Die derzeit geltenden Bedingungen des Infektionsschutzes greifen massiv in das kirchliche Leben ein. Gerade die entstandenen und weiter bestehenden digitalen Gottesdienstformate haben – insbesondere vor und über die Kar- und Ostertage – eine breite Debatte angeregt. Im Vordergrund stand insbesondere die Frage nach dem Abendmahl in digitalen Gottesdienstformaten.
Diese Situation trifft auf eine bestehende Debatte im Feld digitaler Kirche und digitaler Theologie, in der viele der heute neu scheinenden Praktiken seit Jahren verbreitet und ebenso lang intensiv debattiert werden. Neu ist derzeit zum einen die breite Wahrnehmung der Fragen und zum anderen die Unausweichlichkeit der gemeindlichen Praktiken – vieles, was vor drei Monaten als kühnes Vordenken über gottesdienstliche, liturgische, seelsorgerliche aber auch pädagogische digitale Formate einer kleinen digitalaffinen Gruppen von Christinnen und Christen diskutiert wurde, ist jetzt schon ein Nach-denken über neu bestehende Formen, die in erstaunlicher Menge und auffallend widerspruchslos eingerichtet und gestaltet wurden.
Nach einigen Wochen der Beobachtung und nachdem die erste Welle der Debatte abgeflacht ist, möchte ich im Folgenden Perspektiven sammeln, die sich aus diesen Formaten im Feld der Ekklesiologie und Kirchentheorie ergeben. Das vorliegende Positionspapier ist dabei auch ein Versuch, bestehende Debatten in die hier und in dieser Breite neu aufgekommenen Fragen einzuspeisen und so Impulse zu vermitteln. Über viele Detailfragen wird in den kommenden Monaten theologisch zu diskutieren und zu streiten sein – dieses Positionspapier kann und will diese Debatten nicht vorwegnehmen. Es ist vielmehr ein Positionspapier im Wortsinn: Es dient der Bestimmung des Standortes mit dem Ziel, die Richtung der anstehenden denkenden Navigationsbemühungen zu präzisieren.
Beleuchtet wird diese Positionssuche durch die Frage nach der Präsenz der Kirche. Während diese Frage bislang v.a. unter der Perspektive von sinkenden Kirchenmitgliedschaftszahlen, Debatten um Regionalisierung kirchlicher Angebote und die Zukunft des Parochieprinzips diskutiert wurde, rückt die aktuelle Situation rückt die mediale Dimension dieser Frage ins Zentrum: Wo und wie vermittelt soll Kirche präsent sein – und für wen und von wem re-präsentiert?
Standortbestimmung
Gottesdienste im Fokus
In der gegenwärtigen Debatte um kirchliches Leben steht insbesondere die Frage nach angemessenen Gottesdienstformen im Vordergrund. Dies gilt nicht für die Debatten in der ersten Phase der Kontaktbeschränkungen um Ostern herum, sondern auch für die gegenwärtige Debatte nach ersten Lockerungen Anfang Mai, welche die Möglichkeit bieten Gottesdienste unter Auflagen zu feiern. Auffallend ist dabei dreierlei.
Erstens kommen andere Formen kirchlichen Lebens kaum in den Blick. Spiegelt sich hier eine theologische Vorrangstellung des Gottesdienstes – wie in von einigen verständnislos konstatiert? Oder entspringt dieser Fokus der Notwendigkeit eines schrittweisen Vorgehens und beim ökumenisch und interreligiös zentralen – und politisch vermutlich am einfachsten zu vermittelnden – Bestandteil kirchlichen Leben zu beginnen? Für die Reflexion auf kirchlichen Lebens „mit Corona“ ist es jedenfalls von entscheidender Bedeutung, diesen Fokus aufzuweiten und sobald es politisch möglich ist, über die Gestaltung öffentlicher Religionsausübung im weiten Sinn „unter Pandemiebedingungen“ nachzudenken. Dies gilt auch und insbesondere für die Rahmenbedingungen von Seelsorge und Kasualbegleitung.
Zweitens fokussierten weite Teile der Debatte auf digitale Gottesdienstformate. Auf diese möchte ich daher im Folgenden ausführlich eingehen. Trotzdem ist wahrzunehmen: Dies waren und sind bei weitem nicht die einzigen Alternativen zu den klassischen liturgischen Formen, gerade in der Kar- und Osterzeit. Alternative analoge Formen im Kirchraum (wo das möglich war), um die Kirche herum, im Ort oder im Umland, wie z.B. Ostersteine, Kreuzwege, „Segen to go“, Osterspaziergänge mit geistlichen Impulsen etc – all dieses und noch viel mehr wurde angeboten und verbreitet, war jedoch kaum Gegenstand der Debatten. Dabei bilden auch diese Formen eine deutliche Verschiebung liturgischer Formen und zum Teil innovative Neudeutungen bestehender Traditionen. Auch die Frage nach der Zugänglichkeit digitaler Angebote muss im Zusammenhang mit diesen analogen Formen und ihren jeweiligen Zielgruppen diskutiert werden.
Drittens entsteht derzeit eine intensive Debatte um die Formen der nun wieder stattfindenden Gottesdienste, die meiner Wahrnehmung nach v.a. auf der Ebene der Gottesdienstgestaltenden und der ehren- und hauptamtlichen Gemeindeleitungen vor Ort geführt wird: Viele ringen mit der Frage, ob und unter welchen Bedingungen sie wieder Gottesdienste feiern wollen. Die derzeitige Situation stellt dabei gewissermaßen ein Brennglas dar für die Frage, was eigentlich Gottesdienst ausmacht für die Gemeinden, welchen Stellenwert er und seine liturgischen Teile besitzt: Während der fehlende Gesang oft moniert wird, scheint der Verzicht auf das Abendmahl weniger problematisch zu sein und auch die Predigt scheint – als überwiegend frontales Format – in Videogottesdiensten etc. gut abbildbar zu sein. Auch die Frage, ob überhaupt Gottesdienst gefeiert werden soll – sei es, um der gesellschaftlichen Solidarität wegen oder aus theologischen Gründen – spiegelt deutlich wie selten die gemeindliche Wahrnehmung und Funktion des Sonntagsgottesdienstes. Diese Debatte ist noch nicht absehbar, aber verspricht interessante Einsichten in die gelebte Frömmigkeit.
Digitale Gottesdienstformen und das Abendmahl
Interessanterweise werden Verkündigung und Liturgie in digitalen Formaten wenig diskutiert – abgesehen von einer z.T. recht harsch ausgetragenen Debatte um die Frage, ob und inwiefern die Qualität der nun online für viele sichtbaren Gottesdienste ein Kriterium für ihre Veröffentlichung sein dürfe oder nicht. Hier verstärkt die mediale Sichtbarkeit eine bestehende Debatte. Die Diskurse um digitale Kirche aus den letzten Jahrzehnten zeigen darüber hinaus offene Fragen auf Liturgie, Verkündigung und Gottesdienstgemeinschaft auf, wie im folgenden Abschnitt ausgeführt.
Im Vordergrund stand und steht vielmehr die Frage nach dem Abendmahl. Angesichts der komplexen Debatte gilt hier insbesondere, dass der zu führenden Debatte hier nicht vorgegriffen werden kann. Vielmehr sollen die Anfragen systematisch zugespitzt werden – weniger, um Scherben aufzukehren (V. Leppin) als vielmehr um die offenen Flanken der Debatte zu markieren. Im Wesentlichen wurden drei Anfragen laut: Erstens ist digital kein – oder zumindest kein gleichwertiges – leibliches Zusammensein möglich wie in der analogen Abendmahlspraxis. Zweitens wurde vor einer Individualisierung der Abendmahlspraxis gewarnt, die dem Ziel des gemeinsamen Feierns und damit der Einsetzung des Mahls zuwiderlaufe. Hierzu gehört auch die diffizile Frage, in welchem Verhältnis die unterschiedlichen Abendmahlsformen zueinander stehen: Handelt es sich in einer medial vermittelten gottesdienstlichen Inszenierung des Abendmahls um eine Aufforderung, ein paralleles Hausabendmahl zu feiern oder um eine medial vermittelte „Gottesdienstgemeinschaft“ mit gemeinsamen Mahl. Verbunden damit ist drittens die Frage nach dem Einladenden zum Mahl und der Beauftragung des Einsetzens des Mahls. Verschiedentlich wurde in diesem Zusammenhang auch auf den Gabecharakter des Mahles verwiesen. Die Frage, ob und wie die Wesensbestimmung eines Sakraments ins Digitale transformiert werden kann – also wie digital vermittelt das Wort zum Element hinzutreten kann (accedit verbum ad elementum, et fit sacramentum) – wurde nicht diskutiert.
Systematische Perspektiven auf digitale Gottesdienstformen
Die mit den entstandenen Praktiken verbundenen Fragen zu umreißen und in die bestehenden Debatten zu Formen digitaler Gottesdienste einzubetten, versucht der folgende Abschnitt. Leitend ist dabei eine Ausrichtung, die Teresa Berger für die Debatten um digitale Abendmahl vorschlägt: Ihr geht es um eine historische Perspektivierung verbunden mit der Frage, welche liturgischen Formen welche Charakteristika jeweils hervorheben – und welche jeweils verschleiert werden (Berger 2017, 76). So geht es weniger um einen Abgleich des Neuen mit Bestehendem als vielmehr um die Veränderlichkeit auch der jeweils geläufigen liturgischen Formen ebenso wie die Möglichkeiten und Grenzen unterschiedlicher Formen und Medien.
Virtualität, Realität und Medialität
Vor den Überlegungen zum Gottesdienst zwei kurze Hinweise zu den im Hintergrund stehenden Kategorien. Die eingangs skizzierte Debatte folgte an vielen Stellen einer binären Beschreibung von „virtuell“ und „real“, letzteres verstanden als kohlenstoffliche analoge Realität. Diese Unterscheidung der „digital dualists“ (Berger 2017, 16) übersieht, dass auch virtuelle Räume Realitäten darstellen und ist daher zugunsten einer differenzierten Debatte um die Spezifika unterschiedlicher virtueller, analoger und hybrider Realitäten aufzugeben. Ilona Nord macht bereits 2008 in ihrer Habilitation „Realitäten des Glaubens“ darauf aufmerksam, dass virtuelle Räume im Blick auf liturgische Praktiken und kirchliche Gemeinschaft nicht als defizitär gegenüber körperlich-realen Gemeinschaften beschrieben werden müssen. Die Spezifika der jeweiligen Realitäten, ihre medialen Konstitution und Vermittlungswege bedürfen einer differenzierten Debatte unter der skizzierten Leitfrage nach den Möglichkeiten und Grenzen der jeweiligen Formen.
Während die Frage nach der Bedeutung medialen Vermittlung durch digitale Formen massiv in den Vordergrund rückt, besteht diese Frage grundsätzlich immer. Angestoßen durch die Debatten um digitale Medialität und Virtualität – verbunden mit einer Debatte um diese Terminologie – muss daher die Debatte um „Medium und Message“ für Gottesdienste und Liturgie weitergeführt werden (vgl. für einen Aufschlag Deeg 2019): Denn Medien sind nicht nur Vermittlungswege, sondern formen und prägen Inhalte. Auch hier hilft eine historische Perspektivierung der Veränderungen medialer Kommunikation in Gottesdiensten weiter, die den Blick z.B. auf die massive Verschiebung durch das reformatorische Schriftprinzip als „Dekonstruktion der bis dahin dominierenden Menschmedien“ lenkt (Grethlein 2019, 49). Über den Gottesdienst hinaus muss dabei die Medialität der media salutis als Grundkategorie neu in den Blick kommen.
Dass folglich die Technik selbst in den Blick kommen muss, sei hier nur erwähnt.
Präsenz und Leiblichkeit
Gottesdienst als leibliche Gemeinschaft gilt als der ekklesiologische „Normalfall“. Die fehlende Leiblichkeit digitaler Gottesdienstformen stellt einen der Haupteinwände gegen diese Formen der Liturgie dar, insbesondere im Blick auf das Abendmahl. Dies ist insofern von besonderer Brisanz als das Paradigma des embodiments in den letzten Jahrzehnten im Gegenüber zur empfundenen Körpervergessenheit des Protestantismus besondere Aufmerksamkeit erhalten hat (vgl. dazu Fiedler 2019). Gegen diese starke Dichotomie ist zunächst einzuwenden, dass digitale Praktiken mitnichten „dis-embodied“ sind, sondern auf eine andere Art körperlich und material basiert sind als ein Gottesdienst im Kirchenraum – Hände, Augen und Ohren sind involviert und auch die Teilnahme an Gottesdiensten online hat messbare physische Effekte (Berger 2017, 16-19). Im Blick auf die leibliche Involvierung der Feiernden gilt es also, die Charakteristika unterschiedlicher Formen der Präsenz zu diskutieren.
Die Frage nach der Leiblichkeit ist zuzuspitzen auf die Frage nach der leiblichen Präsenz für die gottesdienstliche Gemeinschaft, insbesondere beim Abendmahl. Gordon Mikoski beobachtet hier eine Umkehr der klassischen Abendmahlsdebatte: „In the digital age, it may be the case that the classical debates about the presence of Jesus Christ in the Eucharist have been inverted. The question with which we may now have to wrestle is not “In what way is the Lord present in the Supper?” Instead, the question is “In what ways are we present in the Supper?” (Mikoski 2010, 258f.). Diese Umkehrung bringt nicht nur bestehende konfessionelle Schwerpunkte wieder deutlich sichtbar in die Diskussion, sondern auch die v.a. im Zusammenhang mit dem Kinderabendmahl diskutierte Frage nach der Würdigkeit des Abendmahls. Daneben treten auch anthropologische Fragen der Wahrnehmungs- und Deutungsfähigkeit zu Tage (Gorski 2020). Befürworter digitaler Gottesdienste und auch des digitalen Abendmahls verweisen an dieser Stelle auf die pneumatische Dimension der Gottesdienstgemeinschaft, die im Abendmahl sichtbar und greifbar wird: Der Geist Gottes stiftet die Gemeinschaft der Kinder Gottes, über die Zeit und den Raum hinaus und stellt sie in die Gemeinschaft des Leibes Christi. Dies gilt auch – in den protestantischen Traditionen in unterschiedlicher Betonung – für das Abendmahl. Diese Gemeinschaft im Geist ist durch die digitale mediale Vermittlung nicht in Frage gestellt (s.u.).
Dass die leibliche Gemeinschaft aber einen wesentlichen Teil der Stärkung und erlebten Erfahrung ausmacht, ist davon unbenommen. Die sakramentale Gemeinschaft in leiblicher Kopräsenz und konkreten Elementen vollzieht sich in den Begrenzungen von Raum und Zeit, in die unser leibliches Leben gegeben ist (Fechtner 2020). Zu fragen ist jedoch, ob ein „defizitäres“ Moment im Vergleich zum eschatologisch Verheißenen nicht als ein Grundmoment jeder Abendmahlsfeier zu beschreiben ist: Nicht nur ist die leibliche Gemeinschaft auch in analogen Gottesdienstformate sehr unterschiedlich ausgeprägt, vielmehr ist das Abendmahl in physischer Gemeinschaft nicht nur eine Vergegenwärtigung, sondern bleibt immer auch hinter der eschatologisch verheißenen leiblichen Gemeinschaft mit dem Einladenden zurück (Grethlein 2019, 56). Zu diskutieren ist daher, ob es sich hier um eine Differenzierung unterschiedlicher Charakteristika im o.g. Sinn handelt – oder um einen theologisch begründbaren Bruch des Bekenntnisstandes.
Präsenz und Koinonia
Der Selbstauskunft nach geht es vielen Initatorinnen und Initiatoren digitaler Gottesdienstformate vor allem darum, Formen gottesdienstlicher Gemeinschaft zu ermöglichen. Fragt man nach den Bedingungen von Gottesdienstgemeinschaft i.S. der christlichen koinonia, wurde im vorangegangenen Abschnitt bereits deutlich, dass diese pneumatisch begründet wird. Die mediale Vermittlung dieser geistlichen Gemeinschaft ist auch dem Neuen Testament nicht unbekannt: So zeigt z.B. die neutestamentliche Briefliteratur, dass die koinonia des Leibes Christi auch über Distanzen hinweg gedacht werden kann – hier im Medium des Briefes, in dem selbstverständlich Segen zugesprochen, Gebete ausgetauscht und somit koinonia gelebt wird. Zu fragen wäre hier, wie sich Formen virtueller Präsenz theologisch deuten lassen: Ist medial vermittelte, virtuelle koinonia ekklesiologisch problematisch – oder ist die Schärfe der Debatte vielleicht nur dem (noch) ungewohnten digitalen Medium geschuldet? Zu erinnern ist hier an parallele Debatte um Fernseh- und Rundfunkandachten.
Bergers Differenzierung zwischen räumlicher Kopräsenz und liturgischer Gemeinschaft ist an dieser Stelle weiterführend: Weder garantiert räumliche Nähe liturgische Gemeinschaft im Sinne der koinonia noch ist die Kopräsenz ein notwendiges Kriterium für koinonia (Berger 2017, 38f). Es geht vielmehr darum, unterschiedliche Arten und Ebenen von „proximity“ miteinander zu verbinden, fluide Formen von Nähe und Präsenz zu beschreiben und Formen visueller Zeugenschaft zu ermöglichen (Berger, 2017, 39f).
Um über Gemeinschaft in ihren raumzeitlichen Konditionen neu nach zu denken, hilft auch der Blick auf das Gebet: Für das Gebet ist das eingeübt, sowohl räumliche Distanz zu überwinden (z.B. in ökumenischen Weltgebetstagen) als auch temporale Ungleichzeitigkeit zu überwinden – prominentestes Beispiel ist das Vaterunser mit dem wir uns im Gottesdienst mit den Christinnen und Christen aller Zeiten und Orte verbunden wissen. Die geistgewirkte Gemeinschaft des Leibes Christi wird in der Zuwendung zum gemeinsamen überzeitlichen und überräumlichen Gott am deutlichsten und ermöglicht zugleich koinonia über Raum und Zeit hinweg. Inwiefern gilt dies auch für welche anderen Elemente liturgischen Feierns?
Die Debatten um Gottesdienstformate über die Rahmenbedingungen und den Sinn von Gottesdiensten mit zwei Metern Abstand zeigen aber auch Grenzen und Defizite über Distanzen vermittelten Formen der Gemeinschaft: Die engste Form menschlicher Koinonia ist die leibliche Gemeinschaft – das bedeutet nicht Abwertung anderer Formen, aber das Trauern darüber, nicht leiblich zusammen sein zu können ist auch den neutestamentlichen Briefautoren nicht fremd. Zu diskutieren sind die Folgen aus dieser Trauer – Verzicht oder alle derzeit möglichen Formen gestalten?
Parochie und digitale Kirche
Vor dem Beginn der Ausweitung digitaler Gottesdienstformen auf einer breiten Basis war eine antithetische Bewegung des Virtuellen zum Parochialen zu beobachten: Digitale Gemeinden und liturgische Angebote wurden vielfach als Alternative zu bestehenden Formen und parochialen Strukturen verstanden. Die derzeit entstehenden Formen sind viel stärker miteinander verwoben: Viele der angebotenen Gottesdienste verstehen sich explizit als lokale oder regionale Angebote und werden explizit gerade deswegen begrüßt (unsere Pastorin in unserer Kirche, vgl. Schächtele 2020). Meinem Eindruck nach – empirische Forschungen stehen noch aus – gilt dies in besonderem Maß für regelmäßige Kirchgänger, also die Gruppe der Hochverbundenen. In der aufflammenden Debatten um die Qualität der kirchlichen Angebote und der Frage, ob diese nicht zentraler und professioneller angeboten werden sollten, kommt dieser Beobachtung Bedeutung zu. Deutlich wird: Es gibt kein Gegenüber von parochialer Kirche vor Ort und einer angeblich virtuellen, anonymen oder u-topischen digitalen Kirche. In der Frage, wo und wie Kirche präsent sein kann und soll, zeigt sich vielmehr eine eigentümliche Verbindung von räumlicher Nähe und medial vermittelter Präsenz.
Zugleich finden die neuen digitalen Gottesdienstangebote Interesse auch bei Menschen, die sich für Gottesdienste interessieren, aber sonst selten oder gar nicht am Gottesdienstgeschehen teilnehmen. Dies gilt meiner Erfahrung nach nicht nur für digital natives, sondern für viele Altersgruppen – auch diese Beobachtung wartet auf empirische Überprüfung. Einige finden den Weg in reine online Gemeinschaften, andere führt der Weg über digitale Angebote in parochial verfasste Gemeinden, wieder andere wechseln zwischen Angeboten unterschiedlicher Art. Zugleich schließen die digitalen Formate von der Teilnahme an den Gottesdienstangeboten aus, oft wegen fehlender technischer Ausstattung oder Medienkompetenz.
Die Chancen und Grenzen unterschiedlicher medialer Formate im Blick auf ihre Zielgruppen und ihre Zugänglichkeit sind dabei nicht eindeutig: Ist eine digitale Gemeinschaft wirklich anonymer als das sonntägliche Nebeneinander in einigen Gottesdiensten? Und welche Formen von koinonia werden gerade durch die Verbindung von Anonymität und Verbindlichkeit im Digitalen ermöglicht? Führt nicht auch oder gerade unsere analoge Gottesdienstpraxis zu massiven Exklusionen derer, die von ihren Praktiken, ihrem Habitus oder ihrem Auftreten nicht „konform“ genug sind? Ist die Segmentierung der Gemeinden im Digitalen tatsächlich weiter verbreitet als die Segmentierung zielgruppenorientierter Angebote mancher Kirchengemeinde? Wenn das „Netz als sozialer Raum“ ernstgenommen wird - so das Impulspapier der Ev. Kirche in Bayern von 2015 – was bedeutet das für die Gemeindeentwicklung?
Partizipation, Pfarrerzentrierung und Priestertum aller Glaubenden
Abschließend noch einige Beobachtungen zu den Spezifika digitaler Gottesdienstformate. Zur schematischen Orientierung lässt sich die Beobachtung Heidi Campbells zu aktuellen Strategien in Online-Gottesdiensten in den USA nutzen: Sie unterscheidet zwischen „transferring“ (Übertragung des regulären offline Gottesdienstes auf eine Onlineplattform), „translation“ (Anpassung der Formen an Begrenzungen des Bildschirms) und „transforming“ (Entwicklung neuer digitaler Formen) (Campbell 2020, 51). Ihrer Beobachtung nach wird v.a. das Streaming von traditionellen Gottesdiensten gewählt und es kaum Versuche, die interaktiven und partizipativen Grundlinien digitaler Angebote zu nutzen – auch diese Beobachtung lässt sich meiner Erfahrung nach auf den deutschen Kontext übertragen (Campbell 2020b). Mit Dyer ist bei diesen Formaten von „Broadcast Church“ anstatt von „Online Church“ zu sprechen (Dyer 2020, 53).
Auffallend ist, dass in vielen der gegenwärtig angebotenen Online-Gottesdienste der Pfarrer im Vordergrund steht, oft allein im „heiligen Raum“ (Nord/Luthe 2020, 67). Die partizipativen Möglichkeiten und Formen der Interaktion, die digitale Räume vielfach kennzeichnen, werden in diesen Formaten hingegen kaum genutzt. Der Ruf nach neuen Formen, der Einbindung der prosumer-Struktur und einer Stärkung des Priestertums aller Gläubigen ist in diesem Zusammenhang oft zu hören. Berger schlägt vor, die Strukturen digitaler Medien zu nutzen, um nicht-lineare, hypertextuelle und multimediale Liturgien zu entwickeln, die einen „portable, mobile, open access worship” ermöglichen (Berger 2017, 106). Die auf diese Weise entstehende netzwerkartige Struktur religiöser Vergemeinschaftung (Campbell 2016) setzt m.E. weiterführende Impulse für Debatten über das Kirchenverständnis in analogen und digitalen Kirche frei.
Lived religion und Ekklesiologie
Zuletzt noch eine Anmerkungen zu den reflektierenden Zugängen zu den beschriebenen Phänomenen: Auf der einen Seite steht die Notwendigkeit und das Bedürfnis nach Gestaltung kirchlichen Lebens, das gerade kurz vor Ostern unter massivem Zeitdruck stand. So entstanden Formate und Praktiken, die in dieser Breite vor wenigen Wochen kaum vorstellbar waren. Die theologische Reflexion wurde – zumindest in der Breite – von diesen überholt. Die deutsche theologische Debatte war dann sowohl von einer gewissen Sprachlosigkeit als auch von nahezu reflexhaften Verweisen auf den Bekenntnisstand und den Rekurs auf traditionelle Frage- und Deutungsmuster von Liturgie und Gottesdienst geprägt. Bringt man diese ins Gespräch mit bestehenden Debatten um digitale Kirche, wird deutlich, dass diese einen anderen Zugang wählen: Der Fokus in der v.a. US-Amerikanischen Forschung liegt auf sich verändernden religiösen Lebenswelten, wobei die transdisziplinäre Forschung oft von empirischen Zugängen ausgehend auf die theologische Reflexion von „lived religion“ abzielt. Die beginnenden Debatten in Deutschland werden überwiegend von den dogmatischen Loci her geführt und weniger von den erlebten religiösen Formen (die z.T. sehr unabhängig von dogmatischen Überlegungen etabliert werden und für viele einen Erstkontakt mit „kirchlichem“ Leben darstellen).
Diese Divergenz von dogmatischen Debatten, empirischer Beobachtung und gelebten theologischen Debatten nur als Defizit wahrzunehmen ist zum einen wenig konstruktiv und zum anderen geht es an der Wahrnehmung der Gestaltenden vorbei. Zu fragen ist also nach einem validen theologischen Zugriff auf die sich bildenden und lange ausgebildeten Formen digitalen kirchlichen Lebens. Sinnvoll wäre m.E. eine enge Verknüpfung von empirischen, kirchentheoretischen und dogmatischen Perspektiven. Empirische Studien sowohl zu Anbietern digitaler Gottesdienste als auch zum Nutzungsverhalten laufen derzeit an (z.B. CONTOC) – diese mit der ekklesiologischen Reflexion sowohl in der Dogmatik als auch in der Praktischen Theologie zu verbinden, erscheint mir dringend notwendig.
Kirche – digital und analog
Die Fragen, wo und auf welche Weise Kirchen präsent sein können und wollen, sind unter den aktuellen Vorzeichen neu gestellt. Die damit verbundenen skizzierten Debatten werden uns auf unterschiedliche Dauer und in unterschiedlicher Intensität beschäftigen: Während einige für die Zeit der pandemiebedingten Einschränkungen von Relevanz sind, werfen andere grundlegende Fragen zur Formen von kirchlichem Leben online und der bleibenden Verhältnisbestimmung von kirchlicher Gemeinschaft online und offline auf. Viele dienen als Brennglas für ekklesiologische und auch kirchenpolitische Fragen, die online ebenso wichtig sind wie offline. Andere Fragen führen weit über neue Vermittlungsformen hinaus zu neuen Formen Kirche zu sein, die praktisch und reflexiv eingeholt werden wollen.
Die Frage nach den Orten, Medien und Modalitäten kirchlicher Präsenz zu stellen, bedeutet auch, die viel diskutierte Frage nach der aktuellen Relevanz der Kirche für näher zu spezifizierende Systeme hinaus zu führen. Es ist die Frage nach Präsenz statt einer Debatte um Verzichtbarkeit. Die Frage danach, wo und wie Kirche gegenwärtig für wen präsent, wahrnehmbar und hilfreich da sein kann. Diese nicht nur zu fordern, sondern zu gestalten ist eine zentrale Aufgabe – auch, aber nicht nur unter Bedingungen des Infektionsschutzes.
Literatur (in Auswahl)
Berger, Teresa (2017): @Worship. Liturgical Practices in Digital Worlds. Milton: Taylor and Francis (Liturgy, Worship and Society Series).
Campbell, Heidi A. (2020): What Religious Groups Need to Consider when Trying to do Church Online. In: Heidi A. Campbell (Hg.): The Distanced Church. Reflections on Doing Church Online, S. 49–52.
Campbell, Heidi A. (2020b): How to build community while worshipping online. Online verfügbar unter https://theconversation.com/how-to-build-community-while-worshipping-online-134977?fbclid=IwAR0Pjfab9Q912YgfBiPaQdeuIqEsxtFhKWqQojoT4Nrcjy7FbLpPIB8y9sQ (18.05.2020).
Campbell, Heidi A.; Garner, Stephen; Dyrness, William; Johnston, Robert (2016): Networked Theology. Negotiating Faith in Digital Culture. Grand Rapids: Baker Academic (Engaging Culture Ser).
Deeg, Alexander (2019): Liturgie - Körper - Medien. Herausforderungen für den Gottesdienst in der digitalen Gesellschaft. eine Einführung. In: Alexander Deeg und Christian Lehnert (Hg.): Liturgie – Körper – Medien. Herausforderungen für den Gottesdienst in der digitalen Gesellschaft (Beiträge zu Liturgie und Spiritualität), S. 9–28.
Dyer, John (2020): The Biggest Challenge for Churches at this Time. In: Heidi A. Campbell (Hg.): The Distanced Church. Reflections on Doing Church Online, S. 53–55.
Ev.-luth. Kirche in Bayern (2015): Das Netz als Sozialer Raum. https://handlungsfelder.bayern-evangelisch.de/downloads/ELKB-Impulspapier-Medienkonzil-2015-Webversion.pdf (18.05.2020)
Fechtner, Kristian (2020): Abendmahlsfasten in widriger Zeit. Online verfügbar unter https://www.ev.theologie.uni-mainz.de/files/2020/04/Fechtner-Abendmahl-online.pdf.
Fiedler, Kristina (2019): Liturgie als Embodiment. Auf der Suche nach einer Sprache liturgiewissenschaftlicher Reflexion, die sich ihrer Körperlichkeit bewusst ist. In: Alexander Deeg und Christian Lehnert (Hg.): Liturgie – Körper – Medien. Herausforderungen für den Gottesdienst in der digitalen Gesellschaft (Beiträge zu Liturgie und Spiritualität), S. 113–126.
Gorski, Horst (2020): Erinnerung an Leuenberg. Der „Streit ums Abendmahl“ lohnt ein Blick auf ein grundlegendes theologisches Dokument. Online verfügbar unter https://zeitzeichen.net/node/8235 (18.05.2020).
Grethlein, Christian (2019): Liturgia ex machina. Gottesdienst als mediales Geschehen. In: Alexander Deeg und Christian Lehnert (Hg.): Liturgie – Körper – Medien. Herausforderungen für den Gottesdienst in der digitalen Gesellschaft (Beiträge zu Liturgie und Spiritualität), S. 45–64.
Mikoski, Gordon S. (2010): Bringing the Body to The Table. In: Theology Today 67 (3), 255-259.
Nord, Ilona; Luthe, Swantje (2020): Hope-Storytelling in the Age of Corona. How Pastors Foster the Community of Faith. In: Heidi A. Campbell (Hg.): The Distanced Church. Reflections on Doing Church Online, S. 67–70.
Schächtele, Traugott: Brauchen wir nach der Corona-Krise denn unsere Kirchen noch? Erste Überlegungen zu den Konsequenzen der positiven Erfahrungen mit online-Gottesdiensten. Online verfügbar unter https://schaechtele.net/texte/2020/brauchen-wir-nach-der-krise-unsere-kirchen-noch (18.05.2020).