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Du sollst nicht töten (lassen)? Vorstellung einer aktuellen friedensethischen Fachpublikation zum Grunddilemma der Anwendung von Gewalt

Mit dem Krieg in der Ukraine sind friedensethische Fragen wieder ins Zentrum gesellschaftlicher Debatten gerückt. Grund genug, einmal einen Blick in einen aktuellen Entwurf der Friedensethik zu werfen. Julian Zehyer-Quattlender stellt hier zentrale Thesen seiner Dissertation vor.

Published onJul 04, 2022
Du sollst nicht töten (lassen)? Vorstellung einer aktuellen friedensethischen Fachpublikation zum Grunddilemma der Anwendung von Gewalt

Darf man Gewalt anwenden, um Menschen zu schützen? Ist es ethisch geboten, Waffen an die Ukraine zu liefern? Wie lassen sich Bündnissolidarität und eine Kultur militärischer Zurückhaltung vereinbaren?
Der Krieg in der Ukraine wirft zahlreiche ethische Fragen und Dilemmata auf, die zum Teil hohe mediale Aufmerksamkeit erfahren und breit innerhalb der Gesellschaft diskutiert werden. Einige Fragestellungen sind neu, andere beschäftigen die friedensethische Forschung schon lange.1

  1. Du sollst nicht töten! (Ex 20,13) vs. Du sollst deinen Nächsten lieben! (Lk 10,27). Renaissance eines Urkonflikts christlicher Friedensethik

Eine besonders grundlegende friedensethische Fragestellung, die nun im Lichte des Krieges in der Ukraine neue Aktualität und Relevanz gewinnt, ist die Frage, was Christenmenschen denn tun sollten, wenn andere Menschen zum Ziel tödlicher Gewalt werden? Darf man Gewalt anwenden, um Gewalt zu verhindern und sich aus dem Geist tätiger Nächstenliebe zum Schutz der Schwachen dem Aggressor entgegenstellen? Oder wäre vielmehr ein radikales „Sich-Enthalten“ jeglicher Form von Gewalt aus dem Geist des Gebots „Du sollst nicht töten“ die angemessene christliche Reaktion?

Mit dieser Urkontroverse evangelischer Friedensethik befasst sich die von Julian Zeyher-Quattlender im letzten Jahr bei der Evangelischen Verlagsanstalt in Leipzig veröffentlichte Dissertation unter dem Titel:

Du sollst nicht töten (lassen)? Eine Rekonstruktion der Friedensethik Dietrich Bonhoeffers aus der Perspektive Öffentlicher Theologie in aktueller Absicht

Die Studie folgt dem Anspruch, zu einer aktuell gesellschaftlich relevanten Frage einen ethischen Orientierungsbeitrag aus evangelischer Perspektive zu leisten. Auf knapp 400 Seiten geht Zeyher-Quattlender dabei unter Einbezug aktueller Forschung der Frage nach, wie christliche Verantwortung für den Frieden im 21. Jahrhundert angemessen wahrgenommen kann. Dabei beschränkt er sich nicht nur auf die Frage der Anwendung direkter, militärischer Gewalt, sondern bezieht auch gesellschaftliche Debatten um strukturelle Gewalt und die Gewaltförmigkeit der Lebensweise des globalen Nordens in den Forschungshorizont mit ein.

  1. Keine friedensethische Positionierung ohne eine grundsätzliche Klärung der Verhältnisbestimmung von Religion und Staat

Ausgangspunkt der Studie ist dabei zunächst die Klärung fundamentalethischer Grundfragen zur Politischen Ethik. Denn, wie auch angesichts des Krieges in der Ukraine deutlich sichtbar wird, lässt sich die Frage nach der Aufgabe der Christinnen und Christen sowie der Kirche angesichts eines Krieges oder einer Gewalteskalation nicht ohne eine grundsätzliche Klärung der Verhältnisbestimmung von Kirche und Staat oder allgemeiner ausgedrückt, von religiöser und politischer Sphäre beantworten. Welche Aufgaben, welche Mittel kommen den jeweiligen Akteuren zu? Wer hat welchen Handlungsspielraum? Wer ist wie gefordert an welchen Stellen der Eskalationsleiter?
Diesen Fragen widmet sich ausführlich der erste Teil des Buches (S. 37-215). Zeyher-Quattlender beantwortet sie im Rückgriff auf die protestantische Tradition. Er macht sich das Forschungsparadigma einer Öffentlichen Theologie zu eigen und verankert es in Martin Luthers „Zweireichelehre“2, indem er herausarbeitet, „wie das Forschungsparadigma Öffentliche Theologie eine für die Gegenwart besonders anschlussfähige Interpretation von Martin Luthers ‘Zweireichelehre’ erschließt und deren theologische Anliegen in besonderem Maße unter den Bedingungen einer Demokratie des 21. Jahrhunderts zur Geltung bringen kann“3. Damit zeigt Zeyher-Quattlender, dass Luthers „Zweireichelehre“, die ja durchaus für eine unrühmliche Rezeptionsgeschichte steht, auch heute noch anschlussfähig ist und wichtige Grundeinsichten auch für gegenwärtige Problemzusammenhänge bereithält. Welche Grundeinsichten sind das?

  1. Martin Luthers „Zweireichelehre“

Martin Luthers sogenannte „Zweireichelehre“ geht davon aus, dass die politische und geistliche Sphäre eine jeweils eigene Aufgabe haben, die nicht durch die jeweils andere übernommen werden kann. Der politischen Sphäre kommt die Aufgabe zu, für ein friedliches Zusammenleben zu sorgen. Wenn sie diesem (und nur diesem!) Ziel dienen, dürfen dafür notfalls auch Zwangsmittel eingesetzt werden. Vergleichbar ist dieser Zusammenhang heute mit dem Charakter des Rechts, das ja in seiner Durchsetzung ebenfalls auf Gewalt angewiesen ist.

Aufgabe der geistlichen Sphäre hingegen ist nicht Erhaltung, sondern Erlösung, also das „Seelenheil“ der Menschen oder weniger klerikal ausgedrückt: der Bereich existenziell-soteriologischer Wahrheiten und individueller religiöser Gewissheiten. In diesem Bereich dürfen keine wie auch immer gearteten Zwangsmittel eingesetzt werden. Denn die geistliche Sphäre muss ein Freiwilligkeits- und Freiheitsraum sein, weil — so Luther — nicht Menschen, sondern allein Gott den Glauben im Menschen weckt und kein Mensch von anderen Menschen oder Strukturen dazu gezwungen werden kann, eine bestimmte religiöse Überzeugung zu „glauben“. Die geistliche Sphäre ist daher ein einzigartiger Schutzraum für Glaubens-, Meinungs- und Gewissensfreiheit, wie wir es heute ausdrücken würden.

Luthers Pointe dieser Aufgabenteilung lautet dabei: Beide Bereiche brauchen einander. Nur im Zusammenspiel und gegenseitiger Kontrolle können beide ihre jeweilige Aufgabe gut erledigen. Werden die jeweiligen Grenzen überschritten, läuft alles aus dem Ruder. Wird die geistliche Sphäre ihrer Freiheit beraubt, werden politische Strukturen (quasi-)religiös aufgeladen und begründet (Stichwort: Führerkult). Wird umgekehrt die politische Sphäre von der geistlichen Sphäre übernommen, drohen hingegen gottesstaatähnliche Zustände, in denen Gewalt im Namen der Religion ausgeübt wird (Stichwort: „Heiliger Krieg“).

Dass beide, die politische und geistliche Sphäre, diesen Hang zum Totalitarismus haben, lässt sich in Geschichte und Gegenwart an vielen Stellen leider immer wieder beobachten.“4 Man denke beispielsweise an die Deutung des Kriegsgeschehens in der Ukraine durch den Patriarchen Kyrill I. Luthers Forderung, dass sich beide Sphären demnach beständig in ihrer Totalisierungstendenz zurückdrängen sollten, ist also hochaktuell bis heute.

  1. Öffentliche Theologie als moderne Interpretation der „Zweireichelehre“

Wie kann nun die von Luther bestimmte Aufgabe der religiösen Sphäre heute in einer funktional differenzierten und weltanschaulich pluralen Demokratie wahrgenommen werden? Hier kommt das Forschungsparadigma einer Öffentlichen Theologie ins Spiel. Heute denken wir die Verhältnisbestimmung freilich nicht mehr in Luthers Kategorien von Obrigkeit und Kirche, sondern fragen in religionspluralistischer Weitung nach den Interdependenzen von Religion und verschiedenen Öffentlichkeiten. Die Theologie als wissenschaftliche Reflexion des Glaubens ist dabei der natürliche Ort, an dem über angemessene Ausgestaltungsmöglichkeiten des Verhältnisses von Religion und Öffentlichkeiten nachgedacht wird. „Ausdruck der Intention, diese Vielfalt an Interdependenzen von Religion und Öffentlichkeiten nun affirmativ in die wissenschaftlich-theologische Reflexion einzubeziehen, ist der Programmbegriff einer Öffentlichen Theologie. Sie steht dabei für einen wissenschaftlichen Reflexionsraum vielfältiger und revisionsoffener Ausgestaltungsmöglichkeiten positiver Religionsfreiheit in Deutschland. Sie ist damit zunächst nicht religions- bzw. konfessionsgebunden, sondern offen für verschiedene religiöse und konfessionelle Aneignungen.“5 Öffentliche Theologie ist damit ein Ort vitaler Reflexion über Religion, von dem konstruktive aber auch kritische Impulse ausgehen können, um den Raum positiver Religionsfreiheit im Sinne von Martin Luthers „Zweireichelehre“ auszufüllen.

„Durch diese protestantische Aneignung Öffentlicher Theologie, die auf die sozialethische Dimension Öffentlicher Theologie fokussiert und in konfessioneller Zuspitzung sowie in Konzentration auf den deutschsprachigen Kontext erfolgte, [wird; J.Z.Q.] einerseits das sozialethische Profil Öffentlicher Theologie lutherisch fundiert und andererseits das moderne Potential der politischen Ethik Martin Luthers für eine Demokratie unter den Bedingungen des 21. Jahrhunderts herausgearbeitet“.6 Für das in der jüngeren Zeit in die Kritik geratene Paradigma einer Öffentlicher Theologie „leistet dieser Teil der Arbeit eine historische Rekonstruktion der Genese Öffentlicher Theologie in Deutschland entlang der soziokulturellen, historischen, politischen und religionsverfassungsrechtlichen Rahmenbedingungen […] und nimmt grundlegende Klärungen zum Forschungsprofil und zur Methodik Öffentlicher Theologie […] vor. Dabei wird die Entstehung des Paradigmas ‘Öffentlicher Theologie’ in Deutschland als Echo der Suche der Evangelischen Kirchen im Nachkriegsdeutschland nach einer Theologie des eigenen Selbstverständnisses ausgewiesen“.7

  1. Impulse von Dietrich Bonhoeffers Friedensethik für die Gegenwart

„Der zweite, materialethische Teil der Arbeit widmet sich dann, als exemplarische Anwendung der im ersten Teil grundgelegten Konzeption, der Rekonstruktion und Aktualisierung der Friedensethik Dietrich Bonhoeffers für die gegenwärtige friedensethische Debatte.”8 Indem er zeigt, wie konkret unter dem Forschungsparadigma einer Öffentlichen Theologie methodisch an einer ethischen Fragestellung gearbeitet werden kann, stellt er gewissenmaßen eine Studie Öffentlicher Theologie ‘im Prozess’ dar. Dieser Teil der Studie versucht dabei herauszuarbeiten, „dass Bonhoeffers Pazifismus, verstanden als umfassender Imperativ menschlicher Verantwortung für den Frieden, in Form einer anspruchsvollen Friedensethik Gestalt annahm, die Ziele und Mittel friedensfördernden Handelns auszuloten bestrebt war und dafür normativ-ethische Maßstäbe und Kriterien entwickelte. Die Grundausrichtung bzw. der Modus der Friedensethik Bonhoeffers entspricht daher einem Pazifismus als Friedensethik”.9 Das heißt konkret: ähnlich wie Dietrich Bonhoeffers lebenslanges Bemühen um Frieden in den verschiedenen Phasen seines Lebens ganz unterschiedliche, auf den ersten Blick sogar einander widersprechende Gestalten annehmen konnte (vom radikalen Pazifismus von Fanoe 1934 zur Beteiligung am Tyrannenmord gegen Hitler), soll eine evangelische Friedensethik verantwortliche Entscheidungen nicht an starren, unverrückbaren Prinzipien ausrichten, sondern vornehmlich die konkrete Situation in ihrem jeweiligen zeitgeschichtlichen Kontext berücksichtigen. Das Gebot ‘Du sollst nicht töten’ als normative Richtschnur gilt damit nicht prinzipiell, sondern kann auch das Gebot einschließen: ‘Du sollst nicht töten lassen’. „Die aus dieser Rekonstruktion gewonnenen Impulse aus Dietrich Bonhoeffers Friedensethik für die Gegenwart […] zeigen dabei, dass eine Konzeption, obwohl sie streng christologisch fundiert ist und damit in einer partikularen normativen religiösen Tradition verankert ist, dennoch auch für eine plurale Öffentlichkeit außerhalb der Grenzen dieser religiösen Tradition fruchtbar gemacht werden und anschlussfähig sein kann.“10

  1. Was würde Bonhoeffer zum Ukrainekrieg sagen?

Mit Blick auf das Kriegsgeschehen in der Ukraine und der damit verbundenen Wiederkehr der Urkontroverse christlicher Friedensethik lässt sich demnach mit Dietrich Bonhoeffer urteilen: auf der gegenwärtigen Stufe der Eskalationsleiter gibt es in diesem Krieg keine gute, neutrale, christliche Position. Der Schutz von bedrohten Menschen in der Ukraine unter Inkaufnahme des Einsatzes militärischer Mittel, der auch Todesopfer erfordern kann, führt gleichermaßen in Schuld wie die radikalpazifistische Position eines bewussten „Nicht-Eingreifens“, die ebenso einen hohen Preis fordert, weil er schutzlose Menschen (oft die Schwächsten, die keine Möglichkeit zur Flucht haben) der Aggression ausliefert und ihnen die Möglichkeit in Freiheit zu leben, verwehrt. Beide Positionen erweisen sich deshalb als notvoll und schuldbehaftet. Gleichzeitig können sie aber beide Ausdruck eines christlichen Engagements für den Frieden sein. Bonhoeffer weitet damit einerseits das Spektrum möglicher Handlungsoptionen, andererseits macht er aber durch seine konsequente theologische Deutung der Gewalt als Schuld unmissverständlich klar, dass es eine unproblematische oder gar gerechtfertigte Gewaltanwendung aus der Perspektive des Christentums niemals geben kann.

Mit der Verknüpfung von Friedensethik, Öffentlicher Theologie und der Theologie Dietrich Bonhoeffers zeigt das Buch von Julian Zeyher-Quattlender anhand aktueller ethischer Herausforderungen auf, wie die Theologie eine kraftvolle, orientierende und darin auch unersetzbare Stimme im öffentlichen Diskurs sein kann. Wer neugierig geworden ist, der kann das Buch ab sofort im Handel erwerben. Der Titel lautet: Du sollst nicht töten (lassen)? Eine Rekonstruktion der Friedensethik Dietrich Bonhoeffers aus der Perspektive Öffentlicher Theologie in aktueller Absicht, Evangelische Verlagsanstalt Leipzig. Preis: 48 Euro.

Du sollst nicht töten (lassen)?

Dr. Julian Zeyher-Quattlender ist derzeit Habilitand an der Theologischen Fakultät der Universität Zürich und arbeitet als Repetent am Evangelischen Stift in Tübingen.

Comments
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Elmar Wieland Vogel:

Was mich wundert ist, dass zur Beantwortung dieser so elementaren Frage, auf Sekundärliteratur zurückgegriffen wird. Luther und Bonhoeffer in allen Ehren, aber beide waren in dieser Frage höchst befangen und politisch konditioniert. Wenn eine Antwort auf diese Frage (im christlichen Kontext) ernsthaft gesucht wird, dann kann sie nur auf neutestamentlicher Basis gefunden werden.

What surprises me is that secondary literature is used to answer this elementary question. Luther and Bonhoeffer in all honor, but both were highly biased and politically conditioned in this question. If an answer to this question is seriously sought (in the Christian context), then it can only be found on a New Testament basis.