„Während manche sagten, nun könne man ja grade gar keine schönen neuen Formate entwickeln, denn es ginge ja nichts mehr mit Abstand, Masken, Anmeldeformularen, räumte ein Pastor bei Hamburg seine Kirche leer und installierte monatlich wechselnde begehbare Liturgien, trug Bäume in den Raum und hängte Wolken auf. Ein Pfarrer aus Thüringen betete mit seinen Leuten an Haustüren. Ein Team aus Niedersachsen verteilte Straßenkreide in jeden Haushalt seiner Kleinstadt.“ So schreibt Birgit Mattausch, Pastorin und Referentin im Arbeitsbereich Gottesdienst und Kirchenmusik in Hildesheim im Juli 2021 auf feinschwarz.net. Und fügt viele weitere Gegenüberstellungen an.
Wenige Tage danach schreibt Monika Elsner, Gemeindepfarrerin in Essen, einen Leserbrief „von der anderen Seite“: „Während ich noch nicht richtig verstanden hatte, was das alles bedeuten würde und noch traurig einen Kinderbibeltag absagte, hatten andere schon Andachten geschrieben, Vorschläge für Gottesdienste zeitgleich entwickelt, Gebete formuliert, Glocken läuten lassen, Ideen zusammengetragen. […] Während ich noch lernte und übte, kamen Schelte und hämische Kommentare – über das, was wir nicht können, über unsere Predigtversessenheit, über unser pastorales Denken, über die Unfähigkeit vor einer Kamera zu agieren.”
„Während“ – mit diesem Begriff ist die Gleichzeitigkeit der Ungleichzeitigkeiten pastoraler Praxis in der Pandemie auf den Punkt gebracht. Die beiden Texte markieren sich selbst als Pole einer Diastase. Zwischen diesen gibt es in der Realität vermutlich viele Zwischentöne und -positionen, ganz abgesehen von diejenigen, die wohl keinesfalls einen Leser:innenbrief in einem Online-Feuilleton schreiben würden.
Auf den zweiten Blick lassen sich zwischen den Zeilen – in beiden Texten – zwei gegensätzliche Modi pastoraler Kollegialität in der Krise finden: Kooperation und Konkurrenz.
Beide Rückblicke bilden auch die Phasen der Pandemie ab: Der Umbruch des ersten Lockdowns mit vorher ungeahnten Einschränkungen kirchlichen Lebens und einer weitgehenden kollektiven Betroffenheit. Die dann folgenden Phasen von Lockerung und Verschärfung, von anhaltender Ungewissheit und aufkommender Hoffnung. Schließlich die Krise als Dauerzustand und die Ahnung, dass es hinterher nachhaltig anders werden könnte, als es vorher war.
Schließlich schwingt hinter den Statements mit: Auch Pfarrer:innen waren von der Pandemie als gesellschaftlicher Herausforderung in mehrfacher Weise betroffen – für diese so gesicherte Berufsgruppe nicht selbstverständlich. Einschränkungen und Aufbrüche im beruflichen Feld überlagerten sich mit Ängsten und Herausforderungen im persönlichen Bereich: #stayhome, erlebt als Entlastung oder als zunehmende Niedergeschlagenheit, drastische Einschnitte in der Kinderbetreuung, berufliche Unsicherheit von Partner:innen, gesundheitliche Situation. Diese Überlagerung hat de facto ein sehr unterschiedliches Krisenerleben begründet.
Wenn die Umbrüche der Pandemie den Pfarrberuf so markant betreffen und verändern – dann lohnt sich auch das Nachdenken darüber, also: die pastoraltheologische Reflexion. Drei Auswirkungen der Pandemie auf den Pfarrberuf liegen dabei auf der Hand:
Die Pandemie ist Disruption. Der Verlust von Selbstverständlichkeit wird als grundlegende Erschütterung nachhaltig wirken. Was jetzt – in Theorie und Praxis – hinterfragt wurde, lässt sich nicht einfach wieder in den Horizont des Fraglosen einziehen.
Die Pandemie ist Brennglas oder Lupe. Die Pandemie macht Spannungen und Widersprüche noch sichtbarer, die den Pfarrberuf schon lange betreffen: Die Spannung zwischen der Vieldeutigkeit kirchlicher Situation und der Diffusität beruflicher Anforderungen auf der einen, zwischen der nötigen Konzentration und dem unausweichlichen Strukturumbau auf der anderen Seite. Die Spannung zwischen dem Freiraum eigenverantwortlicher Berufsgestaltung und den Zumutungen und Überforderungen, die damit einhergehen.
Die Pandemie ist Katalysator. Sie beschleunigt kirchlichen Wandel, innerkirchlichen Rückbau und die damit verbundenen Konflikte, die Kränkungen durch fehlende Resonanz und die Konkurrenzen in der Suche nach Innovation und Avantgarde.
Die Erfahrungen mit der pastoralen Praxis in der Pandemiezeit lassen sich in hervorragender Weise zu pastoraltheologischen Beobachtungen verdichten: Abbrüche, Suchbewegungen nach neuen stabilen Formen und die Sehnsucht danach, zur Kontinuität zurückzukehren. Es handelt sich um vielschichtige Phänomene mit vorpandemischer Vorgeschichte. Mit der Pandemie verleihen sie der Bestimmung des pastoralen bzw. kirchlichen Auftrags in der Gegenwart aber neue Dringlichkeit.
Es gibt kein normatives Set mehr, „was Kirche so üblicherweise tut“ und wie ihre Akteur:innen sowie öffentliche Blicke von außen dieses Tun einschätzen. In der Krise zeigen sich vor allem drei Strategien, mit dem Handlungsimpuls, der dem Pfarramt zu eigen ist, umzugehen:
Da waren diejenigen, die die pandemische Krise als vorübergehende Phase ansahen. Sie gilt es zu überwinden, damit sich wieder das „alte Normal“ zeigt. Andere zogen sich in eine Art „Corona-Alljahreszeitenschlaf“ zurück. Und schließlich gab es die, die Corona als Chance für einen Aufbruch nutzten und sich neue Felder erschlossen: an Wäscheleinen und Gartenzäunen, via Telefon und Videochannel.
Wer in den Entscheidungsprozessen für die eine oder andere Strategie jeweils die ausschlaggebende Kraft war, wird sich kaum mehr sagen lassen. Hinter jeder Strategie stehen Haltungen, die bereits vor der Pandemie im Schwange waren. Allerdings beschleunigte der pandemische Kontext diese zunächst latenten, untergründigen Entwicklungen und zog sie in markanter Weise auf die Bühne der Sichtbarkeit. Die allseits hohe Beanspruchung, die die ungewohnte pandemische Lage von einem Großteil der Bevölkerung fordert, lässt vermuten, dass es im Regelfall Hauptamtliche waren und sind, die hier diejenige Neigung auslebten, die ihnen ohnehin am meisten lag. Die Performanz pfarrberuflichen Handelns ist folglich vor allem eine Frage des eigenen Selbstverhältnisses: Wie ich mich selbst als Pfarrer:in verstehe, äußert sich in dem, was ich wie (nicht) tue – orientiert an der Tradition, orientiert am Kontext, explizit angefragt.
Anerkennung von Komplexität als gegenwärtige Rahmenbedingung des Pfarrberufs
In einer Phase der Disruption des Normalen tritt dies deutlich zutage. Wenngleich Prognosen schon seit Jahren vor weltweiten Epidemien warnten, finden wir uns in Mitteleuropa in einer Situation vor, die kaum jemand zuvor am eigenen Leib erfahren hat: Alle sind betroffen von einer Krise, die menschengemacht ist und zugleich niemandem konkret zugerechnet werden kann. Ein Sog zur „Normalisierung von Lebensformen“ überzeugt in dieser Situation nicht mehr. Strittig ist allein die Einschätzung, ob es einmal ein „neues Normal“ geben wird („weil man sich ja nicht ständig Sachen neu ausdenken kann“) oder ob es normal werden wird, unter Fluiditätsbedingungen zu leben („weil man sich ja ständig Sachen ausdenken muss“). Diese Offenheit ist Kennzeichen komplexer Prozesse und kann Kirche anschlussfähig machen für gesellschaftliche Entwicklungen. Der Freiheitsgewinn, den man für den pastoralen Dienst folgern könnte, verschärft die Zumutung, ständig Formen zu finden, Praxen zu gestalten – weil es eben kein „Normal“ mehr gibt.
Vom Kopieren zum Aneignen
Die CONTOC-Studie eines internationalen Forschungsverbundes im Jahr 2020 („Churches Online in Times of Corona“) stellte fest, dass Pfarrer:innen in der Krise umso handlungsfähiger waren, je rollenstabiler sie waren. Die individualisierte, mobile, digitale Gesellschaft setzt im Unterschied zur Industrie- und Massengesellschaft auf je und je neu Verhandeltes. Deshalb funktionieren die organisationalen „Kopierprozesse“ nicht mehr, um Rollenstabilität zu erzeugen: „Durch bewusste oder unbewusste Kopierprozesse ihrer Mitglieder bilden sich in Organisationen eigene Sprachregelungen aus, die Sicherheit im Kontakt mit der Außenwelt verleihen.“ Innerhalb der Organisation Kirche entsteht jetzt ein Druck auf die einzelnen Berufsrollenträger:innen, das an Individualisierung nachzuholen, was die Institution der evangelischen Kirche in ihrem Zuständigkeitsbereich überwiegend bereits vollzogen hat – beispielsweise im Bereich der Themen Frauenordination, Abendmahl mit Kindern oder der Gleichbehandlung unterschiedlicher Lebensformen (in der Gesellschaft, im Pfarrhaus). Die typischen Kopierprozesse der Organisation im Blick auf Kleidung, Raum und Sprache greifen derzeit nicht mehr mit der gewohnten Wirksamkeit.
Im Fortgang der Pandemie wird deutlich, wie es Menschen, die Kirche gestalten, mehr und mehr gelingt, sich auf die Logik von Digitalität dergestalt einzulassen, dass die typischen organisationalen Codes in den Hintergrund treten. Dies geschieht umso leichter, als Akteur:innen einer Berufsgeneration auftreten, die ohnehin ein stark ambivalentes Verhältnis zur Organisationssymbolik hat: Auf der einen Seite ist es ihr sehr fremd, auf der anderen Seite ist eine große Sehnsucht zu beobachten, auch äußerlich kenntlich zu machen, dass man einer Traditionsinstitution angehört, dass man eine bestimmte Berufsrolle vertritt. Das Tragen von Talar, Lutherrock, Collarhemden und -blusen wird so mitunter auch im evangelischen Kontext wieder bzw. auch jenseits sehr spezifischer (liturgischer, seelsorglicher) Handlungszusammenhänge gang und gäbe.
Die Paradoxie, das eigene Selbstverhältnis in der Berufsrolle zur Darstellung bringen zu müssen, wird auch dadurch abgefedert, dass das Kopieren, Teilen und Verwenden von Materialien Anderer nicht nur leichter möglich ist, weil Internetforen zu jeglichen Themen der klassischen Berufsfelder spielend und kostenfrei/kostengünstig zugänglich sind, sondern weil diese Praxis es dadurch, dass sie in Diskussionsforen öffentlich geworden ist, zur „Salonfähigkeit“ gebracht hat. Es geschieht bereitwillig und offen. Aus digitalen Plätzen offener Diskussion einiger weniger ist mehr und mehr eine „anonyme“ Materialbörse geworden. Das Spiel Kulturschaffender der letzten Jahrzehnte mit un-creativity – mit Kopieren, Illustrieren, Fortschreiben und Wiederverwenden – ist nun auch in der pastoralen Praxis angekommen und wurde in der Pandemie als grundsätzliche Option in der eigenen beruflichen Praxis erlebt. Kopierprozesse finden nunmehr individualisiert statt.
Im Blick auf das Selbstverständnis des Pfarrberufs lässt sich fragen, ob Theologieproduktivität derzeit noch als Kern der Berufsausübung verstanden wird. In der gegenwärtigen Situation wird man sagen können, dass sich die theologische Reflexions- und Aneignungsfähigkeit mindestens darin zeigt, wie sehr Pfarrer:innen kontextsensitiv arbeiten können: Wer Predigten, Konfirmand:innenarbeitsentwürfe und anderes eins zu eins von anderen übernimmt, ohne die eigenen Bedingungsfaktoren im Blick zu haben und darauf zu reagieren, wird sich fragen lassen müssen, worin die Professionalität seiner oder ihrer Berufsausübung begründet ist.
Rollenstabilisierung durch regiolokalen Bezug
Das Lokale bzw. Regionale spielt jenseits von Parochialem eine zentrale Rolle für die angemessene Inkulturierung einer Pfarrperson im Blick auf Raum, Kleidung und Sprache in ihren Wirkungsbereich, da genau diese Items nicht mehr aus dem Habitus der Organisation heraus „kopiert” werden können. So entsteht eine Sicherheit nach „innen“ und „außen“, ohne dass Kopierprozesse nötig sind. Dabei werden digitale Medien derzeit noch primär als Werkzeuge angesehen, um die Reichweite bisheriger Information und ggf. Interaktion zu vergrößern bzw. unter pandemischen Bedingungen überhaupt erst zu ermöglichen. Es fehlt an einem tieferen Verständnis von Digitalität als einem Kulturwandel, der die Gesellschaft im Ganzen verändert.
In der Verknüpfung von suchender Bewegung der Pfarrperson selbst mit der Entscheidung für einen regiolokalen Bezug entstehen neue Formen von Kirchlichkeit, die um ihren Übergangscharakter und ihre Fluidität wissen. In der pandemischen Situation ist auffällig, dass kirchliche Angebote geeignete Nischen suchen, also tun, „was noch möglich ist“. Sie beweisen damit eine hohe Fähigkeit, mit ihrer Skalierbarkeit umzugehen. Es ist zu beobachten, dass Pfarrpersonen und Gemeinden oft auf Fertigkeiten zurückgreifen, die sie „jetzt noch“ haben, um das Evangelium unter den Leuten ins Gespräch zu bringen: Gottesdienste zum Erwandern, Fahrradpilgern, Seelsorge beim Spazierengehen, Krippenfiguren oder „Christ ist erstanden“ auf dem Trecker sind Anstöße, die sich aus dem Freizeitverhalten der Beteiligten ergeben. Klassische Bildprogramme werden dabei mobilisiert, zugleich werden persönlichkeitsspezifische Gewohnheiten ernst- und aufgenommen.
Religiöse Artefakte gelangen auf diesem Wege „unter die Leute“ und in ungewohnte Zusammenhänge hinein. Dort werden sie von Menschen ganz neu gelesen: Sie werden religionsproduktiv. Die Grenze zwischen „Produzent:in“ und „Nutzer:in“ wird unscharf, schlussendlich werden alle Beteiligten zu Prod-Usern. Analog-kleine Formen werden weniger als defizitäre Schrumpf-Form einer historisch selten dagewesenen Erreichbarkeit aller gelesen denn als angemessene Versammlungsform neben Impulsen auf dem Weg und digitalen Formaten, sowohl live als auch on demand. (Mediale) Resonanz sowie Leitungssupport werden hilfreich und ermutigen, weiter so zu handeln, dass kirchliche Performanz sich nicht mehr primär aus organisationalen Kopierprozessen ergibt, sondern sich unabhängig davon im Gespräch mit den jeweiligen regiolokalen Netzwerken entwickelt.
Diese Form des Dienstes entkoppelt kirchliche Performanz zum derzeitigen Zeitpunkt einer Bilanzierbarkeit. Es wird schwieriger bis unmöglich, Statistiken des kirchlichen Lebens zu erstellen. Damit wird die Koppelung zu neoliberalen Kennzahlen loser. Im Blick auf die Rolle der Pfarrperson bedeutet dies, dass die spätmoderne Paradoxie der erfolgreichen Selbstverwirklichung in Frage gestellt wird. Sie agiert vielmehr vom Rand aus. Sie nutzt die Vertrauensressource ihres regiolokalen Kontextes und macht probeweise Vorstöße in fremde Gefilde. Sie schaut primär ins Woanders und verbindet Menschen zu religiöser Kommunikation und religiösem Erleben. Losgelöster vom Erfolgsdruck wird es möglich, selbst Lernerfahrungen zu machen, weil die Kultur fehlerfreundlicher wird: Im Fremden, Unbekannten zu agieren lässt nämlich fraglich werden, was überhaupt als Fehler gilt. Die Rollenstabilität im Selbstverhältnis der Pfarrerin und des Pfarrers erschöpft sich folglich nicht in einem Set abrufbarer Tätigkeiten, sondern ergibt sich aus Berufung, Beauftragung und dem Mut, in die Welt hinein zu wirken, so dass das Evangelium darin laut wird.
2. Pfarrer:in – Beruf der Kirche zwischen Person und Organisation
Zwischen den Ebenen: ein pastoraltheologischer Stresstest
Einfache organisationale Kopierprozesse verlieren an Wirksamkeit. Die Organisation Kirche tritt in der Pandemie umso stärker als Korrelat des Pfarrberufs hervor – und verdient pastoraltheologische Aufmerksamkeit. Denn die Pandemie wirkte auch als rabiater Stresstest der innerkirchlich eingeübten, möglichen und begrenzten Art der Arbeitsteilung: Takten gemeinsame Ziele die unübersichtliche Zuordnung von lokaler, regionaler, gesamtkirchlicher Praxis? Wer übernimmt, wenn’s hart auf hart kommt, welche Entscheidung? Wie eingespielt, wie hakelig, wie konfliktträchtig ist das?
Die beschriebenen pandemischen Phänomene entfalteten auch hier ihre Wirkung, produzierten ein Übermaß an Entscheidungskaskaden, Gestaltungsmöglichkeiten und -zwängen. Sie forderten kirchliche Hierarchieebenen spontan und zugleich. Damit legten sie das Zusammenspiel dieser Ebenen offen – plastisch, drastisch. Ein Zusammenspiel von Kirchenleitung bis Ortsgemeinde, von Bischofsbrief bis Gemeindekirchenratsvotum, vom Gottesdienstrecht bis zur liturgischen Einzelentscheidung, in aller Dissonanz und in aller Resonanz.
Der Pfarrberuf, mehr noch: Das Gemeindepfarramt stand und steht – nicht allein, aber prononciert – inmitten dieses Wirbels. Der tobt schließlich besonders da, wo symbolisch aufgeladene Praktiken auf dem Spiel stehen (Gottesdienste, vor allem: das Abendmahl), wo das Tun der Kirche auf Festzeiten zuläuft (wie Heiligabend 2020 und Ostern 2021). Das sind und bleiben Kerngebiete des Pfarrberufs. Die paradoxe öffentliche und innerkirchliche Wahrnehmung pastoraler, kirchlicher Praxis im diakonischen Feld und unter poimenischen Vorzeichen – zwischen Schulterzucken und Aufschrei – ist ein nicht minder bemerkenswerter Kristallisationspunkt kirchlichen Selbstvollzugs an der Schnittstelle zum Beruf.
Überall dort galt: Pastorale Selbststeuerung, die das eigene Verhältnis zur Organisation ausdrücklich oder implizit zum Ausdruck bringt, war keine Option unter anderen, kein wünschenswertes Feature – sondern Voraussetzung für die eigene Praxis.
Beobachtungen aus der Zeit der Pandemie
Einzelne hier, Organisation da – dieses Verhältnis beschreibt natürlich keine klar definierte Größe. Zwei Akzentuierungen fallen in der Zeit der Pandemie besonders ins Auge: Das Verhältnis als Wechsel-Spiel zwischen Pastor:innen einerseits und als Rollen-Spiel zwischen Organisationsebenen andererseits.
Zwischen Pfarrer:innen
Dass das Amt die Person nicht (mehr) durch ihre Praxis trägt, ist schon lange klar – und war vielleicht schon im 16. Jahrhundert mehr Wunsch denn Wirklichkeit. Die Gegenthese wurde aber noch nie so konsequent erprobt wie in dieser Pandemie: Individuelle Performanz sorgt für Überzeugungskraft. Pfarrpersonen erzeugen die Öffentlichkeiten, in denen sie stehen. Denn: Wo übliche Handlungsmuster wegfallen, sich starke institutionelle Muster erübrigt haben, leuchtet die Praxis pastoral Handelnder als Ergebnis eigener Wahl, persönlicher Aktivität und konkreten Engagements sichtbar auf. Diese Konzentration aufs performative Profil verstärkt sich in sozialen Echokammern – und die gibt’s auch ganz analog: „Man“ erzählt sich, ob diese Pfarrerin so oder anders entscheidet. „Man“ nimmt wahr, dass diese Gemeinde „für das Singen“ oder „für Präsenzgottesdienste“ optiert – die Nachbargemeinde aber nicht. Am Tun einzelner hängt nicht nur, ob dieses oder jenes kirchliche Handeln akzeptabel erscheint. Sie etablieren auch den Maßstab. Wenn es „hier“ geht – dann könnte es im Prinzip ja auch „da“ gehen.
Das heißt aber auch: Organisationsziele stehen nicht einfach überzeitlich und überregional in Geltung. Sie werden ad hoc ausgehandelt, in Gremien, zwischen Kolleg:innen und Berufsgruppen. Und natürlich auch zwischen Gemeinden verglichen und bewertet: Die Entscheidung der einen, präsent zu feiern, die Form der anderen, das Abendmahl online zu gestalten – sie mag lokal, manchmal geradezu einsam fallen, aber das macht sie noch lange nicht zum Solitär. In diesem Zusammenhang ist „die Organisation“ kein schlichtes Korrelat kirchlicher Institution – sondern Erkennbarkeit, die sich herstellt.
Eine logische Konsequenz: Allianzen formen sich. Als Austausch, als Teamwork. Regional in Kirchenkreisen, in Form von gemeinsamen Projekten. Überregional, in Online-Beratungen und Social Media. Durch Materialtausch auf Plattformen. Auch die neuen Stories zur Bewertung im pastoralen Beruf entstehen in diesem Zusammenhang. Erzählungen von Pfarrer:innen, die in der Pandemie „abgetaucht“ seien. Vom Aufbruch in eine neue, hochaktive Kollegialität, über den Ort hinaus. Von fleißigen Influencer:innen.
Die andere Seite: In dem Maße, in dem die Pandemie dazu zwingt, eigene, oft neue Formen pastoraler Praxis zu etablieren, wächst das Bedürfnis, die eigene Form, die eigene Wahl, die getroffene Entscheidung als Form zu inszenieren, die den Zielen „der Kirche“ (in einem eher idealen Sinne) am besten Rechnung trägt. Das schließt die Tendenz ein, diese Form durch die Profilierung von Unterschieden zu beschreiben und abzusichern. Einerseits entstehen Konfliktprofile – vor allem dann, wenn Nachbar:innen gegenläufig handeln. Moralische Aufladung verschärft diese Dynamik – wenn die andere als die ethisch unverantwortliche Position gebrandmarkt wird. Andererseits entsteht ein neues Gemeinschaftsgefühl („Wir, die kirchliche Avantgarde…“). Schließlich zeigt sich auch, in welchem Ausmaß berufsnormative Muster, Erkennungszeichen der Organisation integriert werden.
Schon lange wird fürs angemessene Handeln im Pfarrberuf gefordert, dem Kontext zu entsprechen. Die Gegenwart zeigt im Anschluss an die obigen Überlegungen: Mit dem Abbruch von Kopierprozessen verflüssigt sich auch das Entsprechungsverhältnis zwischen der pastoralen Rolle und dem Auftrag der Organisation. Die pastoralen Selbstverhältnisse bzw. das Wechsel-Spiel der Inszenierungen zwischen Pastor:innen bestimmen das öffentliche Bild der Organisation. Daraus folgt: Es genügt nicht mehr, den Kontext als Feld zu beschreiben, dem gutes pastorales Handeln entsprechen muss. Kirchliche Akteur:innen gestalten die Kontexte ihres Handelns mit – und interferieren mit der Gestaltungspraxis der (geografischen oder thematischen) Nachbar:innen, ob sie wollen oder nicht.
Zwischen den kirchlichen Organisationsebenen
Führung und Leitung auf und zwischen Organisationsebenen geht organisationstheoretischen Idealvorstellungen zufolge dann geräuschlos vonstatten, wenn (Leitungs-)Auftrag, fachliche Kompetenz und Verantwortung einander entsprechen. Aber: Auch deftige Diskrepanzen zwischen formalem Auftrag, beanspruchter Kompetenz und faktischer Verantwortung fallen in der Kirche unter Normalbedingungen kaum ins Auge. Dafür sorgen kleinschrittige Prozesse, kompromissbetonte Verfahren, eine gewisse Sympathie für informelle Formen der Leitung und Entscheidungsbildung, letztlich auch das wechselseitig ungetaktete Leben in und zwischen Gemeinden. Mag sein, dass relativ oft von Agenden abgewichen wird. Bestimmt sehen sich Kirchenvorstände mit dieser oder jener Entscheidungsnotwendigkeit überfordert oder von Pfarrpersonen unzureichend beteiligt. Gewiss bestehen auf der Ebene der Ortsgemeinde, im Gemeindepfarramt, unter Gemeindepädagog:innen oder vielen anderen kirchlichen Akteur:innen unerfüllte Wünsche gegenüber der kirchlichen Hierarchie, den Gremien, gesamtkirchlichen Einrichtungen. Aber all das erzeugt noch kein klares Bild, kein gemeinsames, drängendes Thema.
Auch für dieses Zusammenspiel bewahrheitet sich: Die Pandemie wirkt als Brennglas und Katalysator. Plötzlich lässt sich ablesen: Inwiefern wird gemeinsam organisiert, agiert, ad hoc, kurzfristig, mittelfristig? Wo klaffen große Lücken zwischen Kompetenzzuschreibung und wahrgenommener Verantwortung? Welche Ebenen und Eigenschaften der Organisation Kirche treten besonders zu Tage, werden als Unterstützung erlebt – und welche verstummen? Wie verhalten sich informelle zu den normierten Leitungs- und Zielsetzungsansprüchen?
Soviel ist klar: In der Pandemie, die gerade zu ihrem Beginn vielfach als eine Zeit erheblicher Unsicherheit erlebt wurde, geriet die bisherige Rollenverteilung ins Rutschen. Die Bedeutung gemeindeexterner Organisationseinheiten und -ebenen veränderte sich. Einige Ergebnisse der bereits erwähnten Repräsentativ-Befragung unter Pfarrpersonen aus den EKD-Gliedkirchen (CONTOC) sprechen eine deutliche Sprache. Vor allem verweisen sie auf die Verschiebungen, die das oft fein austarierte Verhältnis von personaler Leitung (in Gestalt der Pfarrpersonen) und presbyterial organisierter Leitung in der Krise erfahren hat.
Danach sah mehr als die Hälfte der Befragten die Beteiligung Ehrenamtlicher an der Gemeindeleitung eingeschränkt (54%)
Mehr als ein Drittel konstatierte eine Verfestigung bestehender Rollenhierarchien in der Krise (34%).
Offensichtlich erhöhte die Krise die Plausibilität des personalen Leitungsmodells, frei nach dem Motto einer Studie aus dem Wirtschaftsbereich: „Im Krisenmanagement schlägt die Stunde der hierarchischen Führung“. Der Top-down-Modus als Reaktion auf Unsicherheit und Entscheidungsdruck. Damit wurden die Pfarrpersonen nolens volens zu zentralen Figuren der Kirche vor Ort – selbst da, wo eine pastorale Sonderrolle üblicherweise bestritten, rhetorisch aufs Funktionale begrenzt oder institutionell relativiert wird. Gerade unter den pandemischen Bedingungen erlebten sich Pastor:innen gewiss gar nicht als derart zentral: Sie organisierten schließlich, was sich aufdrängte, oft mit Mühe und Not.
Auf gesamtkirchlicher Ebene war dagegen „der Krisenstab“ über längere Zeit hinweg das dominante Instrument. Vielleicht gerade darum so präsent, so wirksam, weil es ohne symbolische Überschüsse, ohne übliche pastorale Leitungsklänge auskam. Auch die Befragungsergebnisse der CONTOC-Studie verweisen auf die Relevanz von Organisationsebenen, die jenseits der Parochie liegen. Hier bildet sich die Bedeutung der gesamtkirchlichen Ebene in Form der Landeskirche ab: Eine knappe Hälfte der befragten Pastor:innen fühlte sich in Zeiten von Corona von dieser Organisationsebene unterstützt (46%). Noch wichtiger ist aus Sicht der Befragten aber der Kirchenkreis, die in den letzten beiden Dekaden gestärkte mittlere Ebene der Kirche (56% ausreichend oder sehr gut unterstützt). Wahrscheinlich sind hier die Leistungen im Blick, die diese intermediäre Ebene während der Pandemie im Sinne von Information, Koordination und Kohäsion erbrachte. Der Kirchenkreis vermittelte zwischen dem zentralen Krisenstab und der lokalen Ebene und wurde wahrscheinlich gerade deshalb als so unterstützend, vielleicht auch entlastend erlebt.
Zusammengenommen – mit Blick auf die Leitungsrolle der Pfarrpersonen, die Bedeutung zentraler Krisenstäbe und der intermediären Ebene: Die Pandemie zeigt überdeutlich an, was ja ohnehin gewissermaßen in der DNA der Kirche der Reformation und in ihrem Verständnis der Leitung der Kirche „allein durch das Wort“ verankert ist. Kirchenleitendes Handeln kommt nicht damit durch, einseitig auf formalisierte Auftragsmuster zu setzen. Leitung setzt ganz besonders in der evangelischen Kirche voraus, dass Leitungsansprüche überzeugen. Und manchmal ist der ganz und gar nüchterne Modus derjenige, der sich am wirksamsten durchsetzt.
Sinnvoll ist es also, nicht nur die formale Berechtigung, dieses oder jenes „zu leiten“, sondern auch den Möglichkeitsraum realer Folgen im Blick zu haben. Und der ist, das zeigen die Pandemiemonate, vielschichtig strukturiert: Eine sehr starke programmatische Intervention kann verpuffen, wenn sie, wie im Falle des Abendmahls, auf die verbreitete Überzeugung trifft, dass die Frage der lokal-pastoralen Kompetenz zuzurechnen sei. Umgekehrt, mit Blick auf Heiligabendgottesdienste 2020: Wenn nicht überregional entschieden wurde, wenn das Gemeindeprinzip zur Richtschnur gemacht wurde, landete ein kräftezehrender, oft konfliktreicher Entscheidungsprozess vor Ort, der Gemeindepfarrer:innen und Kirchenvorsteher:innen maximal forderte. Unmissverständliche landeskirchliche Leitlinien wie in Westfalen wirkten dagegen befriedend und entlastend, ohne faktisch ordnungssetzend einzugreifen. Formale Zuständigkeit allein sorgt augenscheinlich nicht (mehr) für organisationale Kohäsion.
Schließlich: organisationale Kohäsion ist selbst schon ein wichtiges, keinesfalls selbstverständlich erreichtes Ziel „in der Kirche”, Bekenntnis zur communio hin oder her. Vielfach hat die Krise schlicht die faktisch vorhandene Pluralität offengelegt – und damit auch die Grenzen zentralen organisationalen Handelns. Besonders, wenn es die Plausibilität pragmatischer Nützlichkeit nicht auf den ersten Blick für sich verbuchen kann.
3. Pastoraltheologische Implikationen der Corona-Pandemie: Abschließende Thesen
Grundlage
1.1 Die beschriebenen Konfliktlinien, Herausforderungen und Chancen kirchlicher Praxis waren im Zuge des gesellschaftlichen und kirchlichen Wandels bereits vor der Corona-Pandemie beobachtbar.
1.2 Die Dynamik der Corona-Pandemie betrifft auf einzigartige Weise aber alle gesellschaftlichen und kirchlichen Akteure und Institutionen gleichzeitig.
1.3 Das löst im Blick auf den Wandel in Kirche und Pfarrberuf die Rede vom „Abbruch“ und von einem „neuen Normal“ aus. Die pastoraltheologische Brisanz des Wandels tritt zutage. Ihre Relevanz für die Kirchenentwicklung lässt sich mit Händen greifen.
Plausible Inszenierung der Pfarrpersönlichkeit
2.1 In der Pandemie und mit der Diffusität, die sie verursacht, wird mit starken Kontrasten sichtbar, wovon pastoraltheologisch schon länger die Rede ist: Nicht mehr das Amt trägt die Person, sondern die Person das Amt.
2.2 Einfache Kopierprozesse führen nicht mehr zum Ziel. Die Performanz der einzelnen Pfarrperson rückt ins Zentrum. Resonanz entsteht durch die Fähigkeit, im spezifischen Kontext die Schwelle zwischen öffentlicher Rolle (abgeschwächt, aber dennoch vorhanden) und privater Persönlichkeit (als Voraussetzung für die Zuschreibung von Authentizität) zu bespielen.
2.3 Die notwendige mediale Inszenierung im digitalen Raum als „neuer“ Öffentlichkeit, aber auch das Agieren in den verbleibenden Nischen analoger Öffentlichkeit prägen das Bild einer durch und durch fluiden Praxis.
2.4 Dieser Modus eröffnet große Freiheitsräume für Pfarrpersonen, die bisher unter einer deutlichen Diskrepanz zwischen Amtsrolle und privater Persönlichkeit leiden. Sie schwächt gleichzeitig die Schutzmechanismen, die mit stärker institutionalisierten Amtsrollen einhergehen.
Kirchliche Organisation und kirchlicher Beruf
3.1 Mit der Pandemie tritt die Labilität im Verhältnis zwischen Pfarrpersonen, zur kirchlichen Organisation und zwischen Organisationsebenen verschärft zutage. Institutionelle Logiken büßen Plausibilität und Wirksamkeit ein. Die innere Pluralität kirchlicher Organisation und die faktisch unterschiedliche Taktung kirchlichen Lebens zeigen sich noch deutlicher.
3.2 Auf der Seite der Personen drückt sich das im „Zwang“ zur Singularisierung und Vernetzung aus. Auf der Seite der Organisation macht es sich als „Nadelöhr“ der Plausibilität bemerkbar, an dem Entscheidungen gemessen werden.
3.3 Organisationsziele setzen sich zunehmend weniger qua Beschluss oder Zuständigkeit durch. Gleichzeitig entlastet ein Mindestmaß an organisationaler Kohäsion einzelne und ihre Entscheidungslast. Und: Stimmige Organisation übers Hier und Jetzt hinaus wird als impliziter Anspruch religiöser Praxis erkennbar.
3.4 In der diffusen Situation der Pandemie wurden Pfarrpersonen unweigerlich – gleichsam: als Ersatz für formalisierte und partizipative Verfahren – zur Projektionsfläche starken Leitungshandelns.
3.5 Damit das pastorale Handeln funktional bleibt, ist die pastorale Selbststeuerung gefragt: Sie muss Heroisierungstendenzen entgegenwirken – und institutionelle wie organisationale Plausibilitäten erhalten, soweit die religiöse Praxis von ihnen lebt.
3.6 Die von der Pandemie aufgedeckten Diskrepanzen zwischen Leitungsauftrag, Kompetenzen und Verantwortung der unterschiedlichen Leitungsinstanzen bedürfen deshalb der strategischen Bearbeitung.
Neue Narrative und neue Organisationskultur
4.1 Die Diffusität der Pandemie-Situation hat das Entstehen und Aushandeln neuer Rollen-Narrative bzw. Valorisierungen katalysiert – auch per Abgrenzung. Regiolokale Vernetzung, interkollegiale Allianzen und entlastende Dienstleistungen erwiesen sich dabei als produktive, auch stabilisierende Faktoren.
4.2 Die entstehende Vielfalt der Rollen-Narrative und ihrer Bewertungen ist irreduzibel. Diese Narrative transportieren Chancen wie Hemmnisse für die Weiterentwicklung von Kirche und Beruf. Sie offenbaren eklatante Unterschiede zwischen beruflichen Haltungen, Priorisierungen, Kompetenzen, Selbstbildern, auch zwischen den Erwartungen und Sehnsüchten, die sich mit dem Pfarrberuf verbinden.
4.3 Der Umgang mit diesen Differenzen erfordert Zwischen-Räume. Sie müssen gepflegt und moderiert werden, wenn aktuell z. B. die Diskussion über die Zukunft und Gestalt der Gottesdienste im „next normal“ geführt werden müssen (Rückkehr zu den Formaten des status quo ante?).
4.4 Die mittlere Ebene erwies sich in der Pandemie als potenzielles Bindeglied zwischen Person und Organisation. Sie kommt auch als Ort infrage, an dem die Arbeit an einer solchen Kultur der Kohäsion möglich ist.
4.5 Insgesamt scheinen der soziale Nahraum bzw. das regiolokale Netzwerk, in dem Einzel(pfarr-)personen zentrale Akteure sind, sowie weitere Schritte hin zu einer intermediären Organisation als Fokus einer Kirchenentwicklung naheliegend.
4.6. In dieser intermediären Konstruktion findet sich der Pfarrberuf zwingend im differenzierten Tableau kirchlicher Berufe wieder. Arbeit an Kohäsion heißt dort auch: Arbeit an einem so erkennbaren wie begrenzten Profil.
Pfarrer:in – ein diffuser Beruf
5.1 Das Gesagte lässt den Pfarrberuf noch deutlicher als bisher in seiner spätmodernen Komplexität hervortreten: Unklarheit von Verantwortungen und Aufgaben, Ungleichzeitigkeiten gesellschaftlicher Dynamiken und kirchlicher Beharrlichkeit, Vielschichtigkeit und -perspektivität der kirchlichen Sozialformen, fluide Aushandlungsprozesse um Person und Rolle, Schwellensituationen und Zwischenräume u.a. Sie alle sind für diesen Beruf konstitutive Momente.
5.2 Bei gleichzeitiger Abschwächung anderer Kompensationsmechanismen (etwa der institutionellen Logik) ist es umso stärker Aufgabe der Pfarrpersonen, Orientierungsarbeit zu leisten, die nicht nur auf die eigene Person zuläuft, sondern kirchlicher Praxis dient. Pfarrpersonen sind daher z.B. gefordert, vermehrt Zeit in die Reflexion ihres Selbstverständnisses und ihres Handeln zu investieren.
5.3 Für eine solche Orientierungsarbeit hat sich dabei in der Krise der kollegiale Austausch bzw. das kollegiale Netzwerk mit Kooperationen und Materialtausch als wichtige Ressource erwiesen. Als Unterstützung der notwendigen Orientierungsarbeit im Pfarrberuf sind deshalb ebendiese interkollegialen Räume stärker in den Blick zu nehmen.
5.4 Folgende Kompetenzen drängen sich als heuristische Zielperspektiven für die theologische Aus- und Weiterbildung auf: hohes Maß an Selbststeuerung als kybernetische Kompetenz, personale Kompetenz auch als Rollenkompetenz, dazu: Ambivalenzkompetenz / Ambiguitätstoleranz.