1. Das Konzept des gerechten Friedens ist bleibendes Leitbild für die evangelische Friedensethik.
„[...] und werden nicht mehr lernen, Krieg zu führen“ (Jes 2,4), so predigt der Prophet Jesaja und verheißt damit eine Welt, in der Gewalt und Krieg an ein Ende gekommen sind und die Menschen in Frieden leben können. Diese Vision hat Eingang in das Konzept des gerechten Friedens gefunden. Mit dem Leitbild des gerechten Friedens verbindet sich ein Paradigmenwechsel: Nicht mehr der Krieg, sondern der Frieden steht im Fokus des neuen Konzeptes. „Wenn du den Frieden willst, so tue den Frieden“ – so lässt sich der Ansatz zusammenfassen. Dieser kann vor allem in Deutschland, aber auch in Teilen der weltweiten ökumenischen Bewegung als Konsens in friedensethischen Fragen gelten. Die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) hat diesen Perspektivenwechsel hin zum gerechten Frieden vor fünfzehn Jahren in ihrer Friedensdenkschrift ausformuliert. Der gerechte Frieden arbeitet dabei mit einem weiten Friedensbegriff, der mehr einschließt als nur die Abwesenheit von oder den Schutz vor Gewalt. Zentral sind vielmehr ebenso Aspekte wie soziale Gerechtigkeit, Rechtsstaatlichkeit, Achtung der Menschenrechte und Sicherheit für alle Menschen.
Dennoch bleibt die Frage nach der Anwendung von Waffengewalt auch für den gerechten Frieden zu diskutieren, gilt diese etwa in der Friedensdenkschrift nach wie vor als äußerste Option, als ultima ratio. Dabei erweist sich solches militärisches Handeln per se als problematisch, da es immer durch Gewalt bestimmt ist, selbst wenn diese nur letztes Mittel sein soll. Die Frage nach der Legitimität stellt sich angesichts der Ukraine-Krise mit besonderer Schärfe. Deutlich hält die Denkschrift daher an dem Vorrang ziviler Konfliktbearbeitung fest.
Die Wurzeln der Verbindung von Frieden und Gerechtigkeit liegen in der biblischen Tradition. Gerade das Alte Testament rechnet mit einem ewigen Frieden, der Heilsein in einem umfassenden Sinne bedeutet. Diese Vision ist von einem irdischen Frieden zu unterscheiden, der religiöse Sinngehalt des Friedens schließt jedoch seine weltliche Dimension, die Möglichkeit seiner (zumindest ansatzweisen) Umsetzung, ein. Der Ausgangspunkt des Friedens ist die von Gott gewährte Versöhnung des Menschen mit ihm und untereinander. Das biblische Friedensverständnis ist untrennbar mit Gerechtigkeit verbunden, Frieden und Gerechtigkeit stehen dabei nicht in einem einfachen Zweck-Mittel-Verhältnis zueinander. Frieden ist dabei kein Zustand, sondern ein Prozess, der in innerstaatlicher wie in zwischenstaatlicher Hinsicht auf die Vermeidung von Gewaltanwendung, die Förderung der Freiheit und den Abbau von Not gerichtet ist. Zusammen mit der Komponente der Anerkennung kultureller Vielfalt bilden diese Faktoren die vier Dimensionen des gerechten Friedens in der evangelischen Friedensdenkschrift.
2. Im Konzept des gerechten Friedens sind jedoch Anpassungen im Bereich der politischen Schlussfolgerungen nötig.
Die kriegerische Auseinandersetzung in der Ukraine fordert evangelisches friedensethisches Nachdenken nachhaltig heraus: Die vier Dimensionen des gerechten Friedens ziehen dabei unterschiedliche Schlussfolgerungen, friedenspolitische Grundsätze und konkretes friedenspolitisches Handeln nach sich. Eine der Konsequenzen muss sicherlich in der Neubewertung internationaler Organisationen wie des internationalen Völkerrechts liegen. Hier ist die Denkschrift sehr optimistisch und weiß wenig von der gegenwärtigen Schwäche des Völkerrechts. Die gegenwärtige Situation zeigt einmal mehr, dass dieses immer nur so stark ist, wie die Staaten, die es tragen, und dass es in letzter Konsequenz auf das Mittun und Mittragen aller angewiesen ist. Auch über das Veto-Recht im UN-Sicherheitsrat muss weiter nachgedacht werden.
Wie komplex die Frage der Anerkennung kultureller Vielfalt ist, zeigt sich auch im Blick auf den Ukraine-Krieg. Hier offenbart sich auch das kulturelle hegemoniale Streben Russlands, was in den vergangenen Jahren spätestens seit der Krimkrise 2014 auf vielfältige Weise zutage getreten ist.
Schließlich ist zu konstatieren, wie falsch Wladimir Putin und seine Friedenswilligkeit in Europa eingeschätzt wurde, im politischen Diskurs und in der evangelischen Friedensethik, gerade auch im Versuch nicht in alte stereotype Beurteilungsmuster des Kalten Krieges zurückzufallen.
3. Die aktuelle Situation in der Ukraine muss (selbst-)kritisch reflektiert werden, hier sind keine einfachen Antworten möglich.
Einfache Antworten helfen ebenso wenig weiter wie der stark militärisch geprägte mediale Diskurs unserer Gegenwart. Eines ist eindeutig: Das Bombardieren von Städten und das Töten von Menschen ist radikal zu verurteilen, dafür gibt es keine Rechtfertigung. Niemand hat das Recht dazu. Allzu naheliegend scheint der Impuls Europas nun, auf dieses Verbrechen mit Gegengewalt zu reagieren, die Ukraine in ihrem scheinbar ausweglosen Kampf zu unterstützen. Blickt man auf den aktuellen politischen Diskurs, scheint eine militärische Antwort die einzig mögliche und denkbare zu sein. Dass Gewalt immer Gewalt verlängert, das führt uns der Ukraine-Krieg aber in ebenso tragischer Weise vor Augen. Pazifist_innen erinnern uns daran, auch zivile Wege der Konfliktbearbeitung, seien es Sanktionen in all ihrer Ambivalenz oder diplomatische Bemühungen, in den Blick zu nehmen.
4. Mit Blick auf zivile Wege der Konfliktbearbeitung und -lösung markiert die pazifistische Position, gerade die Stimmen, die sich selbst als christlich geprägt verstehen, eine wichtige Perspektive.
Als Institution des zivilgesellschaftlichen Protests gegen die atomare Aufrüstung waren die Stimmen der Friedensbewegung für die Bundesrepublik identitätsprägend. Die Friedensbewegung markierte auch eine moralisch-politische Antwort auf die Erfahrungen des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkrieges. Die beiden Forderungen „Nie wieder Krieg!“ und „Nie wieder Auschwitz!“ verbanden sich hier miteinander. Der Höhepunkt dieser Bewegung lag in den achtziger Jahren in den Debatten um Nachrüstung und Nato-Doppelbeschluss 1979. Unter dem Motto „Aufstehn! Für den Frieden“ gingen am 10. Juni 1982 in Bonn eine halbe Millionen Menschen auf die Straße und protestierten gegen den NATO-Doppelbeschluss. An diese Erfolge konnte die bundesdeutsche Friedensbewegung nicht mehr anschließen. Trotzdem hat die Friedensbewegung wichtige Argumentationsmuster entwickelt, die ihre Gültigkeit behalten.
5. Der christlich geprägte Pazifismus, der Bezug nimmt auf das jesuanische Ethos, macht auf die Gegengeschichten der biblischen Überlieferung wie der Geschichte aufmerksam.
Der biblische Befund zu Fragen von Krieg und Frieden, Gewalt und Gewaltlosigkeit ist divers und ambivalent. Wie in vielen anderen Lebensfragen lässt sich hier kein eindimensionaler Befund erheben. Die Bibel kennt beides: erschreckende Geschichten der vernichtenden Gewalt wie Beispiele gewaltfreier Konfliktlösung. Josef und David lassen sich als Beispiele gewaltfreier Konfliktbearbeitung genauso nennen wie die Feindesliebe des Neuen Testaments, die noch über die Nächstenliebe hinausgeht. Maximen wie Mt 5, 38–41 bedeuten gerade nicht das stille Erdulden von Gewalt, sondern vielmehr Anweisungen zu „stark-sanftem Widerstehen“ und sind damit Teil des ethischen Radikalismus Jesu (Dietrich 2020, 35).
6. Der christlich geprägte Pazifismus erinnert, dass es alternative Wege der Konfliktbearbeitung gibt, dass die Kriegs- oder Sicherheitslogik mithin nicht das letzte Wort haben muss.
Es stellt sich die Frage, ob sich Sicherheit jemals auf Kosten anderer verwirklichen lassen kann, ob nicht vielmehr gilt, dass sich Sicherheit immer nur im Zusammenspiel mit anderen umsetzen lässt. Hier liegt in der Person Wladimir Putins eine besondere Herausforderung. Trotzdem birgt die Rückkehr in die Abschreckungsspirale des Kalten Krieges große Gefahren und kann so möglicherweise keine langfristigen Lösungen generieren.
Pazifist_innen wie etwa die Arbeitsgemeinschaft Mennonitischer Gemeinden in Deutschland (AMG) wissen aber auch sehr genau um ihre eigenen Grenzen:
„Auch wir können die Menschen im Krieg jetzt nicht vor Tod und Zerstörung schützen. Auch wir haben Angst. Aber unser Glaube an die Kraft der Liebe ist stärker. Unser Vertrauen in die Macht der Gewaltfreiheit – wie sie Jesus selbst gelebt hat – ist ungebrochen. Unsere Hoffnung ist nicht zerstört, sie leitet auch jetzt unser Handeln“ (AMG 2022).
Für die aktuelle Situation politischer Entscheidungen spielen Aspekte der Sicherheit eine zentrale Rolle, diese ordnen sich ein in den Diskurs über Sicherheits- und Friedenslogik: Sicherheitslogische und friedenslogische Überlegungen, wie sie etwa Hanne-Margret Birckenbach formuliert hat, haben gemeinsam, dass sie nicht einer Kriegslogik folgen, sie haben beide das Anliegen, Krieg und andere Formen physischer Gewalt zu vermeiden. Sie setzen sich aber unterschiedlich mit dem auseinander, was in der Welt geschieht und ziehen daraus verschiedene Schlussfolgerungen. Sicherheitslogik rechnet verstärkt mit Bedrohungen und schließt dazu auch in letzter Konsequenz militärische Einsätze ein, wenn diese eine Bedrohung abwenden können. Friedenslogik nimmt das gleiche Geschehen als Konflikt wahr. Sie untersucht „Genese, Ursachen, Potentiale[…] zur Eskalation und Deeskalation, ermittelt die Bedürfnisse, Interessen und Mittel der unmittelbar oder mittelbar Beteiligten, erkennt die eigenen Interessen, Rollen und Grenzen“ (Birckenbach 2012, 43). Ausgehend von dieser Friedenslogik machen Pazifist_innen darauf aufmerksam, wie zentral vorausschauende Politik ist, welche wichtige Rolle Prävention innehat. Auch der Konflikt in der Ukraine hat eine lange und komplexe Vorgeschichte. Es stellt sich sehr berechtigt die Frage, welche Verhinderungsoptionen im Sinne einer Friedenssicherung hier vor Februar 2022 bestanden hätten.
Ein Angriffspunkt pazifistischen Nachdenkens ist oft, dass kaum empirische Erkenntnisse zu Einsätzen der zivilen Konfliktbearbeitung vorliegen. Das hat sicherlich zum einen etwas mit dem Untersuchungsfokus von Friedens- und Konfliktforschung in der Vergangenheit zu tun, liegt aber zum anderen auch am medialen Interesse, das keine kriegerische Auseinandersetzung häufig auch keine Nachricht wert ist.
Eine wichtige Aufgabe ziviler Konfliktbearbeitung indes beginnt erst nach Ende einer kriegerischen Auseinandersetzung: Nach dem hoffentlich baldigen Ende des Ukraine-Krieges wird sich dann nämlich die Frage der Friedenskonsolidierung stellen, also nach Aufbauhilfe, Entwicklungshilfe und Flüchtlingshilfe sowie Hilfen beim weiteren Aufbau und Wiederaufbau demokratischer und rechtsstaatlicher Strukturen.
7. Der Pazifismus läuft immer Gefahr, naiv oder selbstgerecht zu sein. Hier stellt die Friedens- und Konfliktforschung eine wichtige wissenschaftliche Korrekturperspektive dar.
Die Erfahrung von einem Krieg in Europa markiert einen besonderen Prüfstein pazifistischer Argumentationsweise. Waffenlieferungen aus Deutschland lassen neu nach konkreter Verantwortungsübernahme fragen. Pazifist_innen erinnern daran, dass auch die Lieferung von Waffen mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht zu einem Sieg der Ukraine, sondern nur zu einer Verlängerung der kriegerischen Auseinandersetzungen führen wird. Dieses Beispiel zeigt in besonderer Deutlichkeit, dass verantwortlicher Pazifismus niemals in reinen Gesinnungspazifismus stecken bleiben darf und dazu auf friedenswissenschaftliche Expertise und politische Einschätzungen angewiesen ist.
8. Die Stärke evangelischer Friedensethik liegt auch in Ihrem eschatologischen Überschuss, in der Hoffnung, dass die Welt nicht bleiben muss, wie sie ist.
Diese These verbindet sich mit der Frage nach der grundsätzlichen Aufgabenbestimmung christlicher Friedensethik. Mir ist es wichtig festzuhalten, dass (evangelische) Friedensethik Politikberatung betreiben kann, wo sie dafür angefragt ist, ihre Aufgabe aber vorrangig darin liegt, Orientierungswissen bereit zu stellen und in den politisch-gesellschaftlichen Diskurs einzubringen. Die konkreten politischen Entscheidungen treffen Politiker_innen und sie stehen dabei unter ganz anderen Zwängen als wissenschaftlich arbeitende Friedensethiker_innen.
Christliche Friedensethik steht in der biblischen Tradition eines eschatologischen Friedens und der Hoffnung auf das kommende Reich Gottes. Eine besondere Hoffnung christlicher Friedensethik liegt im Friedenshandeln der weltweiten Ökumene.
„,Wir müssten alle Kirchen gemeinsam dazu bringen, dass sie sich jetzt klar gegen den Krieg aussprechen.‘ [Der mennonitische Friedenstheologe, Anm. SJ] Fernando Enns ist sich [bei dieser Forderung, Anm. SJ] der Schwierigkeit bewusst, die russisch-orthodoxe Kirche zu diesem Schritt zu bringen, weil der Patriarch Putins Politik stützt. Aber er glaubt an den Auftrag der Kirche, sich über nationale Grenzen hinaus um die Menschen zu kümmern“ (Mohler 2022).
Eine wichtige Aufgabe gerade kirchlicher Friedensethik kann auch das Gebet für den Frieden sein.
Literaturverzeichnis
Arbeitsgemeinschaft Mennonitischer Gemeinden in Deutschland (AMG). 2022. “‘Könnten wir doch hören …’ – Eine Stimme aus den Friedenskirchen“, Zuletzt abgerufen: 14.06.2022. https://www.mennoniten.de/wp-content/uploads/2022/03/AMG-Ko%CC%88nnten-wir-doch-ho%CC%88ren-Ukraine.pdf.
Birckenbach, Hanne-Margret. 2012. “Friedenslogik statt Sicherheitslogik. Gegenentwürfe aus der Zivilgesellschaft“. Wissenschaft & Frieden 2012 (2): 42–47.
Dietrich, Walter. 2020. “Gewaltfreie versus gewalttätige Konfliktbewältigung im Alten Testament“. In Friedensethische Prüfsteine ziviler Konfliktbearbeitung, hg. von Ines-Jacqueline Werkner und Heinz-Günther Stobbe, 13–35. Wiesbaden: Springer.
Heinrich, Wolfgang. 2019. “Konfliktbearbeitung mit zivilen Mitteln und gewaltfreier Widerstand als politische Handlungsformen“. epd-Dokumentation 29/2019, 23–31.
Mohler, Nicola. 2022. “Wenn die Waffen sprechen, fällt die Antwort schwer“, Zuletzt abgerufen: 14.06.2022. https://reformiert.info/de/recherche/ein-konfliktforscher-und-ein-friedenstheologe-suchen-nach-der-richtigen-antwort-auf-gewalt--20549.html