Unter den vielen systematisch-theologischen Fragen, die die Klimakrise stellt, scheint jene nach dem Begriff der Sünde schon alltagssprachlich besonders naheliegend zu sein. Jeder Zeitungsartikel, der „Klimasünder“ benennt, vertritt eine implizite, wenn auch rudimentäre Hamartiologie, die den ökologischen Fussabdruck eines Menschen als sündhaft interpretiert. Deutlich weniger oft ist medial von Gnade die Rede. Der Mensch, so scheint es, wird gegenwärtig primär als homo destructor wahrgenommen, wie es im Titel einer vielgelesenen Publikation des letzten Jahres heisst: als Kraft, die auf planetarer Ebene zur Zerstörung neigt und fähig ist.
Sünde und Gnade – diese Begriffe gehören in der theologischen Tradition eng zusammen. Sie bilden ein notorisch umstrittenes und sehr unterschiedlich gefülltes, in der Geschichte der christlichen Theologie aber fast unvergleichlich einflussreiches Begriffspaar. In diesem Beitrag unternehme ich den Versuch, Möglichkeiten der Rede von Sünde und Gnade angesichts der Klimakrise nachzuzeichnen. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit skizziere ich im Folgenden einige neuere ökotheologische (und ökologiekritische) hamartiologische (Abschnitte 1 a–d) und soteriologische Ansätze (2 a–c), die in höchst unterschiedlicher Weise auf die Rede von Sünde und Gnade zurückgreifen. Dabei soll, mit Harald Welzer gesprochen, ein theologisch zentraler Teil der „mentalen Infrastrukturen“ ausgeleuchtet werden, durch die die bisherige theologische Reaktion auf die Klimakrise geprägt ist. Von dieser Analyse her benenne ich abschliessend einige Spannungsfelder, die meiner Wahrnehmung nach im Umgang mit traditionellen rechtfertigungstheologischen Motiven in einer zerstörerischen Zeit zu bedenken sind.
Der homo destructor und die Theologie.
Angewandte Hamartiologie im Kontext theologischer Klimadiskurse
In grosser Regelmässigkeit wird in theologischen Auseinandersetzungen mit der Klimakrise auf den Begriff der Sünde rekurriert. Er dient hier keineswegs nur, wie im eingangs zitierten Artikel, zur religiösen Unterstreichung moralischer Anklagen an die Adresse von „Klimasündern“, sondern findet in höchst facettenreicher und teils gegenläufiger Art und Weise Verwendung. Darin, dass man den Sündenbegriff zur Generierung eines theologischen Erkenntnisgewinns für tauglich hält, scheinen in der neueren Debatte viele einig zu sein. Bemerkenswerterweise wird dieser Erkenntnisgewinn aber inhaltlich vollkommen unterschiedlich veranschlagt.
In den folgenden Abschnitten unterscheide ich im Sinne einer nicht abgeschlossenen, aber vielleicht hilfreichen metasprachlichen Heuristik vier Verwendungsweisen der Rede von der Sünde. Diese Möglichkeiten, von Sünde zu sprechen, schliessen sich gegenseitig nicht in jedem Fall aus, sondern können auch bei derselben Autorin, demselben Autoren vorkommen. Zunächst skizziere ich eine primär motivationale Verwendung der Hamartiologie, wobei die Rede von der Sünde in der Hoffnung geschieht, dadurch zu (ökologischem) Handeln zu motivieren (a). Zweitens stelle ich verschiedene Aspekte einer analytischen Funktion der Hamartiologie vor, in der der Begriff der Sünde primär als Analysetool zur vertieften Beschreibung der Gegenwart verwendet wird (b). Drittens skizziere ich Ansätze zu einer konfessorischen Hamartiologie (c), die angesichts ökologischer Zerstörung im Modus des Bekenntnisses versucht, mit der (teils bereits erlebten, teils erst antizipierten) Schuldfrage umzugehen. Abschliessend nenne ich Beispiele für eine ökologiekritische Anwendung hamartiologischer Motive im Klimakontext, die von der Rede von der Sünde her ökologisches Engagement relativiert oder sogar problematisiert (d).
a) Motivationale Hamartiologie
In ihrer Abschlusserklärung hat die römisch-katholische Amazonassynode 2019 den Begriff der „ökologische[n] Sünde“ definiert als „eine Handlung bzw. Unterlassung, die sich gegen Gott, gegen die Mitmenschen, gegen die Gemeinschaft und gegen die Umwelt richtet. Sie ist eine Sünde gegen zukünftige Generationen.“ Von „Sünden gegen die Schöpfung“ sprach zuvor bereits die päpstliche Enzyklika Laudato Si’. Dieses Dokument wiederum zitiert recht ausführlich den ökumenischen Patriarchen Bartholomäus, der seit längerem dafür eintritt, den Begriff der Sünde – in seiner moralischen Anwendung auf Tatsünden – auch in ökologischen Kontexten anzuwenden. Ein „Verbrechen gegen die Natur zu begehen“, so der Patriarch, „ist eine Sünde gegen uns selbst und eine Sünde gegen Gott.“
Was profan nur als Umweltzerstörung erkennbar ist, benennen Kirche und Theologie in diesem primären, motivationalen und moralischen Verwendungszweck des Wortes als Sünde, als Handlung also, die (in jeweils unterschiedlich definierter Weise) mit einer gestörten Gottesbeziehung zu tun hat. Durch die Verwendung hamartiologischen Vokabulars soll eine Möglichkeit geschaffen werden, notwendige Veränderungen anzugehen. „[I]t is only by recognizing that things are not as they should be that we have a chance to do something about it“, schreibt die isländische Theologin Arnfríður Guðmundsdóttir. Die Rede von der Sünde enthalte so ein hoffnungsvolles Element: „Sin becomes a sign of hope when it symbolizes a new beginning“. Im Sinne einer solchen motivationalen Hamartiologie hat auch Peter Walker betont, Sünden müssten, damit man sie wirksam bekämpfen kann, zunächst als solche benannt werden – und hier komme der christlich-hamartiologischen Sprache eine wesentliche Aufgabe zu. „It is surely a time to resurrect the language of sin“, liest man in seinem Aufsatz The Serpent in the Garden, denn: „any abuse of the Earth must surely be named as sinful […]. Serpents should be named.“
Die Rede von der Sünde zielt hier und an vielen vergleichbaren Stellen auf transformative (Selbst-)Kritik; sie dient als „entry point for self-criticism and repentance“ (Jan-Olav Henriksen). Die Verwendung des Sündenbegriffs wird in dieser Verwendung bewusst konkret gehalten und nicht, wie es etwa die traditionelle protestantische Sündenlehre vorsieht, universalisiert. Eine solche Hamartiologie des Konkreten gewinnt, um hier schon eine Einschätzung vorwegzunehmen, an Griffigkeit gegenüber den realen Lebensvollzügen, läuft jedoch zugleich Gefahr, sowohl Klimadiskurse als auch Hamartiologie moralisch engzuführen. Weder erschöpft sich die theologische Beschreibung menschlicher Sünde im Hinweis auf konkrete Taten oder Unterlassungen noch die notwendige Reaktion auf die Klimakrise auf die Transformation von individuellem Verhalten.
b) Analytische Hamartiologie
Über die Benennung von Handlungen als sündhaft hinaus führen jene Ansätze, die den Sündenbegriff analytisch besetzen und sich dadurch erhoffen, eine religiöse Tiefendimension in den Klimadiskurs einzuführen. Wer so argumentiert, nutzt in der Regel Konzepte aus der umfangreichen hamartiologischen Tradition des Christentums als Analysetool für individuelle Verhaltensweisen und überindividuelle Strukturen der Gegenwart. Ernst Conradie, der sich in einigen Publikationen zur Thematik geäussert hat, spricht vom „Christian sin-talk“ als einem heute nützlichen „toolkit“, das er explizit auch in säkularen Zusammenhängen für relevant hält. „Christian discourse on sin may contribute to the collaborative task of what I call ‚social diagnostics‘.“
So kann etwa die Rede von der Sünde dadurch über die profane Feststellung von zerstörerischem Verhalten hinausgehen, dass sie den menschlichen Umgang mit der Mitwelt als Hybris taxiert. In diesem Sinne formuliert wiederum Peter Walker:
„[O]ne species within creation […] is exerting itself as Lord over all, displacing the Lord named in the creed.“
Die ökologischen Krisen der Gegenwart werden in dieser Deutungslinie als Symptome menschlicher Selbstüberhebung interpretiert. Die Schöpfung werde da geschädigt, so formuliert etwa auch Laudato Si’ in Aufnahme eines Gedankens von Papst Benedikt XVI., „wo wir selbst die letzten Instanzen sind, wo das Ganze uns einfach gehört und wir es für uns verbrauchen.“ Ein solcher „Verbrauch“ der Schöpfung setze da ein, „wo wir keine Instanz mehr über uns haben, sondern nur noch uns selber wollen.“ So zu argumentieren, bedingt keine spezifisch christlich-theologische Perspektive: Auch der Kulturgeograph Werner Bätzing beschreibt in seiner Darstellung des homo destructor, der moderne Mensch sei in besonderer Weise in Gefahr, „eine grenzenlose Überheblichkeit zu entwickeln und sich schliesslich als allmächtiger Gott zu fühlen“.
Nicht identisch, aber analog ist die Argumentationsweise jener Stimmen, die Sünde auch im ökotheologischen Kontext als Götzendienst fassen wollen und die Umweltzerstörung unserer Zeit auf einen falschen Transzendenzbezug zurückführen. So fungiert Wachstum („Growth“) bei Conradie als Götze der Moderne und der ihn verehrende „[c]onsumerism“ als implizite Religion unserer Zeit. „[W]e have embraced a false transcendence“, analysiert auch der australische Theologe Scott Cowdell. Aus seiner Perspektive wirken sich im Anthropozän die Konsequenzen der ursprünglichen Zerstörung der Gottesbeziehung aus, der Erbsünde. Eine solche Zugriffsweise auf den Sündenbegriff zielt nach Jan-Olav Henriksens Zusammenfassung darauf, einen Diskursraum darüber zu eröffnen, was es angesichts ökologischer Herausforderungen heisst, anstelle innerweltlicher Größen an den christlichen Gott zu glauben.
Über diese Analyse des individuellen (oder überindividuellen, durch Gruppen vermittelten) Gottesverhältnisses hinaus gehen alle Argumente, in denen angesichts der Klimakrise von struktureller Sünde gesprochen wird. Eine individualistische Hamartiologie, so wird oft betont, greife zu kurz. Markus Vogt schreibt, eine „ökologische und entwicklungspolitische Ethik der Umkehr“ brauche
„im Kern nicht bessere Begründungen ihrer Imperative, sondern eine genauere Analyse der Situationen von Verstrickung in Abhängigkeit und ‚strukturelle Sünde‘ […], aufgrund derer wir nicht tun, was wir tun sollten und als richtig erkennen.“
„[S]tructural evil“ zu erkennen, es von individuellem, intentionalen Fehlverhalten zu unterscheiden und es als solches zu bekämpfen ist auch ein zentrales Anliegen Cynthia Moe-Lobedas. Das theologische Konzept der strukturellen Sünde ermögliche es, problematische Strukturen schärfer zu erkennen und vertieft zu beschreiben. Zu beachten ist dabei, dass es diesen Stimmen in der Regel nicht um eine metaphysische Interpretation einer institutionsunabhängigen strukturellen Sünde als solcher geht, sondern um eine Analyse menschgemachter – und letztlich auch menschlicher agency unterliegender – sündhafter Strukturen. In diesem Zusammenhang ist auch auf aktuelle Versuche hinzuweisen, den Begriff der Sünde mit jenem der Verstrickung zu kombinieren, wie es eben schon bei Vogt zu beobachten war. Gelegentlich begegnet auch die (aber keineswegs zwingende) semantische Verknüpfung von struktureller Sünde und Erbsünde.
Auch die Nutzung des Sündenbegriffs in diesem analytischen Sinn ist dabei nicht auf den Raum der konfessionellen Theologien beschränkt. Die deutsche Philosophin Ana Honnacker schlägt in Anschluss an Habermas‘ Konzept einer übersetzenden Wiedergewinnung religiöser Sprechweisen vor, den Begriff der Sünde auch in säkularen Kontexten zu verwenden. Bedeute Sünde nach einem „klassischen christlichen Verständnis“ die in einer „mangelnden Ansprechbarkeit“ des Menschen begründete „Verletzung einer Beziehung (nämlich des Menschen zu Gott)“, könne heute durch den Sündenbegriff Analoges zum Verhältnis des Menschen zur „Natur“ ausgesagt werden. Den sündigen, von der Natur abgesonderten Menschen prägt nach Honnacker ein „Mangel an Ansprechbarkeit von ‚Nicht-Menschlichem‘“. Honnackers Überlegungen zielen auf ein starkes motivationales Element, nämlich auf eine Wiedergewinnung des Gefühls der Scham als einem „Antrieb moralischer Bewusstseinsbildung“ im Kontext der Klimakrise. Dabei begegnet bei ihr ein bewusst formal (und säkular) gehaltener Sündenbegriff, der einen Erkenntnisgewinn unter programmatischer Absehung von möglichen theologischen Assoziationen – sie spricht diesbezüglich von „Ballast“ – bieten soll. Insbesondere hält sie es für ausgeschlossen, von „Buße, Vergebung etc.“ zu sprechen; dieser Aspekt habe in „säkularen ökologischen Kontext (zu Recht) keinen Platz“.
c) Konfessorische Hamartiologie
Ein dritter Verwendungszweck hamartiologischer Motive im Klimakontext besteht darin, angesichts des menschlichen Zerstörungshandelns Schuldbekenntnisse zu formulieren oder einzufordern. Auch diese zielen notwendig auf eine Verhaltensänderung, enthalten also ein motivationales Moment. Sie nutzen jedoch zusätzlich in ihrer konfessorischen Sprache einen Aspekt traditionell-christlicher Rede von der Sünde, der bei direkten ethischen Applikationen oft unsichtbar bleibt.
2010 veröffentlichte Ernst Conradie einen Aufsatz, der Potentiale und Grenzen der Rhetorik christlicher Schuldbekenntnisse im Klimakontext auslotete. Sein Text behandelte – allerdings erst als Problemanzeige und in Frageform – Subjekt, Objekt und Kontext möglicher Bekenntnisse individueller und kollektiver Schuld im Klimakontext und ist insgesamt einer grossen Skepsis gegenüber vorschneller konfessorischer Rede geprägt. Bekenntnissprache sei im Klimakontext nur legitim, wenn sie mit Verhaltensänderungen einhergehe; Luthers Pecca fortiter sei im Kontext der Klimakrise „more dangerous than ever before“. Nur vorsichtig spricht Conradie davon, dass das Bekenntnis zur eigenen Mitschuld an der Klimakrise eine befreiende Wirkung haben könne.
„[W]e may recognise that we need not to be burdened with doing God‘s work, that what holds the ecclesial community together is not common moral activity“.
Unter Bezug auf Barth und Bonhoeffer liest man bei Conradie: „Confession allows people to be who they are: forgiven sinners before God“. Sogleich folgt jedoch die Einschränkung: „The question is whether this is also true in the context of climate change.“ Sicher ist für Conradie nur, dass jede mögliche Vergebung ökologischer Zerstörung durch die gegenwärtigen und zukünftigen Opfer (current and future victims) die Schuldanerkennung der Täter (perpetrators) voraussetzt. Erst auf dieser Basis könne es zur Anerkennung der Tatsache kommen,
„that we are all sinners, whether with a large or a small carbon footprint, that confessio is more appropriate than mutual accusations and that we are all in need of God‘s liberating word of forgiveness.“
Ein zweites Beispiel für die Anwendung klassischer Bußtheologie im Klimakontext findet sich in Dianne Raysons Buch Bonhoeffer and Climate Change. Vor der aktiven politischen Arbeit der Kirchen situiert sie mit Bezug auf Bonhoeffer die Aufgabe, die eigene Sünde anzuerkennen. Die Kirchen müssten ihre Komplizenschaft in ungerechten Systemen bekennen („confess“). Erst dann – und parallel zum darauf folgenden ethisch-transformativen Engagement – könne legitimerweise vom Sieg Christi über die Ungerechtigkeit gesprochen werden. In Anlehnung an Bonhoeffer schreibt Rayson:
„Only by confessing such complicity, as well as suffering with and on behalf of the victims of it, can the church-community legitimately proclaim Christ and Christ‘s victory over injustice and suffering“.
Ein drittes, sehr anders argumentierendes Beispiel sei ebenfalls genannt: In einem Essay Confessing Anthropocene hat Stefan Skrimshire, Theologe und Religionswissenschaftler in Leeds, die Verwendung eines „confessing tone“ vorgeschlagen und reflektiert. Anlass ist bei Skrimshire das spezifische kommunikative Problem, wie zukünftige Generationen vor der Existenz hochradioaktiver Abfälle aus dem 20. und 21. Jahrhundert gewarnt werden können. Um einen solchen Bekenntniston zu finden, möchte Skrimshire auf die sprachlichen Möglichkeiten religiöser Traditionen zurückgreifen. Er fordert eine „theology of repentance – which signifies not only one‘s personal guilt but that of others and perhaps of all humanity“. Es gehöre zu den heutigen Aufgaben grosser religiöser Traditionen, das ökologische Trauma („ecological trauma“) der Schöpfung zu reflektieren und sakramental („sacramentally“) zu bearbeiten.
d) Ökologiekritische Hamartiologie
In allen bisher vorgestellten Ansätzen wurde die Rede von der Sünde dazu benutzt, angesichts der Klimakrise ökologisch problematisches Verhalten zu bekennen, zu analysieren und zu transformieren. Der Rückgriff auf traditionell-theologische Hamartiologie kann aber auch, geradezu umgekehrt, im Sinne einer Kritik an solchen ökotheologischen Positionen erfolgen.
Zunächst gibt es Stimmen, die Sünde ebenfalls als Hybris verstehen, menschliche Selbstüberhebung aber nicht primär in der Umweltzerstörung, sondern in der ökologischen Bewegung selbst am Werk sehen. Die Klimabewegung, so argumentiert etwa Ralf Frisch, traue „Gott nichts, dem Menschen alles zu[…]“. Man könne, wie er kritisch schreibt, „nur staunen, wie wenig den sozialmoralischen Apokalyptikern innerhalb und außerhalb des Christentums unserer Tage die Anthropodizeefrage und die Sündenlehre in den Sinn“ kämen. Oftmals begegne eine implizit „pelagianische“ Hamartiologie, die davon ausgehe, „dass der von Natur aus gute Mensch die Sünde ohne weiteres durch moralische Anstrengung […] überwinden und aus der Welt schaffen“ könne. Die Einsicht in die Tiefe der menschlichen Sünde wird hier nicht als movens, sondern als Begrenzung und Relativierung menschlicher Aktivität behandelt.
Anders gelagert (und in akademisch-theologischen Diskursen reichlich apart) ist der Versuch, die Klimakrise als göttliche Strafe für menschliche Sünden zu interpretieren und so ihre ökologisch motivierte Bekämpfung zu delegitimieren. Recht ausführlich referiert Henriksen die Nutzung des Sündenbegriffs „to defer and deflect political action and environmental concern“. Dieses hamartiologische Motiv findet sich, wie Henriksen unter Bezugnahme auf die Religionswissenschaftlerin Robin G. Veldman schreibt, besonders bei evangelikalen Klimaskeptikern. So verwendet führt die Rede von der Sünde dazu, dass ökologische Probleme nicht mehr als Probleme eigenen Rechts, sondern als religiöse Probleme wahrgenommen werden. Dieser offenkundige Abweg christlicher Hamartiologie im Klimakontext kann, wie auch Henriksen betont, davor warnen, Sünde in kausaler Weise mit der Klimakrise zusammenzudenken und daran erinnern, dass eine hamartiologische Problembeschreibung keine erschöpfende Darstellung und Deutung der Klimakrise bieten kann.
Ganz grundsätzlich, also unter Absehung von dieser letzten Verwendungsweise, impliziert die Rede von der Sünde im Klimakontext bereits die Frage nach der Rede von Gnade und Versöhnung. Sünde als isoliertes Konzept bliebe, zumindest theologisch betrachtet, ein Torso. Die Rede von der ökologischen Sünde provoziert die Frage danach, ob es auch in diesem Kontext Versöhnung geben kann. Die folgenden Abschnitte sind daher der Rede von der Gnade angesichts der ökologischen Krisen der Gegenwart gewidmet.
Simul iustus et destructor?
Ansätze zur Rede von Gnade und Versöhnung im Horizont der Klimakrise
Was bedeutet es, im Kontext der Klimakrise an einen gnädigen Gott zu glauben?
So zu fragen, ist nicht ohne Risiko. Die traditionelle Rechtfertigungslehre, besonders jene protestantischer Prägung, steht in ökotheologischen Diskursen vielleicht mehr denn je im Verdacht, der Salvierung geplagter Gewissen bei identischen äusseren Umständen und Verhaltensweisen zu dienen; sie wird also verdächtigt, auch unter den Bedingungen des Anthropozän, wie der Vorwurf bekanntlich bereits im Heidelberger Katechismus paraphrasiert wurde, „sorglose und verruchte Leute“ zu machen. Bruno Latour formuliert in unabweisbarer Zuspitzung und unter Anspielung auf Mt 16,26: „What use is it if you save your soul, if it means losing the world?“ Eine Lehre von Gnade und Versöhnung, die bloss entlastete, die allein rechtfertigte, wird daher im in den letzten Jahren stark gewachsenen Schrifttum zur Soteriologie aus ökologischer Perspektive in grosser Regelmässigkeit zurückgewiesen. Sehr oft begegnet im Kontext dieser Zurückweisung Bonhoeffers Kritik an einer billigen Gnade. Ökosensible Soteriologien zielen in dieser Argumentationsweise, ganz analog zu einigen der hier vorgestellten hamartiologischen Ansätze, nicht primär auf die entlastenden Potentiale der Rechtfertigungslehre, sondern auf ihre transformativen Elemente, konkret: auf die Motivation zu ökologischem Handeln. So argumentierende Texte werden im Folgenden zuerst vorgestellt (a). Zweitens wird ein Blick auf Argumentationsmuster geworfen, die in Namen der Gnade eine Anerkennung eigener Grenzen befördern möchten, der Rede von der Gnade also eine tendenziell entlastende Funktion zuzuschreiben (b). Und drittens werden einige Stimmen wiedergegeben, die, um in ökotheologisch sensibler Weise von Gnade sprechen zu können, traditionell-theologisches Rechtfertigungsdenken bewusst schöpfungstheologisch erweitern und daher von der aussermenschlichen Natur als Gnade sprechen wollen (c).
a) Motivationale Aspekte der Rede von der Gnade
Im Sinne eines transformativen, motivationalen Zugriffs auf die Rechtfertigungslehre hat Scott Cowdell vorgeschlagen, Gnade nicht als forensischen, sondern als therapeutischen Prozess zu fassen:
„[G]race works like therapy. It involves the revelation of what constitutes health in a system, along with what is distorted and dysfunctional.“
Sich von Gottes Gnade leiten zu lassen, bedeutet dann im heutigen Kontext, die Folgen ökologischer Sünde zu erkennen und zu bekämpfen. Die Unterscheidung von menschlichem Handeln und göttlicher Gnade schenke dem Menschen, schreibt Michael Rosenberger, die „Freiheit, die er braucht, um sich wirklich mit Haut und Haaren zu engagieren.“ „Maximales Engagement für den Klimaschutz“ sei daher explizit auch dann die „einzig richtige Handlungsoption, wenn abzusehen wäre, dass das derzeit angestrebte Zwei-Grad-Ziel verfehlt wird“. Der aus der Gnade lebende Mensch könne die Zukunft nicht „machen“, sondern nur „demütig empfangen – wenn er alles getan hat, was er tun kann“. So gefasst zielt die Rede von Gnade ab ovo auf eine Transformation individueller Verhaltensweisen.
Neben einem solchen ethischen Maximalismus finden sich Versuche, die (v.a. protestantische) Rede von der Gnade als Begründung für eine lebensweltliche Konzentration auf das Wesentliche, Notwendige anzuführen. Torsten Meireis beschreibt, Gottes Gnade ermögliche die Freiheit von „Selbstperfektionierung“, von der „Fixierung auf die Wertschätzung durch andere Menschen“ sowie von dem Ziel der „Selbstdurchsetzung“. Daraus ergebe sich
„eine lebensweltliche Affinität zur Suffizienzorientierung, die der Idee ständig erhöhten Distinktionskonsums, ständig wechselnder Produkte und erhöhter Ressourcendurchsätze widerstreitet. Das gute Leben besteht in dieser Sicht eben nicht in immer aufwendigeren Erlebnissen, sondern in der Erfahrung derjenigen Genüge, die es erlaubt, dem Ziel des guten Lebens, des Dienstes am Nächsten nachzugehen.“
Aus der Anerkennung durch Gott heraus wird es möglich, klimaschädliche innerweltliche Anerkennungshandlungen zu unterlassen – ein gerade für protestantische Ohren bestechendes und daher auch anderswo begegnendes Argumentationsmuster. In Gottes Liebe hat die Glaubende nach Ruth Gütter bereits „alles, was nötig ist“. Sie muss daher „nicht länger auf Kosten anderer leben und sich selbst inszenieren“, sondern lebt aus einer Fülle, „über die hinaus es eigentlich nichts weiter braucht“. Der motivationale Aspekt dieser Rede von Gnade kommt auch bei Gütter deutlich zum Tragen: Gnade sei, wie sie explizit schreibt, „kein Ruhekissen, auf dem die Glaubenden sich ausruhen sollen“. Christ:innen sei es durch Gottes Gnade ermöglicht, angesichts der Erfahrung steten Zurückbleibens hinter den eigenen Ansprüchen nicht zu verzweifeln, sondern „auch bei Rückschlägen und Fehlern immer wieder von vorn [zu] beginnen.“
In diesem letzten Zitat ist bereits ein weiteres Motiv erkennbar, das sich in neueren ökotheologischen Diskursen ebenfalls mit der Rede von der Gnade verbindet, wenn auch auffallenderweise nur gelegentlich: die Ermöglichung des Anerkennens eigener Grenzen, auch und gerade im ökologischen Handeln.
b) Gnade als Anerkennung eigener Grenzen
Gnade, so verstanden, ist nach Markus Vogts Formulierung zwar „keine Rechtfertigung der Passivität“, ermöglicht jedoch durchaus „eine gewisse Gelassenheit und Distanz gegenüber einer Selbstüberforderung durch maximalistische Postulate“. Gnade motiviert in diesem semantischen Zugriff nicht nur, sondern relativiert und beschränkt alles menschliche Handeln. Vogt hält fest, die „Balance zwischen hohem Anspruch und Gelassenheit im Bewusstsein der eigenen Grenzen“ sei „ein wichtiger Zugang christlicher Ethik zu den oft als Überforderung empfundenen ökosozialen Imperativen einer zukunftsfähigen Gesellschaft“. Die Kirchen seien im Klimakontext gerade nicht als „Moralagenturen“ gefordert, „die sozialökologische Imperative mit dem Anspruch auf autoritäre Weisungsbefugnis theologisch unterfüttern“. Ihre „spezifische Kompetenz“ liege vielmehr in der „Botschaft der Befreiung“ und dem „Lobpreis der Schöpfung“.
Auch Hilda P. Koster sieht in der (protestantischen) Rechtfertigungsbotschaft Potentiale für den Umgang mit moralischen Zusammenbrucherfahrungen angesichts der Klimakrise. Im Zuspruch der Gnade komme es zu einer umfassenden Neuausrichtung:
„[T]he collapsed moral universe is replaced by the abiding presence of Christ in whom we live and have our being.“
Das führe nicht zu Untätigkeit, wie eine enggeführt-forensische Rechtfertigungslehre behaupten könnte, sondern erhöhe umgekehrt den Hunger und Durst nach Gerechtigkeit. Bemerkenswert an Kosters Argumentation ist, dass sie die Relevanz der Rede von der Gnade nicht etwa primär durch deren faktische Verbreitung im christlichen Kirchen (und Lehrgebäuden) begründet, sondern inhaltlich, also aufgrund einer dadurch potenziell zu gewinnenden neuen Perspektive auf Klimadiskurse:
„[T]he doctrine of justification […and] its vocabulary of grace is worth rescuing from its ecological despisers. This is the case not only or even primarily because it is the grammar of faith familiar to many faith communities, but most of all because its experiental dimension speaks to climate change-related anxiety and apathy in deep and meaningful ways.“
Ebenfalls ohne dadurch moralische Aspekte des Lebens aus der Gnade zurückzuweisen, aber unter erkennbarer Relativierung der ethischen Ansprüche, schreibt schliesslich Joseph Martin-Schramm, gerade die klassische Rechtfertigungslehre
„empowers Christians to live out their vocation. We are not justified by our works to ‘save the planet’. Instead, our justification by grace through faith enables us to make our faith active in love through the care and redemption of all that God has made.“
Bei allen drei in diesem Abschnitt zitierten Autorinnen und Autoren bleiben die ökologischen Imperative bestehen; sie werden jedoch zugleich rechtfertigungstheologisch eingeklammert und sozusagen kanalisiert. Sie dienen nicht der Rechtfertigung des Sünders, sondern dem Dienst an der Mitwelt. Sie sind nicht Voraussetzung, sondern Folge der Gnade. „[R]edemption“, Versöhnung, erscheint hier, wie im letzten Zitat erkennbar, in zweifacher Gestalt: Implizit als Versöhnungsprozess einer durch die Sünde gestörten Gottesbeziehung; explizit im Kontext der „care“ für „all that God has made“. Wo immer die klassische Indikativ-Imperativ-Struktur ökotheologisch gewendet wird, begegnen im Resultat analoge Denkfiguren.
Erwähnenswert ist allerdings auch in diesem Kontext, dass die protestantische Konzentration auf die Gnade wiederum dazu herangezogen werden kann, im Namen der Gnade bzw. des Evangeliums grundsätzliche Kritik an der Ökotheologie zu üben. So führte Ulrich Körtner die Unterscheidung zwischen Gesetz und Evangelium, „zwischen dem Zuspruch und dem Anspruch Gottes“ ins Feld, um angesichts der ökologischen Bemühungen der EKD vor einer „neuen Gesetzlichkeit“ zu warnen. Auch hier dient die Rede von der Gnade der Entlastung, aber in weitergehender Weise als in den eben wiedergegebenen Texten. Gleiches gilt für den bereits oben zitierten Text von Ralf Frisch, der in der Klimabewegung eine implizite Soteriologie erkennen möchte, „allerdings eine[…] Soteriologie des sich am Ende selbst erlösenden messianischen Menschen“. Dagegen erhebt er im Namen der klassisch-protestantischen Rechtfertigungslehre Einspruch. Die Ambiguität des Gnadenbegriffs der bisher zitierten Stimmen, die Zuspruch und Anspruch angesichts der ökologischen Krisen der Gegenwart in neuer Weise zusammenzudenken bemüht waren, wird von den zuletzt zitierten Autoren der Tendenz nach in Richtung der Entlastung individueller Verhaltensweisen aufgelöst.
c) Natur als Gnade
Die beiden letzten Abschnitte haben deutlich gemacht, wie unterschiedlich bereits die Motivik klassisch-soteriologischen Denkens im Klimakontext verwendet werden kann. Im Folgenden werden, darüber hinausgehend, Ansätze zur grundlegenderen Transformation theologischer Gnadenkonzeptionen präsentiert.
In vielen ökotheologischen Ansätzen kehrt das in der Geschichte der Soteriologie als Teilgebiet der Dogmatik schon oft kontrovers behandelte Begriffspaar Natur und Gnade in deutlich anderer Semantik wieder. Konkret wird vorgeschlagen, den Begriff der Gnade in verschiedener Hinsicht über die (rechtfertigende) Beziehung zwischen Gott und Mensch hinaus zu verbreitern. Oft ist dabei das Ziel, die extra nos-Struktur der Gnadentheologie zu bewahren, die Soteriologie aber enger als bisher mit der Schöpfungslehre zu verweben. Die Schöpfung als solche ist in dieser Perspektive, um mit Joseph Sittler einen ökotheologischen Pionier zu zitieren, das „theater of God’s grace“. Der Glaube an Jesus Christus mache es möglich, so war Sittler überzeugt, den gnadenhaften Charakter der gesamten Schöpfung zu erkennen und in angemessener Weise darauf zu reagieren.
Sittlers Ansatz findet in der neueren Ökotheologie einige Parallelen. Besonders einprägsam ist Jay McDaniels Unterscheidung zwischen ‘roter’ und ‘grüner’ Gnade. Neben die „red grace“, die es mit der Transformation von Leid und Schuld zu tun hat, tritt bei ihm die Rede von der „green grace“, die sich unverdient und in der Schönheit der Schöpfung zum Ausdruck bringt. „Green grace occurs when we enjoy rich bonds with people, plants and animals, and the Earth.“ McDaniel spielt beide Weisen, von Gnade zu sprechen, nicht gegeneinander aus, sondern hält sie für komplementär: „Red grace without green grace is morbid […], green grace without red grace is naive“. Der Begriff der Gnade wird in diesem Ansatz bewusst von der Fixierung auf die Vergebung von Sünden gelöst und mit einer neuen Wahrnehmung der Schöpfung verbunden:
„Green grace […] helps us revel in beauty. […] The world cannot be saved by moral earnestness alone. It must also be saved by delight in beauty.“
Mit diesem Ansatz verwandt ist der Versuch Terra Schwerin Rowes, den Begriff der Gnade ökotheologisch als Dankbarkeit zu reformulieren und so ebenfalls aus einer als enggeführt empfundenen Rechtfertigungstheologie zu befreien.
Naturphänomene als Gnade anzusprechen ist auch eine Pointe in Willis Jenkins’ Monographie Ecologies of Grace. Jenkins argumentiert, die Rede von der Gnade sei in der Lage, ein Bewusstsein dafür aufrecht zu erhalten, was verloren gehe und zerstört werde, und könne so ein gegen diese Zerstörung gerichtetes Handeln motivieren. Das Erlebnis gnadenhafter Versöhnung und die Restauration zuvor zerstörter Lebensräume werden dabei bewusst in eins gesetzt, wie Jenkins mit einem (eigenen) Predigtausschnitt illustriert:
„our acts of restoration are the very ways God restores us to the covenant ecology of abundant life. […] We are offered forgiveness as the bird returns with an olive branch and the waters stir with life once more.“
Auch diese Form der Gnadentheologie zielt auf die Motivation zu ökologischem Handeln. Auf derselben Linie und unter Bezugnahme auf McDaniel und Jenkins schlägt schliesslich auch Henriksen in seiner Theological Anthopology in the Anthropocene vor, Gnade und Natur enger als bisher zusammenzudenken:
“In much theology, nature is seen as the opposite of grace, thus suggesting that God’s work for salvation is not connected to the conditions given with creation. However, such a notion overlooks the fact that God’s salvation restores the conditions for human life and flourishing in creation.“
Gnade erscheint bei Henriksen nicht als Voraussetzung, sondern als Konsequenz des menschlichen Einsatzes für intakte Ökosysteme. Nur „[a]s long as the human footprint and its impact on the globe remain restricted, so can the possibilities for experiencing grace continue.“ Die Erfahrung der Gnade in der aussermenschlichen Natur könne daher angesichts fortgeschrittener, hamartiologisch beschreibbarer Mitweltzerstörung auch ausfallen. Henriksen mahnt:
„[A]t some point, instances of grace can and will become obscured by the sin-shaped and sinful impact of human agency on the planet. Human agency may both foster and impede the chances for grace to become experienced and contribute to the flourishing of life.“
Auszuhaltende Spannungsfelder.
Zur Kompetenz der Theologie im Klimadiskurs
Schon diese knappen Einblicke in jüngere und zeitgenössische Diskurse machen deutlich, dass die Anwendungsmöglichkeiten hamartiologischer und soteriologischer Motive des Christentums im Kontext der Klimakrise ausgesprochen pluriform sind. Das ruft die Theologie in die Verantwortung. Die Elastizität theologischer Begriffe ist – gerade im Kontext drängender Probleme und ökologischer Krisenwahrnehmungen – Chance und Risiko zugleich.
Konkret stellt sich hier nach meiner Wahrnehmung die Frage, wie einerseits die (Weiter-)Entwicklung einer situations- und sachadäquaten Ökotheologie gelingen kann, ohne andererseits in rein instrumentaler Weise auf theologisches Vokabular zuzugreifen. Angesichts dieses Spannungsfelds hat Meireis formuliert, gegenwärtige Artikulationen der christlichen Botschaft könnten nur dann „Instrumente zur Förderung der Nachhaltigkeit“ werden, wenn ihre Instrumentalität stets eine „sekundär[e]“ bleibe. „Als bloße Mittel zum Zweck würden theologische Erwägungen manipulative Ideologie.“ Stattdessen müsse stets der „Zusammenhang mit dem Eigensinn der Theologie“ gewahrt bleiben.
Diese Formulierung erweist sich jedoch vor dem Hintergrund des obenstehenden Tableaus hamartiologischer und soteriologischer Denkmöglichkeiten als Verlagerung des Problems. Sie stellt die Frage nach der Deutungsmacht: Wer bestimmt, wo der „Eigensinn der Theologie“ endet? Die Grenze zwischen legitimer und illegitimer Transformation der Rede von Sünde und Gnade wird von den zitierten Autor:innen jeweils ganz unterschiedlich angesetzt. Die Frage, wie im Klimakontext legitimerweise von Sünde und Gnade gesprochen wird, verweist somit auf die metatheoretische Frage nach der spezifischen Kompetenz der Theologie im Klimadiskurs insgesamt. Ich schliesse daher mit einigen sehr subjektiven Beobachtungen und Vermutungen über den „Eigensinn der Theologie“ im Bereich der Rechtfertigungslehre und der ihr inhärenten Spannungsfelder.
Meines Erachtens kann die christliche Logik von Sünde und Gnade durchaus, wie es oft geschieht, zur Begründung und Motivation transformativen Handelns angesichts der Klimakrise herangezogen werden. Solche motivationale Rede von Sünde und Gnade dürfte jedoch vor allem dann weiterführend wirken, wenn sie nicht bloss der religiösen Amplifikation moralischer Ansprüche dient, sondern eigene, christlich-theologische Perspektiven und Pointen in den Klimadiskurs einbringt. Mit Bezug auf die Rede von der Sünde nutzt die Theologie also idealerweise ihre eigene Motivik, um eine als problematisch empfundene (individuelle und soziale) Situation zu analysieren und so Möglichkeiten zu ihrer Transformation aufzuzeigen. Sie nimmt die Ursachen der Klimakrise dann nicht hin, sondern benennt sie als Sünde – strukturell und individuell, liturgisch wie (gegebenenfalls) politisch.
Dabei hat die Theologie m.E. jedoch drei Dinge zu beachten. Erstens müssen ihre hamartiologischen Realitätsbeschreibungen, wollen sie einen diskursiven Gewinn darstellen, phänomenologisch überprüfbar bleiben. So müssen sich etwa die Deutungen ökologischer Sünde als Hybris oder als ‘Götzendienst’ die Frage stellen lassen, ob sie nicht gerade die Nicht-Intentionalität und die scheinbare Harmlosigkeit alltäglicher Treiber der Klimakrise verhüllen. Der theologischen Hamartiologie ist angesichts der ökologischen Krisen der Gegenwart unter anderem die Aufgabe gestellt, den „Extremismus der Normalität“ (Bernd Ulrich) zu analysieren und zu problematisieren. Wo sich die herkömmliche Motivik theologischer Hamartiologien dabei als nützlich erweist und wo sie der Transformation bedarf, ist stets neu zu entscheiden. Dass der „homo consumens“ (so u.a. Celia Deane-Drummond) in aller Regel gerade kein willentlicher und bewusster homo destructor ist, gilt es jedenfalls auch hamartiologisch zu reflektieren. Gerade in dieser Situation könnte der Sprechakt des (individuellen oder kollektiven) Schuldbekenntnisses angesichts der ökologischen Zerstörung neue diskursive Relevanz gewinnen, indem er Sünde überhaupt erst als solche enthüllt und performativ erfahrbar macht.
Zweitens befindet sich jede Hamartiologie im Spannungsfeld zwischen anthropologischer Universalisierung und moralischer Konkretisierung. Wie verhält sich der Status ‘des’ Menschen als Sünder bzw. als Sünderin zur Problematisierung konkreter Handlungen? Wo hat die Rede von der Sünde ihren Ort – im Allgemeinen oder im Konkreten? Der neuere ökotheologische Diskurs legt m.E. offen, dass diese Frage nur mit hohen Folgekosten vereinseitigend zu entscheiden ist. Eine vorschnell universalisierte Rede von der Sünde tendiert in problematischer Weise zur Sprachlosigkeit angesichts der realen (und keineswegs von jedem Menschen in gleichem Maße mitverursachten) Zerstörung von Lebensgrundlagen, während eine einseitig moralisch konkretisierende Verwendung des Sündenbegriffs die soteriologischen Grenzen alles menschlichen Handelns aus dem Blick zu bekommen droht und Gefahr läuft, auch die Rede von der Gnade in moralisch-synergistischer Weise engzuführen.
Nicht zuletzt dürfte es drittens dürfte es auch hamartiologisch weiterführend sein, die traditionell-theologischen usus legi deutlich voneinander abzugrenzen. Ökologisches Handeln und der Kampf gegen die Klimakrise gehören in das grosse, wichtige, aber vorletzte Gebiet des tertius usus legis, der Ethik der Dankbarkeit. Sie restituieren ebensowenig eine durch die Sünde angegriffene Gottesbeziehung wie ihr Ausbleiben Auswirkungen bezüglich des Heils eines Menschen nach sich zieht. Weder ‚retten‘ sie noch zeigen sie, etwa im Sinne des syllogismus practicus, Rettung an. Sie sind, theologisch-innenperspektivisch beschrieben, Fortwirkungen schon erfahrener Rettung durch Gott. Das bedeutet zugleich, dass die ökologischen Konsequenzen des eigenen Lebens den durch die Gottesbeziehung geprägten Wesenskern eines Menschen nicht zu verändern vermögen.
Eine theologische Hamartiologie im Klimakontext muss sich daher ihrer eigenen Begrenzung durch die Soteriologie bewusst sein. Henriksen sieht die normative Funktion der Rede von der Sünde grundsätzlich beschränkt: „The notion of sin can provide insight into what we should not do, at best“. Ob man diese Wahrnehmung in ihrer Radikalität teilt oder nicht: eine gnadentheologisch fundierte Position kann wohl in der Tat in anderer Weise orientierungsstiftend wirken als eine, die primär von zu überwindender Sünde spricht. Es stellt sich daher die Frage nach einer sach- und situationsangemessenen Rede von Gnade.
Persönlich halte ich es durchaus für legitim und weiterführend, theologisch von Gnade zu sprechen, um – über die Formulierung ethischer Ansprüche hinaus – zu einem Leben in der von Gott Geschenkten Freiheit vor den Imperativen des Konsums einzuladen. Zentral scheint mir aber zu sein, dass die Theologie auch in ihren motivationalen Zugriffen auf soteriologische Motive nicht bloss der (nachträglichen) religiösen Begründung ökologischer Verhaltensmuster dient, sondern danach strebt, in bestehenden Klimadiskursen zu neuen Denkmöglichkeiten zu verhelfen. Von Gnade zu sprechen, kann m.E. in bisher noch wenig ausgeloteter Weise nützlich sein, um Gefühle von Fatalismus und Überforderung im Kontext des ethischen Maximalismus vieler ökologischer Bewegungen zu benennen und theologisch zu integrieren. An die Gnade zu glauben, bedeutet auch, in neuer Freiheit anzuerkennen, dass der Mensch auch in seinem Engagement Grenzen hat. Soteriologische Motive können so angesichts von activism fatigue und eco-anxiety eine Funktion erhalten, die über die ethische Aktivierung von Christinnen und Christen hinausweist.
Die Rede von der Gnade befindet sich dabei jedoch, wie deutlich wurde, in einem steten, weiteren Spannungsfeld, das es im Kontext der Klimakrise in neuer Weise auszuhalten und zu reflektieren gilt. Eine wiederum enggeführte Soteriologie der Gnade liefe Gefahr, problematische Zustände implizit zu legitimieren. Aus befreiungstheologischer Sicht wurde schon oft auf diese Gefahr gerade protestantischer Soteriologien und ihrer Betonung der Rechtfertigung allein aus Glauben hingewiesen. Spricht man in von struktureller Sünde geprägten Situationen „ohne irgendeinen Bruch, ohne das Antlitz des Opfers zu betrachten, einfach von Vergebung“, so formuliert die mexikanische Theologin Elsa Tamez, dann ist die Botschaft von der Rechtfertigung „eine gute Nachricht für den Unterdrücker“. Diese Gefahr besteht angesichts der Klimakrise m.E. in besonderer Weise.
Ein Ansatz des Umgangs mit diesem Spannungsfeld könnte in der Tat darin bestehen, die Rede von der Gnade unter Neubestimmung des Verhältnisses von Gnade und Schöpfung zu erweitern. Der Versuch, gnadentheologische Strukturelemente – Geschenkhaftigkeit, extra nos, pro me bzw. nobis, Dankbarkeit – schöpfungstheologisch zu reformulieren und ‘rote’ so, mit McDaniels Unterscheidung, durch ‘grüne’ Gnade zu ergänzen, ist, auch wenn man terminologisch anders votieren mag, grundsätzlich interessant. Solche Reformulierungen gewinnen meiner Meinung nach dann an Konturschärfe, wenn sie deutlich machen, wer das Subjekt so beschriebener Gnade ist. Dienen sie direkt, also im Sinne einer ‘primären Instrumentalität’, der Motivation ökologischen Handelns durch Menschen, dann fällt eine entscheidende Pointe christlicher Soteriologie aus. Spricht die Theologie hingegen von der unverfügbaren, geschenkten Gnade Gottes, die sich auch (und nicht nur) in der Schöpfung zeigt, dann eröffnet sie motivationale und entlastende Aspekte zugleich und kann m.E. darauf hoffen, in kirchlichen Diskursräumen angesichts der Klimakrise zu neuen Perspektiven zu verhelfen. Sie kann dann in neuer Weise deutlich machen, dass Gottes Gnade keine Befreiung von, sondern eine Befreiung in der Welt ermöglicht.
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