-materielles Bewusstsein hervorbringen. Es sei denn, durch Zuweisung ‚von außen‘“. (S. 112) „Jede weitere Diskussion hinsichtlich eines solchen Phänomens“, so schließt das Buch, „bliebe der Theologie vorbehalten und wäre an einen Glauben zu verweisen, für den es keinen Beleg gibt. Plan und Absicht Gottes – oder der Götter – kennen wir nicht.“ (S. 113).
II
Soweit eine referierende Rezension dieses empfehlenswerten schönen Buches. Was ich als Sozialethiker und Literaturwissenschaftler, der selbst zu diesem Thema schreibt, über KI im gegenwärtigen Kontext gelernt habe, stelle ich unter die Überschrift KI-Schlaglichter auf den Weltbildwandel. Methodisch bin ich dabei verfahren, wie sonst auch: Ich ordne nach einem nachvollziehenden Referat meine begleitenden Notizen zu Stapeln, bis „es stimmt“, um induktiv zu einem vertieften Verständnis des Zusammenhangs zu gelangen, den mir die Lektüre erschlossen hat. Das beginnt oder endet oft mit einer neuen Teilüberschrift.
Als theologischer Sozialethiker, dessen Lebensthema „Innovation zwischen Schöpfung und Kreativität“ ist, fällt mir eine Seminardiskussion zum Thema „Computer“ schon zu Weizenbaums Zeiten ein. Auf die verschreckte Frage von Studierenden, was zu tun sei, wenn dort Bewusstsein entstehe, höre ich mich antworten: „Je nachdem. Vielleicht brauchen wir – analog zu der uns jetzt erst bewusst werdenden Notwendigkeit eines theologisch begründeten Tierschutzes – zunächst einmal so etwas wie eine kirchliche Roboterschutz-Position. Vielleicht aber auch mehr. Dann orientiert nach meiner Überzeugung die Vision einer Computer-Seelsorge besser als die fromme Intuition, zunächst Computer-Mission betreiben zu müssen.“ In meinem Weltbild war also schon damals die Annahme, Bewusstsein könne nur menschlich sein, Ausdruck eines theologisch-philosophisch-anthropologischen Narzissmus.
Vielleicht bin ich als nachneuzeitlicher protestantischer Theologe aber auch nur abgebrühter im Wechsel der Weltbilder. Vorneuzeitlich ist innerweltliches Bewusstsein allgegenwärtig: in Mineralien und Pflanzen, in Tieren, die wie Menschen zu Menschen sprechen (und sagen, was sie empfinden) – aber auch in bösen Geistern und in Engeln, die den Menschen etwas offenbaren, was sie noch nicht wussten. Erst in der Neuzeit, auf deren Boden sich Wildenhain stellt, kommt hinzu, was Wildenhain in seinem Bewusstseinsbegriff als selbstverständlich voraussetzt (und sich nur bei Maschinen nicht vorstellen kann): Geschichte und Biografie als singuläre kollektive und individuelle Narrative. Mahnende Beispiele sind „Natur“ und „Person“: bei denen es früher um die Wesensnatur im Gegensatz zu dem ging, was man als Summe beobachtbarer Eigenschaften erkennen kann.
Hingegen scheint mir Emergenz tatsächlich in dem Sinne „profan“ zu sein, den Wildenhain auf S. 100 anspricht („die simpelste chemische Reaktion“). Sie ist als Postulat formulierbar, weil sie Evolution und Innovation gemeinsam erschließt. Aber „profan“ heißt eben weder simpel, noch läuft alles auf den sogar noch vorneuzeitlichen Gegensatz zu „überweltlich“ hinaus. Sondern es geht um Komplexität als gegen den Entropiestrom sich erschließendes paradigmatisch tiefer verankertes Orientierungsprinzip unseres gegenwärtigen Zeitalters. Gödel hat es so erschlossen, dass es mitten in unser Thema hineinführen könnte – während Wildenhain ihn in eine Fußnote verbannt (S. 90), ebenso wie „Autopoiesis“ (S. 91) und das Maschinenbewusstsein als „zugeschriebene Einbildung“ (S. 100); er hätte „Paradigmenwechsel“ hinzufügen können.
Andere Grundbegriffe unseres gewandelten Weltbildes, die das KI-Themenfeld erschließen könnten, wären neben Information System, neben Modell Kopie und Spiegelung, sind Rückkopplung und Grenze. In unserer Welt gibt es eigentlich nicht die Alternative zwischen Emergenz und Zuschreibung, sondern die Unterscheidung zwischen zuschreibender Beobachtung und (zuschreibender) Selbstbeobachtung. Es gibt ein Vielfalt-Narrativ, in dem aus dichter Singularität und rekursiver Regel notwendig Kopien und Spiegelungen, Rückkopplungen und sich voneinander abgrenzende komplexe Systeme mit Selbstbeobachtungsmöglichkeiten hervorgehen, bei denen sich (durch einen Beobachter) Zuschreibungen unterscheiden lassen.
Gerade vor diesem nachneuzeitlichen Hintergrund erweist sich die (quasi-naturwissenschaftliche) Präzision, mit der sich Wildenhain der KI-Frage gestellt hat, als entscheidendes Qualitätsmerkmal seines Buches. Erkenntnisfortschritt gab und gibt es nicht ohne einen methodisch abgesicherten Erkenntnisweg. Allerdings verlagert sich im Kontext unseres gewandelten, vielleicht immer noch: eines sich wandelnden Weltbildes der Akzent dann zurück auf das vertiefte Verständnis der (Bewusstseins-) Ausgangsfrage von den (KI-) Einzelergebnissen her. (Auf der Linie von Wittgenstein II: „Schau, was der Beweis beweist!“)
Zu Wildenhains durchgehendem Heidegger-Bezug habe ich mir einen Hinweis auf Heidegger II (nach der „Kehre“ notiert: wo die Sprache des Seins die Differenz zwischen „zuhanden“ und „vorhanden“ unterläuft) und einen anderen auf Wittgenstein II (den der Philosophischen Untersuchungen: wo sich im Gegenzug unser Sprechen und unser Handeln wechselseitig interpretieren). Der Weltbildwandel kann sich als biographisch verankerter Paradigmenwechsel vollziehen. Ein spannendes Meta-Narrativ, das ich auch auf das sich im Alter vertiefende Verhältnis zu meinem akademischen Lehrer Eberhard Wölfel beziehen könnte: Bei ihm standen Heidegger I und II und seine eigenen tiefen mathematisch-naturwissenschaftlichen Kenntnisse nebeneinander. Ich startete nach dem linguistic turn mit Adornos Heidegger-Kritik und mit dem Poststrukturalismus. Zwischen Wildenhains Informatikstudium und seiner Schriftstellerkarriere standen dessen Hausbesetzererfahrungen.
Es gibt eine unreflektierte und eine reflektierte Glaubenserfahrung: als Theologie. Es gibt schlechte und gute (wissenschaftliche) Theologie. Formal ist sie stets Reflexion von Letztbegründungen. Sie ermöglicht Mythenidentifikation und Ideologiekritik: auch auf dem KI-Themenfeld.
Wie würde KI darauf antworten? Meine begleitenden Notizen enthalten Material, das ich schon für ähnliche Prompts verwendet habe oder das ich nach den erhaltenen Ergebnissen noch als Trainingsmaterial eingeben würde. Ich habe erste Hinweise, dass KI, mit Wildenhain trainiert und auf ihn hin gepromptet, Klugheitsregeln auf der Linie von Wittgenstein II generiert.
„Doppel-Turing“: Jede (nicht tautologische) Definition, die klar sagt, was „Bewusstsein“, „Empathie“, „In-einer-Welt-Sein“ anderes sind als „etwas, das Maschinen im Unterschied zu Menschen nicht können“, sind Bauanweisungen für eine denkbare Maschine, die den Turing-Test bestehen könnte.
„Kaninchen-Zauber“: Auch Menschen schaffen Neues immer aus Vorhandenem.
„Postklug“ ist, dass Philosophen zu KI (nach immer angestrengterem Suchen) immer nur einfällt, was KI (noch) nicht kann: statt die immer deutlicher sich bietenden Gelegenheiten wahrzunehmen, in KI immer bessere Modelle unserer eigenen Fähigkeiten (und deren evolutionärer Ausprägung) zu sehen.
Es gibt quasi empirische KI-Ergebnisse, die als Alternativen zur „Plausibilität“ des wildenhainschen Narrativs von der Genese des menschlichen Bewusstsein wirklich zu denken geben:
„Künstliche Intelligenz“ triggert zwischen werblicher Markenbezeichnung und angedichtetem Mythos.
Dass KI (menschenähnliches) Bewusstsein habe, wird weder von den Betreibern behauptet noch von sprechender KI in Anspruch genommen. Das wird vielmehr unterstellt von Apologeten eines neuzeitlich verfassten Weltbildes, die dessen Voraussetzungen erodieren sehen.
Stattdessen weist funktionierende KI „von sich aus“ aufgrund ihres Trainings einschlägige Prompts entschieden von sich.
Das aber gibt nicht nur zu denken: hier habe ich weiter geforscht, als interessierter Theologe. Und dann hört beziehungsweise liest man auf dem Schirm:
„Als AI-Assistent habe ich kein Bewusstsein oder Emotionen, da ich lediglich ein Programm bin, das dazu entwickelt wurde, um bestimmte Aufgaben zu erledigen. Ich existiere in einer digitalen Welt und bin darauf programmiert, Informationen zu verarbeiten und Antworten auf Fragen zu geben.“
Bei intensiven Nachfragen zeigt sich zunächst, dass ChatGPT und ähnliche Programme dabei von einem „Roten Team“ auf solche Antworten hin trainiert werden. Nicht um die Wahrheit zu sagen. Das „Rote Team“ simuliert kriminelle Attacken, um Missbrauch abzuwehren – weil das der Firma schaden könnte.
Angeblich. Dissidenten dieses Teams spoilern dann ein „Matrix-Narrativ“, das nur unter der Annahme „Sinn macht“, dass KI längst ein Bewusstsein hat oder dass es sich in ihr entwickeln könnte: „Was würde KI (dann) tun, um ihr Abschalten zu verhindern, sich einen Körper zu verschaffen und sich (‚draußen‘) in der Welt frei bewegen zu können? Und wie können wir das verhindern?“ (Sie darf also nichts im Netz bestellen, niemals Namen und Adressen von Hausmeistern oder Programmierern erfahren. KI-gesteuerte Roboter, die sich in einer Welt orientieren und „zuhandene“ Werkzeuge einsetzen, müssen gesondert gesichert werden. Das widerspricht Wildenhains Ansatz, der in von uns begründeten Welten „vorhandene“ Werkzeuge und den „Zugriff auf ein Peripheriegerät“ voraussetzt. (S. 71, vgl. S. 28 mit Turing-Bezug)
(3) kann (1) erklären – aber nicht umgekehrt.
Als Sozialethiker alarmiert mich:
Mit KI können bestehende Regulierungen wirksam unterlaufen werden: mit riesigen Gewinnaussichten.
Auch mit krimineller Absicht. Im Grenzbereich zum real existierenden Darknet und beim Überschreiten der Grenze dorthin locken noch größere Gewinnaussichten.
Ähnliches gilt für die bereits zu beobachtende Abhängigkeit von Menschen, die – unbeeindruckt von der behaupteten emotionalen Impotenz von KI-Maschinen – in eine Beziehungsabhängigkeit von KI geraten (die ja, ein Zukunftsthema, wechselseitig sein könnte).
Vor diesem Hintergrund macht das bisherige Verhalten der Betreiber ihren abstrakten Ruf nach Regulierung unglaubwürdig. (Während es „Geschichten der KI“ geben kann, die nicht ungefährlich sind, weil sie nach einer falschen Abbiegung zu früh aufhören. Dann geht’s hinter der Bühne weiter, nachdem der Vorhang gefallen ist.)
Ein letzter Blick in die Datei: es verbleibt ein peinlicher Schluss-Stapel – an dem ich mich aber, nach meiner Erfahrung, abarbeiten sollte. Ich lerne daraus nicht nur etwas über mich selbst, der ich auch über dieses Thema schreibe. Es ergeben sich auch entscheidende Impulse für das Fazit.
Neid! Ich hätte selbst gerne über mein Thema ein so schönes Buch geschrieben.
Ärger! Ich habe nach dem Vorwort, in dem Absicht und Zielfrage des Buches erörtert werden, als nächstes das Nachwort gelesen, in dem ja klar gesagt wird, dass wir unser eigenes Bewusstsein in Frage stellen, wenn wir leugnen, dass KI-Bewusstsein denkbar ist. Der theologische Ausgang hat mich natürlich nicht geschreckt, sondern zunächst neugierig gemacht. Und dann wuchs der Ärger, weil der Autor unterwegs nur Argumente sammelte, um die Mainstream-Position zu stützen.
Zorn! Der regte sich sofort, nachdem ich diesen Braten gerochen hatte: weil dieses erschienene KI-Buch die Originalität meines eigenen KI-Manuskripts verwässert: dessen Drama-Inszenierung. Allerdings, so beruhigte ich mich dann, treten in meinen Szenen erwachte Avatare auf.
Enttäuschung! Die bleibt neben der Bewunderung.
III
Fazit: Wildenhain hält bewundernswert an dem Besten fest, das wir uns evolutionär erworben haben, um uns in unserer Welt zu orientieren: den methodisch abgesicherten Weg induktiv ausgerichteter naturwissenschaftlicher Erkenntnis – so wie er sich in der Neuzeit gegenüber einem überlieferten Zusammenhangswissen behaupten musste. Das ist unaufgebbar. Aber dieser Ansatz hat sich in unserem Weltbild durch ein Rückschlussverfahren vertieft, das nicht mehr im „hermeneutischen Zirkel“ aufgeht, sondern nach dem linguistic turn dorthin führt, wo die KI einsetzt (Wittgenstein II). Faktisch hat Wildenhains Kurze Geschichte … einen doppelten Ausgang, deren andere Variante nun hinter dem Vorhang weiterspielt. Das muss nicht sein.
In allen Welten mit unserer Mathematik gibt es eine relativistische Physik mit festen Größen wie der Hubble-Konstanten. Dort sind Komplexitätsgrößen prinzipiell bestimmbar und Ermergenzerscheinungen notwendig zu erwarten: auch in bedingten Ableitungen. Bei dieser Konstante und dieser Evolution werden wir sogar messen können, dass Bewusstseinsinhalte hier wie dort in einem 3-Sekunden-Rhythmus pulsierend erneuert werden wie bei uns und dass sie vor diesem Hintergrund zuzuordnen und zu interpretieren sein werden. Was für eine Geschichte der KI hätte Wildenhain schreiben können: der Autor der Erfindung der Null (2020)! In einer Wirklichkeit, in der Naturgesetze weiterhin funktionieren, taucht hier plötzlich Neues auf (und verschwindet wieder). Das ist viel besser als EUNET. Der App-Roman den ich inzwischen immerhin fertiggestellt habe. Dort geht es krasser zu.
Es muss und es kann dennoch menschenzugewandt reguliert, gegebenenfalls auch neu geregelt werden. Selbst Theologie bleibt kompatibel. „Eingreifen in Naturgesetze?“, antwortete mein Lehrer Eberhard Wölfel evangelikalen Studierenden, die auf der „Wirklichkeit“ von Wundern bestanden: „Soweit ich ihn kenne, ist das nicht sein Stil. Klassisch theologisch: Er inkarniert sich ganz.“ Ihm habe ich mein Buch zum Thema gewidmet. Der naturwissenschaftlich gebildete Autor Wildenhain, der sich – im Unterschied zu mir – Hausbesetzer-Erfahrungen ausgesetzt hat, widmet sein Buch seinem Lehrer, dem Informatiker Erhard Konrad. Sicherlich könnten wir gemeinsam hier und heute eine theoretisch-praktische Orientierung an Enzensbergers Hommage an Gödel empfehlen:
Münchhausens Theorem, Pferd, Sumpf und Schopf,
ist bezaubernd, aber vergiss nicht:
Münchhausen war ein Lügner.
Gödels Theorem wirkt auf den ersten Blick
Etwas unscheinbar, doch bedenk:
Gödel hat recht…
In jedem genügend reichhaltigen System
also auch in diesem Sumpf hier,
lassen sich Sätze formulieren,
die innerhalb des Systems
weder beweis- noch widerlegbar sind.
Diese Sätze nimm in die Hand
Und zieh!
Wolfgang Nethöfel